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BB 2018, I
Schmidt 

Von “Zuverlässigkeit” zur “getreuen Darstellung” in der Rechnungslegung – Words, Words, mere Words?

Abbildung 1

Im März 2018 hat der International Accounting Standards Board (IASB) ein runderneuertes Rahmenkonzept veröffentlicht. Einige bislang bestehende thematische Lücken wurden gefüllt; hier und dort finden sich modifizierte Definitionen. Die “fundamentalen Eigenschaften”, die (Rechnungslegungs-) Informationen entscheidungsnützlich machen, wurden dieses Mal jedoch nicht geändert. Im Rahmen der letzten Überarbeitung des Rahmenkonzepts im Jahr 2010 hatte der IASB eine dieser beiden fundamentalen Eigenschaften “umbenannt”: War zuvor “Zuverlässigkeit” (reliability) verlangt, ist seitdem die “getreue Darstellung” (faithful representation) gefordert: Die Informationen sollen “getreu das darstellen, was sie darzustellen vorgeben”.

Die Fachwelt protestierte seinerzeit mehrheitlich vehement gegen die Änderung: Objektivierung, Nachprüfbarkeit, das Nichtvorhandensein von Ermessensspielräumen, kurz: Zuverlässigkeit, sei nun einmal eine wichtige – fundamentale! – Eigenschaft von entscheidungsnützlichen Informationen. Denn wer Rechenschaft über den Umgang mit fremdem Vermögen ablegen muss, der sollte die dafür bereitgestellten Informationen möglichst wenig durch eigenes Ermessen beeinflussen können.

Der IASB erwiderte, dass es sich gar nicht um eine inhaltliche Änderung handele, sondern nur um eine sprachliche Klarstellung. Wenn die Fachwelt hier eine Änderung sähe, dann habe die Fachwelt wohl bisher einfach nicht richtig verstanden, was der IASB schon immer mit Zuverlässigkeit habe ausdrücken wollen. Auch im aktuellen Rahmenkonzept findet sich die Aussage wieder, dass das alte Rahmenkonzept den Begriff “Zuverlässigkeit” für dieselbe Eigenschaft verwendet hat, die nun mit “getreuer Darstellung” beschrieben wird.

Man könnte sich an “Neusprech” in “1984” von George Orwell erinnert fühlen. In “Neusprech” fehlen Wörter für Unerwünschtes, so dass die Einführung von “Neusprech” nicht nur die Sprache reinigt, sondern ultimativ auch Realität und Denken mangels Ausdrucksmöglichkeiten für Unerwünschtes beeinflusst. Zumindest in der Finanzberichterstattung aber ist die Welt nicht so beschaffen, dass das Bedürfnis der Adressaten nach Objektivierung als fundamentaler Eigenschaft von Rechnungslegungsinformationen sprachlich wegdefiniert werden könnte.

“Getreue Darstellung” anstelle von “Zuverlässigkeit” bedeutet: In den Rechnungslegungsstandards schlägt die Abbildung des wirtschaftlichen Gehalts die Objektivierbarkeit. Das theoretisch überzeugende Konzept ist wichtiger als praktische Anwendbarkeit. Eine stärkere Ausrichtung von Rechnungslegungsstandards an der Abbildung des wirtschaftlichen Gehalts unter Zurückdrängen der Objektivierung muss nicht per se schlecht sein. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass alles seinen Preis hat. In diesem Fall besteht der Preis neben einer komplexeren Implementierung in einem Anwachsen von Ermessensspielräumen, welche die Unternehmen zur Jahresabschlusspolitik nutzen können.

Ein Blick auf einige neue Rechnungslegungsstandards, die im aktuellen und im nächsten Jahr erstmalig verpflichtend anzuwenden sind, offenbart, dass die neuen Standards der Entwicklung folgen, die mit der Änderung 2010 eingeleitet wurde. Und wenn unterstellt wird, dass sich der IASB bei der Entwicklung neuer Standards an seinem eigenen Rahmenkonzept orientiert – was einer der Zwecke des Rahmenkonzepts ist und auch konsistente Standards zu fördern vermag –, dann belegen diese neuen Standards auch, dass die vormalige Änderung der fundamentalen Eigenschaften eben doch mehr war als eine bloße Umbenennung.

Da wäre etwa IFRS 15 “Erlöse aus Verträgen mit Kunden”. IFRS 15 verlangt u. a. die Verteilung des Transaktionspreises auf die einzelnen Leistungsverpflichtungen nach Maßgabe der – oft nur schätzbaren – Einzelveräußerungspreise. Dagegen wurde bisher häufig der Umsatz nach Maßgabe der tatsächlich vom Kunden gezahlten Beträge vereinnahmt: z. B. in der Telekommunikationsbranche zunächst nur der niedrige, weil subventionierte Preis des Mobiltelefons und erst später die monatlichen Raten des (überteuerten) Mobilfunkvertrags. Diese alte Umsatzvereinnahmung entspricht zwar nicht dem wirtschaftlichen Gehalt, ist aber durch die Zahlungsströme objektiviert.

2019 bringt IFRS 9 “Finanzinstrumente”. Neu ist an diesem Standard u. a., dass Wertberichtigungen auf Forderungen und Kredite bereits bei erwarteten Ausfällen erfasst werden. Bisher setzte eine Wertberichtigung aber den Eintritt eines Verlustereignisses voraus, z. B. das Ausbleiben von vertraglich geschuldeten Zins- oder Tilgungszahlungen. Man wartete also, “bis das Kind bereits in den Brunnen gefallen war”. Das bildet zwar die ökonomische Realität weniger gut ab, war dafür aber wiederum objektiviert.

Offenbar traut auch der IASB den Unternehmen nicht vollends zu, dass sie das Ermessen in den neu erlangten Spielräumen ausschließlich im Sinne einer bestmöglichen, getreuen, neutralen Abbildung der ökonomischen Realität ausüben. Er versucht daher, das Anwachsen der Ermessensspielräume durch ein Mehr an Angaben im Anhang zu kompensieren, die die Ausübung des Ermessens transparent machen sollen. Allerdings sind die Kapazitäten der Abschlussadressaten zur Verarbeitung umfangreicher Anhänge begrenzt. Ebenso begrenzt sind die Möglichkeiten von Abschlussprüfung und Enforcement zur Eindämmung von Jahresabschlusspolitik mittels Ermessensausübung.

Prof. Dr. Martin Schmidt ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Rechnungslegung an der ESCP Europe Berlin. Zuvor war er u. a. als Senior Manager im IFRS Centre of Excellence der Deloitte & Touche GmbH und als Projektmanager beim Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee tätig. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind die Rechnungslegung nach IFRS und HGB sowie die Wirtschaftsprüfung.

 
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