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RdF-News
13.05.2024
RdF-News
FG Köln: Erstattung nach § 32 Abs. 5 KStG und Voraussetzung des § 50d Abs. 3 EStG

FG Köln, Urteil vom 22.9.2023 – 2 K 1792/17

ECLI:DE:FGK:2023:0922.2K1792.17.00

Volltext des Urteils: RdFL2024-156-1

Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin ein über die bereits erfolgte Teilauszahlung hinausgehender Freistellungs- und Erstattungsanspruch zusteht und hierbei insbesondere, ob einem Anspruch § 50d Abs. 3 EStG entgegensteht.

Die Klägerin ist eine in den Niederlanden ansässige Kapitalgesellschaft. Sie wurde mit Gesellschaftsvertrag vom ... 2008 gegründet und hatte seitdem Sitz und Ort ihrer Geschäftsleitung in Z, Niederlande. Sie verfügte über ein Board of Directors (Geschäftsführergremium), bestehend aus Y (Directeur A), X (Directeur B) sowie der W B.V., Z (Directeur A). Weiteres Personal beschäftigte die Klägerin in den Streitjahren nicht. Seit dem ... 2009 war sie an der börsennotierten V AG mit Sitz in U beteiligt. Im Streitjahr 2011 betrug die Beteiligung am Nennkapital weniger als 10 % (Reduzierung am ... 2010 von zunächst 11,01 % auf 9,998 %, weitere Reduzierung auf eine Beteiligungshöhe am ... 2011 von 8,07 %).

Alleinige Anteilseignerin der Klägerin war die börsennotierte K (K) mit Sitz in T, Russland. Gesellschafter der K waren die K1 SE mit Sitz in Q, Zypern (zu 96,02 % 2011) und die K2 Ltd. mit Sitz in H, British Virgin Islands (zu 3,98 % 2011).

Die K Gruppe war nach dem Vortrag der Klägerin der größte Produzent von ... in Russland und zudem im Bereich des ... tätig. Die K als Obergesellschaft der Gruppe verfügte über einen eingerichteten operativen Geschäftsbetrieb mit Telefon und Faxanschlüssen sowie einer Homepage (www....) und beschäftigte im Jahr 2011 durchschnittlich ... Mitarbeiter und im Geschäftsjahr 2012 durchschnittlich ... Mitarbeiter.

Auf Gewinnausschüttungen der V AG an die Klägerin für das Jahr 2010 i.H.v. ... €, zugeflossen am ... 2011, wurde Kapitalertragsteuer i.H.v. 25 % zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag einbehalten und abgeführt (... €).

Im Rahmen des Erstattungsverfahrens gemäß § 50d Abs. 1 EStG i.V.m. dem DBA Deutschland-Niederlande erfolgte mit Freistellungsbescheid vom 26. Januar 2012 eine Teilentlastung bis zu einem Reststeuersatz von 15 % und die Erstattung des gesamten Solidaritätszuschlags (Erstattung insgesamt i.H.v. ... €).

Mit Antrag vom 24. Juni 2013, eingegangen beim Beklagten am 25. Juni 2013, begehrte die Klägerin die Erteilung eines weiteren Freistellungsbescheids und die Erstattung der verbliebenen Kapitalertragsteuer gemäß § 32 Abs. 5 KStG u.a. für das Jahr 2011. Diesen Antrag erweiterte sie mit Schreiben vom 27. Februar 2014, indem sie die beantragte Summe von 95 % der einbehaltenen und noch zu erstattenden Kapitalertragsteuer auf 100 % erhöhte.

Bereits mit Schreiben vom 14. Dezember 2012 hatte sie im Hinblick auf Art. 63 AEUV unter Verweis auf die BFH-Urteile vom 11. Januar 2012 (I R 25/10 und I R 30/10) eine Kapitalertragsteuererstattung beim Finanzamt P (sowie mittels Kopie auch beim Finanzamt U) u.a. für das Jahr 2011 beantragt (vgl. Bl. 4 ff. Verwaltungsakte ...1). Eine Entscheidung hierüber erfolgte nicht (vgl. Antragsschreiben der Klägerin zu § 32 Abs. 5 KStG vom 24. Juni 2013, Bl. 1 ff. Verwaltungsakte ...1), so dass sie diesen Antrag unter Verweis auf den zwischenzeitlich eingeführten § 5 Abs. 1 Nr. 39 FVG dem Übersendungsschreiben vom 24. Juni 2013 an den Beklagten beifügte (vgl. Bl. 1 ff. Verwaltungsakte ...1).

