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CB 2020, I
Jüttner 

„Die Abkehr von bewährten Denkprinzipien“

„VerSanG-Entwurf – Ernsthafte Compliance sieht anders aus.“

Abbildung 1

Zum VerSanG-Entwurf ist bereits viel gesagt und noch mehr geschrieben worden. Bei der Detailkritik wird aber der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Parallelen zur Aussage Bartons sind unverkennbar:

„It is a little like a biologist putting his experimental animals through a hamburger machine and looking at every hundredth cell through a microscope; anatomy and physiology get lost, structure and function disappear, and one is left with cell biology.“

Das Gesetz beabsichtigt, Unternehmenskriminalität zu bekämpfen und Compliance zu honorieren. Dies wirft die Frage auf, was das für die zukünftige Compliance-Praxis heißt. Hierzu folgendes:

Wenn die letzte Compliance-Richtlinie geschrieben, der letzte Compliance-Prozess implementiert, die letzte Compliance-Schulung gehalten, die letzte Compliance-Risikoanalyse durchgeführt und der letzte Tone from the top verkündet wurde, was ist dann eigentlich erreicht? Mitnichten eine strafrechtskonforme Unternehmung wie viele Compliance-Skandale zeigen; dort waren derartige Maßnahmen sogar in zertifizierter, ausgezeichneter und auditierter Form vorhanden. Weder Unternehmenskriminalität noch eine kriminogene Verbandsattitüde werden durch diese Managementmethoden verhindert, stattdessen wird eher ein „Blame Game“ (Kette) gefördert. Insoweit darf nicht vergessen werden, dass Compliance-Management in seiner bislang propagierten Form lediglich eine „Hypothese“ (Bassl) ist, die auf „rechtstatsächlichem Nirwana“ (Spindler) beruht.

Mit Inkrafttreten des Gesetzes wird darüber hinaus ein verbindliches best practice-Wettrüsten stattfinden, analog dem „Morgan Stanley-Fall“. Danach konnte sich die Bank der drohenden DoJ-Sanktionierung entziehen, indem u. a. dargestellt wurde, dass in acht Jahren 54 Compliance-Trainings für die betroffene Region durchgeführt, 500 Compliance Officer eingestellt, der kriminelle Mitarbeiter 35 schriftliche Compliance-Reminder und weitere sieben persönliche Antikorruptions-Trainings erhalten habe. Allerdings hat es präventiv wenig genützt; der betroffene Mitarbeiter beschreibt es so: „[...] whatever nonsense they’ve shown to the government. It just wasn’t in my head, and it wasn’t in other people’s head.“

Mit dem Gesetz bzw. einer etwaigen Compliance-Konkretisierung besteht ferner das Risiko, dass ausschließlich diese Maßnahmen implementiert und honoriert werden. Dies zeugt von Naivität oder Nichtwissen, wie die vergleichbare Frage bei einem Individualtäter zeigt: „Welchen Leitfaden muss ich jetzt einhalten, damit ich später bei einer Straftat nicht ins Gefängnis komme.“ Ernsthafte Compliance sieht anders aus: Es geht nicht darum, Sanktionen nach einer Tat zu reduzieren, sondern unternehmensbezogene Straftaten im Vorfeld zu verhindern. Das Schicksal präventiver Risikovorsorgemaßnahmen ist das Nichtereignis als Erfolg. Das Abarbeiten der dann ggf. festgelegten Kriterien wird der Bekämpfung von Unternehmenskriminalität sogar hinderlich sein: „While many firms continue to see ensuring compliance as a legal exercise, it is really much more a behavioral science. That assertion may make attorneys uncomfortable, but for compliance programs to have real impact, managers need to test what works and what doesn’t.“ (Chen/Soltes). Das notwendige Austesten, Experimentieren wird dann nicht (mehr) stattfinden.

Das Gesetzesvorhaben stellt insoweit nicht nur einen Paradigmenwechsel dar, sondern zugleich auch eine Abkehr von bewährten Denk- und Wissenschaftsprinzipien:

Es beinhaltet eine Umkehr des über 200 Jahre alten Grundsatzes der strafrechtlichen Generalprävention. Danach wird Normentreue vermutet und zugleich die Freiheit von staatlicher Kontrolle statuiert. Der Staat greift danach entweder erst nach Begehung einer Straftat repressiv ein oder präventiv nur unter der Voraussetzung, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung existiert. Mit dem Vorhaben wird arbeitsteilige wirtschaftliche Zusammenarbeit endgültig zur potentiellen Straftat.

Es widerspricht dem Prinzip des „Skin in the Game“. Mit abnehmender Verweildauer der Manager in Unternehmen und weiterhin unzureichender Individualbestrafung ist die Drohung mit einer Unternehmenssanktion kein ausreichender (negativer) Anreiz; der beabsichtige monetäre Innenausgleich auch nicht.

Es stellt einen Widerspruch zu Ockhams Rasiermesser dar, einem über 800 Jahre alten heuristischen Prinzip zur Wahrheitsfindung. Es besagt: „Suche das einfachste Gesetz, das mit den Fakten harmoniert.“ Dabei ist „einfach“ nicht so zu verstehen, dass die Methode einfach erscheint, sondern, dass sie die wenigsten unbeweisbaren Annahmen macht. Das ist bei diesem Gesetzesvorhaben wie skizziert nicht der Fall.

Markus Jüttner ist Vice President Group Compliance bei E.ON SE, Lehrbeauftragter am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg und Beirat von Simply Rational GmbH, einer Ausgründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.

 
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