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ZLR 2022, 399
Hagenmeyer 

“Erst der Mensch, Friedrich, dann die Menschenordnung”

Es ist Krieg in der Ukraine. Menschen sterben dort. Außerdem hat der Krieg zahllose weitere Folgen, auch hierzulande. Eine davon ist eine Verknappung von Lebensmitteln, z. B. Weizen, Sonnenblumenöl oder Geflügel. Doch während die Ukrainer mit ihrem Leben bezahlen und mehr Menschen in Entwicklungsländern hungern müssen, geht es uns nur an die Geldbörse. Die Preise steigen, nicht nur für Lebensmittel. Die Bundesregierung fordert uns auf, Energie zu sparen und denkt über “Entlastungen” nach, die wir mit Steuern selbst bezahlen dürfen. Die Finanzierung militärischer Unterstützung der Ukraine wird natürlich auch auf uns umgelegt.

Angesichts dieser Katastrophe fragen sich viele, was sie selber tun, wie sie helfen können. Millionen haben schon gespendet. Tausende haben Flüchtlinge betreut oder untergebracht. Einige sind sogar selbst in den Krieg gezogen. Die meisten sind vom Krieg bedrückt und machen sich Sorgen um die Zukunft. Keiner weiß genau, wie es weitergehen wird. Doch die Frage bleibt: Was kann ich tun, um die Folgen des Kriegs zu lindern? Der Bundeskanzler empfiehlt Unterhaken.

Die Lebensmittelwirtschaft versucht, die Kostensteigerungen zu begrenzen. Herstellungsverfahren werden vereinfacht, Rezepturen überarbeitet, Lieferanten ersetzt. Und im Notfall wird auf alternative Zutaten ausgewichen. Das schafft regelmäßig Kennzeichnungsprobleme. Denn auf jeder Packung muss ja draufstehen, was drin ist. Umpacken ist oft teuer, manchmal teurer als vernichten. Wegwerfen aber ist nicht nachhaltig. Kann man auf die vielen praktischen Probleme vielleicht flexibel reagieren?

Entsprechende Vorschläge gibt es. Die Schweiz hat ihr Lebensmittelrecht kurzfristig angepasst. Dort darf man jetzt mit einem roten Punkt auf der Verpackung auf bestimmte Alternativzutaten hinweisen, sogar per Internet. Außerdem wird den Herstellern erlaubt, unterschiedliche Pflanzenöle zu deklarieren mit der zusätzlichen Angabe “abhängig von der Versorgungslage”. Das ist pragmatisch, hilft, reduziert Kosten und ist auch verständlich für Verbraucher.

Geht das in Deutschland auch? Nein. Das wäre nach Einschätzung des zuständigen Bundesministeriums nämlich “eine deutliche Einschränkung der Rechte der Verbraucher”! Das Ministerium will den Verbrauchern hierzulande nicht zumuten, sich Informationen selbst zu beschaffen. Das bedeutete ja “eine Holschuld für Pflichtinformationen”. Die darf es nach dem Wunsch des Ministeriums nicht geben.

Aber ist die Lektüre von Pflichtangaben nicht immer eine Obliegenheit der Verbraucher, die sich für solche Informationen interessieren? Wurde je ein Verbraucher gezwungen, die Kennzeichnung zur Kenntnis zu nehmen? “Auch leiden unter Umständen Wahrheit und Klarheit der Kennzeichnung”, meint das Ministerium. WelcheZLR 2022 S. 399 (400) Umstände das sein sollen, wird nicht weiter erläutert. Dass sonst das Portemonnaie der Verbraucher leidet oder ihre Versorgung beeinträchtigt werden könnte, spielt offenbar keine Rolle.

Es geht aber noch weiter: Das Ministerium befürchtet tatsächlich “Mitnahmeeffekte eines allein kosteninduzierten und nicht kriegsbedingten Austauschs von Zutaten”. Der Verdacht, ein Hersteller könnte Kosten sparen, verbietet also Kennzeichnungserleichterungen. Ob die Verbraucher, die am Ende die Kosten tragen müssen, das auch so sehen? Doch wir Verbraucher werden vom BMEL nicht befragt, wir werden nur davor geschützt, uns etwas holen zu müssen, was uns womöglich extra kostet.

Wenn das die Ukrainer wüssten! Ihr Weizen steht tage-, ja wochenlang an den Grenzen der EU, weil den Behörden Papiere fehlen. Der Rest verrottet oder wird gestohlen. Und wir kämpfen uns mit Verdächtigungen ab wie “Unklar bleibt dabei, wie diese Regelung deswegen im Einzelfall durch die Lebensmittelüberwachungsbehörden kontrolliert werden soll”. Was soll man dazu sagen? Mit maximalem Misstrauen lassen sich Folgen eines Krieges gewiss nicht bewältigen. Unterhaken sieht anders aus.

Gebraucht werden schnelle, flexible und unbürokratische Lösungen für kleine und große Probleme. Selbstverständlich nicht auf Kosten der Lebensmittelsicherheit, aber zur Sicherstellung der Versorgung und als Maßnahmen gegen unsoziale Preissteigerungen. Gefragt sind deshalb Politiker und Beamte mit Orientierung, die Werte erkennen, Verantwortung übernehmen und die Folgen ihres Handels einschätzen können, Pragmatiker, keine Dogmatiker.

Jeder kann nämlich etwas tun, um die Folgen des Kriegs zu lindern. Verbraucher stellen sich ihrer Verantwortung übrigens schon, nicht nur an der Kasse im Lebensmitteleinzelhandel. Zudem gibt es im Lebensmittelrecht den einen oder anderen Spielraum, den Hersteller und Überwachung nutzen können. Viele Menschen wissen schließlich auch sich zu orientieren, nicht zuletzt in der Krise. Beispielgebend für uns alle die Idealvorstellung aus Carl Zuckmayers Hauptmann von Köpenick: “Erst (kommt) der Mensch, . . . dann die Menschenordnung”.

Moritz Hagenmeyer (Verbraucher, Wähler und Steuerzahler), Hamburg

 
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