Mit Bescheid vom 27. August 2015 lehnte der Beklagte den Antrag gemäß § 32 Abs. 5 KStG mit der Begründung ab, dass die persönliche Entlastungsberechtigung nicht gegeben sei, da die an der Klägerin unmittelbar und mittelbar beteiligten Anteilseigner die Voraussetzungen des § 32 Abs. 5 KStG nicht erfüllten. Beim Abstellen auf die mittelbar beteiligten Gesellschafter im Rahmen der Missbrauchsprüfung nach § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG müssten diese ebenfalls die persönlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 5 KStG erfüllen.

Den hiergegen eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 1. Juni 2017 als unbegründet zurück. Die persönlichen Entlastungsvoraussetzungen gemäß § 32 Abs. 5 Satz 1 KStG sowie die sachlichen Entlastungsvoraussetzungen gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 – 3 KStG lägen zwar vor. Allerdings scheitere der geltend gemachte Anspruch an den sachlichen Entlastungsvoraussetzungen nach § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG sowie § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG.

Nach § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG dürfe ein Anspruch auf völlige oder teilweise Erstattung der Kapitalertragsteuer bei entsprechender Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG nicht ausgeschlossen sein. Dabei sei im Zuge einer Günstigerprüfung auf die Vorschrift in der Fassung ab dem 1. Dezember 2012 abzustellen. An der Klägerin sei zu 100 % eine in Russland ansässige Kapitalgesellschaft beteiligt. Dieser stehe eine Erstattung gemäß § 32 Abs. 5 KStG nicht zu, da sie ihren Sitz und Ort der Geschäftsleitung nicht innerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Staates, auf den das Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum Anwendung finde, habe. Denn Sitz und Ort der Geschäftsleitung befänden sich in Russland und damit im Drittland. Auch eine sachliche Entlastungsberechtigung sei nicht gegeben. Die Klägerin habe im entsprechenden Jahr keine Bruttoerträge aus einer eigenen Wirtschaftstätigkeit erzielt. Nach ihren Angaben sei sie als reine Holdinggesellschaft tätig. Hinweise auf eine aktive Beteiligungsverwaltung fehlten. Auch fehlten für die Einschaltung der Klägerin wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe sowie ein angemessener Geschäftsbetrieb mit Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr. Hierzu habe die Klägerin ebenfalls nichts vorgetragen.

Schließlich lägen auch die sachlichen Entlastungsvoraussetzungen nach § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG nicht vor.

Mit der fristgerecht erhobenen Klage verfolgt die Klägerin weiterhin ihr Begehren.

Die K-Gruppe sei im Streitjahr 2012 Russlands größter ... gewesen und habe das Ziel gehabt, weiter zu expandieren. Die seit dem Jahr 2009 bestehende Beteiligung an der V AG sei aus strategischen Erwägungen erfolgt. Ziel sei es gewesen, die Marktführerschaft der K als Produzentin von ... auszubauen. Sie, die Klägerin, sei als europäische Zwischenholding aufgesetzt worden, um die Beteiligung an der V AG getrennt vom sonstigen operativen Geschäft der K Gruppe für weitere strategische Kooperationen mit der V AG zu halten sowie als Holding für weitere strategische Beteiligungen zu dienen. Dementsprechend weise die organisatorische Struktur der K Gruppe insgesamt auch eine Trennung zwischen operativen Einheiten sowie einzelnen Geschäftssparten (...) auf, für die jeweils eigenständige Strukturen bestünden. Die Zwischenschaltung sei nicht mit dem Ziel einer möglichen Intransparenz verfolgt worden. Aufgrund der Börsennotierungen der V AG sei sie, die Klägerin, zur Mitteilung ihrer Beteiligungshöhe gegenüber der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verpflichtet gewesen. Zudem sei die Beteiligung in ihren Jahresabschlüssen im Anlagevermögen ausgewiesen worden, da sie die Beteiligung nicht in Spekulationsabsicht, sondern als langfristige strategische Beteiligung erworben habe. Letztlich sei zu erwähnen, dass die Dividendenerträge bei ihr verblieben und nicht an die K weitergeleitet worden seien.

