LG Bonn
Verfahrensaussetzung durch das später angerufene Gericht
LG Bonn, Entscheidung vom 26. Juni 2003 - 7 O 22/02;
LG Bonn
vom 26.06.2003
- 7 O 22/02
RIW
2004, 460
(Heft 6)
SachverhaltDie Klägerin beantragt die Feststellung, dass sie gegenüber der Beklagten zu keiner Zahlung verpflichtet ist.Die Klägerin, eine Anlagenbaufirma mit Sitz in Deutschland, und die Beklagte, eine Luftballonherstellerin mit Sitz in Belgien, schlossen im März 2000 einen Vertrag, durch den sich die Klägerin gegenüber der Beklagten verpflichtete, eine Spezial-Folienblasanlage zur Herstellung einer bestimmten Folie herzustellen und an die Beklagte zu liefern. Der Vertrag enthielt unter Ziffer 8 eine Gerichtsstandsklausel, wonach das Landgericht Bonn zuständig sein sollte. Nachdem die Beklagte einen Betrag über DM 250 000 als Teil eines vereinbarten Vorschusses an die Klägerin gezahlt hatte, begann Letztere mit der Konstruktion der Maschine. Im August 2000 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie an der Realisierung des Projekts nicht mehr interessiert sei und verlangte die Rückzahlung der gezahlten DM 250 000. Daraufhin zahlte die Klägerin einen Betrag in Höhe von DM 13 869,74 an die Beklagte zurück und behielt den Restbetrag als Ausgleich für die ihr entstandenen Kosten ein.Die Beklagte reichte im Jahr 2001 bei dem Handelsgericht Brüssel (Tribunal de Commerce de Bruxelles) eine Klage gegen die Klägerin ein, mit der sie deren Verurteilung zur Rückzahlung eines Betrages von DM 236 182,86 begehrte. Die Zustellung der Klage zusammen mit einer Ladung zu einem ersten Termin vor dem Handelsgericht Brüssel am 17. 1. 2002 wurde am 28. 11. 2001 durch den belgischen Gerichtsvollzieher veranlasst und erfolgte zu einem Zeitpunkt vor dem 14. 12. 2001.Unter Berufung auf den vereinbarten Gerichtsstand reichte die Klägerin ihrerseits am 16. 1. 2002 bei dem Landgericht Bonn eine Klage gegen die Beklagte ein mit dem Antrag festzustellen, dass sie dieser gegenüber keinerlei Zahlung aus dem streitgegenständlichen Vertragsverhältnis schulde. Sie ist der Auffassung, dass belgische Gerichte aufgrund der zwischen den Parteien getroffenen Gerichtsstandsvereinbarung nicht zuständig seien. Sie habe die mangelnde Zuständigkeit des Handelsgerichts Brüssel in dem belgischen Verfahren gerügt. Eine Entscheidung des Handelsgerichts Brüssel über seine Zuständigkeit steht bislang aus.Aus den GründenII. Das vorliegende Verfahren ist gemäß Art. 21 EuGVÜ auszusetzen, weil es sich bei der gebotenen autonomen, am Zweck des Art. 21 EuGVÜ orientierten Auslegung bei dem negativen Feststellungsantrag der Klägerin um »denselben Anspruch« wie im von der Beklagten bereits zuvor in Belgien anhängig gemachten Verfahren handelt (dazu unter 2) und auch die Voraussetzungen, die ausnahmsweise zu einem Wegfall der Beachtlichkeit der Rechtshängigkeit des in Belgien anhängigen Verfahrens führen können, nicht gegeben sind (dazu unter 3).1. Die Bundesrepublik Deutschland und Belgien sind Vertragsstaaten des Brüsseler EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968 (EuGVÜ). Im Verhältnis zu Belgien gilt das EuGVÜ seit dem 1. 10. 1997 in der Fassung des 3. Beitrittsübereinkommens von 1989 (BGBI. 1998 II, S. 230; vgl. Art. 54 Abs. 1 EuGVÜ i.V.m. Art. 29 des Beitrittsübereinkommens 1989). Auf den hier zu entscheidenden Fall noch keine Anwendung findet die gemäß ihrem Art. 76 zum 1. 3. 2002 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. 12. 2000 (EuGVVO), da die Klage vor dem Landgericht Bonn bereits am 16. 1. 2002 und damit vor In-Kraft-Treten der EuGVVO anhängig und im Sinne der Art. 66 Abs. 1, 30 Nr. 1 EuGVVO erhoben worden ist. Gemäß ihrem Art. 66 Abs. 1 findet die EuGVVO auf solche Klagen Anwendung, die erst nach ihrem In-Kraft-Treten erhoben worden sind; der für die intertemporale Frage maßgebliche Zeitpunkt der Klageerhebung bemisst sich in entsprechender Anwendung des Art. 30 Nr. 1 EuGVVO (vgl. Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2002, Art. 66 Rdnr. 2; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2003, EuGVVO Art. 66 Rdnr. 11; anderer - dem Bestreben einer einheitlichen Anwendung der Verordnung in allen Mitgliedstaaten allerdings nicht gerecht werdender - Auffassung Thomas/Putzo-Hüßtege, 25. Aufl. 2003, EuGVVO Art. 66 Rdnr. 2).Das später angerufene Gericht hat das Verfahren von Amts wegen auszusetzen2. Gemäß Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ hat das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, wenn bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden. Dies gilt aufgrund der ständigen Auslegungspraxis des Europäischen Gerichtshofes zu dem Begriff »desselben Anspruch(s)« in Art. 21 EuGVÜ ungeachtet der zeitlichen Reihenfolge auch im Verhältnis von Leistungsklage zu negativer Feststellungsklage (BGH, NJW 1995, 1758 f.; OLG Stuttgart, IPRax 2002, 125, 126; vgl. auch die Nachweise bei Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 6. Auflage 1998, Art. 21 Rdnr. 6 ff.; Thomas/Putzo-Hüßtege, 23. Aufl. 2001, Art. 21 EuGVÜ Rdnr. 5). Aufgrund der von Art. 21 EuGVÜ vorgeschriebenen amtswegigen Verfahrensaussetzung ist es dem später angerufenen Gericht grundsätzlich auch verwehrt, die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts zu prüfen; diese Prüfung fällt nach allgemeiner - auch vom Europäischen Gerichtshof bestätigter - Auffassung in die ausschließliche Kompetenz des zuerst angerufenen Gerichts (vgl. EuGH, Urt. v. 27. 6. 1991 [Rs. C-351/89 - Overseas Union/New Hampshire Insurance], Slg. 1991, I-3317, 3350 = IPRax 1993, 34, 36 (Nrn. 22 ff., 25), und bei Kropholler, a.a.O. [6. Aufl.], Art. 21 Rdnr. 16).3. Die Kammer sieht keine Veranlassung, von dieser durch Art. 21 EuGVÜ vorgeschriebenen Verfahrensweise abzusehen, selbst wenn - wie im vorliegenden Fall - das später angerufene Gericht gemäß Art. 17 EuGVÜ ausschließlich zuständig sein sollte und ein Fall des Art. 23 EuGVÜ nicht gegeben ist. Einer abweichenden Vorgehensweise steht die Systematik des EuGVÜ entgegen (dazu unter b), auch wenn diese Frage vom EuGVÜ nicht geregelt und vom EuGH seinerzeit ausdrücklich offen gelassen worden ist.Die Beachtung der Rechtshängigkeit vor einem ausländischen Gericht, dessen Entscheidung keine Aussicht auf Anerkennung in den übrigen Vertragsstaaten hat, erscheint wenig sinnvolla) Für die im zu entscheidenden Fall nicht einschlägige Parallelproblematik des Art. 16 EuGVÜ wird von großen Teilen der in- und ausländischen Literatur ein Abgehen von der durch Art. 21 EuGVÜ vorgeschriebenen Verfahrensweise aus systematischen Erwägungen (vgl. Artt. 23, 28 Abs. 1 EuGVÜ) befürwortet und somit im Ergebnis ein Vorrang des Art. 16 EuGVÜ gegenüber Art. 21 EuGVÜ angenommen (vgl. Bülow/Böckstiegel/Geimer/Schütze-Safferling, Art. 21 EuGVÜ Rdnr. 12 [Nr. 606-426]; Kropholler, a.a.O. [6. Aufl.], Art. 21 Rdnr. 17 m. weit. Nachw.; Rauscher, Internationales Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl. 2002, Rdnr. 761; Thomas/Putzo-Hüßtege, a.a.O., Art. 21 EuGVÜ Rdnr. 2; Gaudemet-Tallon, Les Conventions de Bruxelles et de Lugano, 2. Aufl. 1996, Rdnr. 292; O'Malley/Layton, European Civil Practice, 1989, Rdnr. 23.08; a. A. Geimer/Schütze, Europäisches Zivilrecht, 1997, Art. 21 Rdnr. 18). Danach soll eine unter Verstoß gegen Art. 16 EuGVÜ erfolgte ausländische Rechtshängigkeit unbeachtet bleiben, weil die Entscheidung des ausländischen Gerichts gem. Art. 28 Abs. 1 EuGVÜ ohnehin nicht anerkannt werden könne. Die Beachtung der Rechtshängigkeit vor einem ausländischen Gericht, dessen Entscheidung keine Aussicht auf Anerkennung in den übrigen Vertragsstaaten hat, erschiene in der Tat wenig sinnvoll.Es ist fraglich, ob dies auch gilt, wenn das später angerufene Gericht aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung ausschließlich zuständig istb) Bislang vergleichsweise wenig erörtert worden ist die für den vorliegenden Fall relevante Frage, ob eine entsprechende Ausnahme auch dann gelten soll, wenn das später angerufene Gericht aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung gem. Art. 17 EuGVÜ ausschließlich zuständig ist.aa) Diese Frage ist unter anderem Gegenstand eines seit dem 2. 