Des Weiteren zeigten die Jahresabschlüsse 2009 und 2010, dass sie bereits in den Anfangsjahren neben der Beteiligung an der V AG auch eine 100 % Beteiligung an der K ... LLP (Kasachstan) gehalten habe. Die K ... LLP sei innerhalb der K Gruppe u.a. für eine großangelegte Erschließung von ... in Kasachstan verantwortlich gewesen. Im Jahr 2012 sei mit der KM NV von N eine weitere und strategisch wichtige 100 % Beteiligung zu einem Kaufpreis i.H.v. ca. ... € hinzuerworben worden. Die KM NV habe bereits damals über beträchtliche Produktionskapazitäten verfügt und sei strategisch entscheidend für den Zugang zum europäischen Markt gewesen. Der Vertrag mit der N sei bereits im Jahr 2011 abgeschlossen worden, der Kauf habe allerdings unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Wettbewerbsbehörden gestanden. Im März 2012 sei der Kauf nach der entsprechenden Zustimmung vollzogen worden. K habe sich gegenüber der Presse wie folgt geäußert:

„...“

Ihre Jahresabschlüsse 2013 bis 2015 belegten schließlich, dass sie ihre Holdingtätigkeit auch nach Veräußerung der Beteiligung an der V AG in den Folgejahren weiter ausgeübt und ausgebaut habe. Im Jahr 2013 sei eine 100 % Beteiligung an der KG LLP, Kasachstan hinzugekommen, die u.a. den Bau einer Anlage zur Herstellung von ... und die Erschließung der Lagerstätten des G-... in der Republik Kasachstan betrieben habe. Im Jahr 2014 habe sie sich zu 50% an der K ... Limited, HongKong beteiligt. Hierbei handele es sich um ein Joint Venture, ...

Diese Entwicklung zeige, dass sie innerhalb des Konzerns als Holdinggesellschaft für bedeutsame Beteiligungen u.a. im Bereich der Produktion von ... fungiert habe.

Bei dieser Sachlage habe ihr der Beklagte zu Unrecht den Erstattungsanspruch gemäß § 32 Abs. 5 KStG verwehrt. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig und verletzte sie in ihren Rechten. Die aus § 32 Abs. 5 KStG folgenden Voraussetzungen lägen vor, auch hinsichtlich der streitigen Regelungen in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG und § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG.

Die Erstattung sei nicht durch den in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG enthaltenen Verweis auf § 50d Abs. 3 EStG ausgeschlossen. Zum einen verstoße dieser Verweis gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot sowie gegen Unionsrecht und sei daher nicht anzuwenden. Zum anderen stehe selbst die – unzulässige – Anwendung des Verweises auf § 50d Abs. 3 EStG den begehrten Steuererstattungen nicht entgegen, da § 50d Abs. 3 EStG in der jeweils anwendbaren Fassung nicht erfüllt sei.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG sei die (echte) Rückwirkung von belastenden Steuergesetzen unzulässig. Eine solche liege vor, wenn das Gesetz in abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreife und deren bereits eingetretene Rechtsfolgen – mithin die bereits entstandene Steuerschuld – nachträglich abändere (vgl. BVerfG vom 7. Juli 2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BStBl. II 2011, 76).

Vor Einführung des § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG durch das EuGHDivUmsG vom 21. März 2013 hätte ihr in Bezug auf die im Jahr 2011 zugeflossenen Dividenden Ansprüche auf Erstattung der Kapitalertragsteuer auf Grundlage der analogen Anwendung von § 50d Abs. 1 EStG zugestanden. Dieser Anspruch sei nicht durch die Anwendung von § 50d Abs. 3 EStG eingeschränkt worden (vgl. Gosch, in Gosch, KStG, 4. Aufl. 2020, § 32, Rn. 60; Schnitger, in Schnitger/Fehrenbacher, KStG, 2. Aufl. 2018, § 32, Rn. 217; Lüdicke, IStR 2012, 540, 541; Stark/Jasper, IStR 2013, 169, 170; Hechtner/Schnitger, Ubg 2013, 269). Der Anspruch auf Erstattung gemäß § 32 Abs. 5 KStG stehe demgegenüber unter dem Vorbehalt des § 50d Abs. 3 EStG (§ 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 34 Abs. 13b Satz 4 KStG 2013).

Nach § 44 Abs. 1 Satz 2 EStG 2011/2012 i.Vm. § 30 Abs. 1 Nr. 1 KStG 2011/2012 sei der abgeltende (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG) Steueranspruch für die Gewinnausschüttung betreffend 2010 am ... 2011 entstanden. Dementsprechend habe der Gesetzgeber durch Einführung des § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 34 Abs. 13b Satz 4 KStG 2013 eine bereits entstandene Steuerschuld in belastender Weise eingeschränkt. Es handele sich somit um eine echte Rückwirkung, die unzulässig sei. Der Verweis auf § 50d Abs. 3 EStG sei somit nichtig und in Bezug auf die in 2011 zugeflossenen Kapitalerträge nicht anzuwenden.

Zudem sei der in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG enthaltene Verweis auf § 50d Abs. 3 EStG europarechtswidrig. Vor Einführung von § 32 Abs. 5 KStG sei die Europarechtswidrigkeit der deutschen Besteuerung von grenzüberschreitenden (Streu-)besitzdividenden vonseiten der Rechtsprechung festgestellt worden. Auf die sich daraus ergebenden unionsrechtgestützten Kapitalertragsteuererstattungsansprüche sei § 50d Abs. 3 EStG nicht anzuwenden gewesen (vgl. Schnitger, in Schnitger/Fehrenbacher, KStG, 2. Aufl. 2018, § 32, Rn. 217; Hechtner/Schnitger, Ubg 2013, 269). Die Einführung des in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG enthaltenen Verweises auf § 50d Abs. 3 EStG widerspreche der vorgenannten Rechtsprechung zur Beseitigung der Europarechtswidrigkeit der deutschen Besteuerung von grenzüberschreitenden (Streu-)besitzdividenden. Die Vorschrift des § 32 Abs. 5 KStG genüge insoweit (weiterhin) nicht den europarechtlichen Anforderungen der Rechtsprechung und sei weiterhin europarechtswidrig (vgl. Gosch, in Gosch, KStG, 4. Aufl. 2020, § 32, Rn. 60). Die Regelung sei europarechtskonform geltungserhaltend auszulegen (vgl. FG Köln vom 20. Mai 2020, 2 K 283/16, Tz. 76, EFG 2021, 123 in Bezug auf § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 KStG). Vorliegend könne die insoweit bestehende Europarechtswidrigkeit nur durch eine Nicht-Anwendung von § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG beseitigt werden.

Selbst wenn § 50d Abs. 3 EStG anzuwenden sein sollte, stehe er der begehrten Kapitalertragsteuererstattung nicht entgegen. Dabei sei gemäß § 52 Abs. 47b EStG i.d.F. des AbzStEntModG § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des JStG 2007 („§ 50d Abs. 3 EStG 2007“) vorrangig auf die Dividende 2011 anzuwenden, während nachrangig § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des AbzStEntModG („§ 50d Abs. 3 EStG n.F.“) zu berücksichtigen sei.

Die vorrangig zu überprüfende Vorschrift des § 50d Abs. 3 EStG 2007 sei gemäß der Rechtsprechung des Finanzgerichts Köln nicht uneingeschränkt anwendbar, da die Vorschrift, ebenso wie § 50d Abs. 3 EStG 2012 nach der Rechtsprechung des EuGH europarechtswidrig sei (vgl. FG Köln, Urteil vom 16. Februar 2022, 2 K 1483/19, EFG 2022, 1607, Tz. 58 ff.; für § 50d Abs. 3 EStG 2007: EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, DStR 2018, 119, für § 50d Abs. 3 EStG 2012: EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, DStR 2018, 1479). Sie seien europarechtskonform geltungserhaltend auszulegen, weshalb dem Steuerpflichtigen bei Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 und des § 50d Abs. 3 EStG 2012 der unionsrechtlich gebotene Gegenbeweis über einen mangelnden Regelungsmissbrauch zu eröffnen sei. § 50d Abs. 3 EStG 2007 und § 50d Abs. 3 EStG 2012 versagten den Erstattungsanspruch daher nicht, wenn es sich bei der vorliegenden Gesellschaftsstruktur nicht um eine rein künstliche Gestaltung handele, die auf die ungerechtfertigte Nutzung eines steuerlichen Vorteils gerichtet gewesen sei.