4. 2002 bei dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 234 EGV (= ex-Art. 177 EGV), das durch Beschluss des OLG Innsbruck v. 25. 3. 2002 eingeleitet wurde (vgl. Vorlagefrage Nr. 2 in Rs. C-116/02 - H GmbH/Fa. MISAT s.r.l., abgedruckt in ABlEG Nr. C 144, S. 17 f. [v. 15. 6. 2002] = RIW 2002, 722 f.).bb) Im deutschen Schrifttum sind die Auffassungen geteilt.Eine Mindermeinung plädiert dafür, die ausländische Rechtshängigkeit unbeachtet zu lassenaaa) Eine äußerst namhafte Mindermeinung in Person von Professor Schlosser plädiert dafür, auch in solchen Fällen die ausländische Rechtshängigkeit unbeachtet zu lassen und das Verfahren vor dem später angerufenen Gericht fortzusetzen. Nachdem er dies zunächst noch auf solche Fälle beschränkt wissen wollte, in denen gegen die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung keine vertretbaren Einwände erhoben wurden (so Schlosser, EuGVÜ, Art. 21 Rdnr. 12), geht er nunmehr von einem grundsätzlichen Vorrang der gem. Art. 17 EuGVÜ (= Art. 23 EuGVVO) vereinbarten Zuständigkeit gegenüber Artt. 21 f. EuGVÜ (= Art. 27 f. EuGVVO) aus (vgl. Schlosser, EUZ2/EuGVVO [2003] Art. 23 Rdnr. 34). Dahinter steht letztlich die nicht ganz unbegründete Befürchtung, dass Gerichtsstandsvereinbarungen durch vereinbarungswidriges Verhalten einer Partei letztendlich ausgehebelt werden können. Mit seinem Standpunkt befindet sich Schlosser im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der englischen Gerichte (vgl. Cheshire and North's Private International Law, 13. Aufl. 1999, S. 256 m. zahlr. Nachweisen; Nachweise auch bei Schlosser a.a.O.), die im Ergebnis ebenfalls einem Vorrang des Art. 17 EuGVÜ das Wort reden.Die herrschende Meinung sieht dies allerdings andersbbb) Die im Schrifttum weitaus herrschende Meinung, der sich die Kammer anschließt, lehnt dagegen einen Vorrang des Art. 17 EuGVÜ gegenüber Art. 21 EuGVÜ ab (vgl. nur Kropholler, a.a.O. [6. Aufl.], Art. 21 Rdnr. 18; MünchKommZPO-Gottwald, 2. Aufl. 2001, Art. 21 EuGVÜ Rdnr. 17; Prütting in Gedächtnisschrift für A. Lüderitz [2000], S. 623, 629; Schack, IPRax 1991, 270, 272 f.; ders. Internationales Zivilverfahrensrecht, Rdnr. 761 in Fn. 2 [dort allerdings unter unzutreffender Berufung auf den EuGH]; Burgstaller-Burgstaller, IZVR II [Stand: Oktober 2002], Art. 27 EuGVO Rdnr. 18). Nach der Konzeption des EuGVÜ besteht zwischen den ausschließlichen Zuständigkeiten des Art. 16 EuGVÜ einerseits und Art. 17 EuGVÜ andererseits ein qualitatives Gefälle. Dies hat zur Folge, dass in Fällen wie dem vorliegenden gemäß Art. 21 EuGVÜ verfahren wird, d. h. die ausländische Rechtshängigkeit beachtet und das später eingeleitete Verfahren vor dem gemäß Art. 17 EuGVÜ prorogierten Gericht ausgesetzt werden muss. Es können nämlich die für Art. 16 EuGVÜ geltenden systematischen Erwägungen nicht unbesehen auf Art. 17 EuGVÜ übertragen werden; so bezieht sich der Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 EuGVÜ eben gerade nicht auf den 6. Abschnitt des Titels II und somit nicht auf Art. 17 EuGVÜ. Und auch ein Umkehrschluss aus Art. 18 Satz 2 EuGVÜ ergibt, dass selbst bei einer gemäß Art. 17 EuGVÜ gegebenen ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts - im Gegensatz zu Art. 16 EuGVÜ - die Möglichkeit einer Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts durch rügelose Einlassung besteht.4. Eine Aussetzung des Verfahrens verbunden mit einer Vorlage dieser praxisrelevanten Frage gemäß Art. 234 EGV durch die Kammer kommt nicht in Betracht. Nach Art. 2 des Auslegungsprotokolls zum EuGVÜ (vgl. BGBl. 1972 II, S. 846) sind erstinstanzlich entscheidende Gerichte zur Vorlage an den EuGH nicht berechtigt.
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