Die Gesellschaftsstruktur der K Gruppe unter ihrer Einbindung stelle keine derartige rein künstliche Gestaltung zur Erzielung eines ungerechtfertigten Steuervorteils dar. Diese scheide bereits deshalb aus, weil ihre Muttergesellschaft, die K, im Fall einer Direktbeteiligung an der V AG auf Basis der Kapitalverkehrsfreiheit ebenfalls Anspruch auf eine vollständige Erstattung der Kapitalertragsteuer gehabt hätte. Diesen Anspruch hätte sie gemäß § 50d Abs. 1 EStG analog geltend machen können. Dies gelte ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der K um eine sog. Drittstaatengesellschaft handele, da auch Drittstaatengesellschaften vom Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit erfasst seien. Die Kapitalverkehrsfreiheit werde auch nicht durch die – nur auf Angehörige eines EU-Mitgliedsstaats anwendbare – Niederlassungsfreiheit verdrängt: Für die Abgrenzung sei auf den Gegenstand der betreffenden Normen abzustellen. Vorliegend handele es sich bei den betreffenden nationalen Normen um Vorschriften, die nicht ausschließlich auf Beteiligungen anwendbar seien, die es ermöglichten, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (vgl. EuGH vom 24. November 2016, C-464/14, SECIL, Tz. 34 f., juris; EuGH vom 10. April 2014, C-190/12, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, Tz. 30, juris). Nach der Rechtsprechung des EuGH sei dieser Grundsatz für die steuerliche Behandlung von Dividenden sowohl in Inbound- als auch in Outbound–Drittstaatenkonstellationen gleichermaßen anzuwenden (vgl. explizit zur steuerlichen Behandlung von Dividenden in Drittstaaten-Konstellationen: EuGH vom 10. April 2014, C-190/12, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, Tz. 31 f., juris).

Damit sei der Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet, sie werde nicht durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt. Dem stehe auch die nicht rechtskräftige Entscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf vom 2. März 2022 nicht entgegen. In dieser Entscheidung habe das FG Düsseldorf – abweichend von den vorstehend beschriebenen, vom EuGH aufgestellten Grundsätzen – die Auffassung vertreten, dass bei Inbound-Drittstaatenkonstellationen nicht auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelungen, sondern auf die tatsächliche Beteiligungshöhe abzustellen sei (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 2. März 2022, 7 K 1424/18 KE, EFG 2022, 598, Tz. 31 ff.). Im Urteilsfall sei nach Auffassung des FG Düsseldorf die Kapitalverkehrsfreiheit wegen der konkreten Beteiligungshöhe von 100 %, die einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Tochtergesellschaft gewährt habe, durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt worden.

Anders als in diesem der Entscheidung des FG Düsseldorf zu Grunde liegenden Fall, sei die (gedankliche) Direktbeteiligung der K an der V AG i.H.v. 8,07 % bzw. i.H.v. 1,05 % aber auch nach der EuGH-Rechtsprechung nicht ausreichend für die Annahme eines sicheren Einflusses auf die V AG (vgl. EuGH vom 7. September 2017, C-6/16, Eqiom und Enka, Tz. 42f., juris). Damit werde die Kapitalverkehrsfreiheit vorliegend selbst bei Anwendung der Auffassung des FG Düsseldorf nicht durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt. Der K hätte damit auf Basis der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) im Fall einer gedanklichen Direktbeteiligung an der V AG ein Anspruch auf eine vollständige Erstattung der Kapitalertragsteuer zugestanden.

Der Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit ergebe sich, insoweit sei im Hinblick auf die Nachfrage des Gerichts ergänzend vorzutragen, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, BFH/NV 2022, 1038 m.w.N.). Es entspreche der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass u.a. Maßnahmen, die geeignet seien, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat abzuhalten, Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs darstellten. Bei grenzüberschreitenden Dividendenzahlungen sei es so, dass unilaterale Regelungen, die eine Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer ausschließlich bei inländischen Gesellschaften als Aktionäre („Inländische Aktionäre“) vorsähen, ohne dass die dadurch entstehende Ungleichbehandlung zulasten von gebietsfremden Gesellschaften als Aktionäre („Gebietsfremde Aktionäre“) im Wege eines Abkommens ausgeglichen würden, eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellten (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, BFH/NV 2022, 1038). Der EuGH habe zudem entschieden, dass der Quellenstaat sich bei der Prüfung der Ungleichbehandlung im Hinblick auf den Ansässigkeitsstaat des Gebietsfremden Aktionärs nur auf ein mit diesem Staat abgeschlossenes DBA berufen könne. Etwaige im Ansässigkeitsstaat des Gebietsfremden Aktionärs bestehende unilaterale Regelungen seien europarechtlich unbeachtlich. Die Ungleichbehandlung werde durch das entsprechende DBA europarechtlich nur erfolgreich beseitigt, wenn dessen Anwendung es ermögliche, die Wirkungen der sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergebenden Ungleichbehandlung vollständig auszugleichen (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, BFH/NV 2022, 1038 m.w.N.).

Dies berücksichtigend sei eine Ungleichbehandlung vorliegend gegeben. Bei inländischen Aktionären blieben nach § 8b Abs. 1 KStG die Dividenden im Jahr 2011 bei der Einkommensermittlung außer Ansatz. Die sich daraus ergebende vollständige Erstattung bzw. Anrechnung der zuvor einbehaltenen Kapitalertragsteuer erfolge im Rahmen des Veranlagungsverfahrens (§ 31 Abs. 1 KStG; § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 EStG). Bei der K (als Gebietsfremder Aktionärin) betrage demgegenüber der auf die K nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1b) des DBA Russland entfallende Quellensteuersatz 15%. Gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 DBA Russland könne die K die daraus resultierende deutsche Kapitalertragsteuer zwar in der Russischen Föderation abziehen, der Abzug sei jedoch gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 DBA Russland auf den Steuerbetrag, der von diesen Einkünften gemäß den Gesetzen und Vorschriften der Russischen Föderation ermittelt werde, begrenzt. Ein Überhang werde entsprechend dem DBA Russland nicht erstattet.

Nach der EuGH-Rechtsprechung sei ein Mechanismus – wie der Mechanismus in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 DBA Russland –, der den Abzug der Quellensteuer im Ansässigkeitsstaat des Gebietsfremden Aktionärs nur beschränkt zulasse, ungeeignet einen Ausgleich einer bestehenden Ungleichbehandlung sicherzustellen. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des BFH in einer Entscheidung zum DBA Frankreich, in der der BFH ausschließlich auf die Anrechnungsmöglichkeiten nach dem DBA Frankreich abgestellt habe und etwaige Anrechnungsmöglichkeiten nach nationalem französischen Steuerrecht nicht betrachtet habe (BFH-Urteil vom 10. Januar 2012, I R 25/10, BFH/NV 2012, 742). Entsprechend sei vorliegend bei der Prüfung einer hypothetischen Berücksichtigungsmöglichkeit auf Ebene der Muttergesellschaft der Klägerin nur auf das DBA Russland abzustellen, welches eben keine vollständige Neutralisierung vorsehe und somit nicht geeignet sei, die Ungleichbehandlung vollständig auszugleichen.

Diesem (hypothetischen überprüften) Anspruch stehe auch § 50d Abs. 3 EStG 2007 auf der Ebene der K nicht entgegen, da sie unzweifelhaft über ausreichend Substanz im Sinne eines europarechtskonform ausgelegten § 50d Abs. 3 EStG 2007 verfügt habe. Die Annahme einer rein künstlichen Gestaltung zur Erzielung eines ungerechtfertigten Steuervorteils scheide damit bereits von vorneherein aus. Somit sei der Gegenbeweis allein durch Nachweis des objektiv fehlenden Steuervorteils geführt. Dies entspreche auch der allgemeinen Regelungslogik des § 50d Abs. 3 EStG 2007: Im Rahmen dieser Norm sei ebenfalls unbestritten gewesen, dass eine Entlastungsberechtigung des Gesellschafters der antragstellenden Gesellschaft zu berücksichtigen sei, unabhängig davon, ob sich diese aus derselben Vorschrift oder einer anderen Anspruchsgrundlage ergebe.

Darüber hinaus seien für die gewählte Struktur wirtschaftliche Gründe maßgeblich gewesen. Die K-Gruppe, mit der K als Obergesellschaft/Konzernspitze, sei in den Streitjahren Russlands größter ...hersteller gewesen und habe das Ziel gehabt, weiter zu expandieren. Sie selbst habe innerhalb der K-Gruppe als Holding für weitere Beteiligungen – wie diejenige an der V AG – u.a. im Marktsegment ... gedient. Dies werde nicht zuletzt durch die strategischen Investitionen durch die Beteiligungen an der V AG, der K ... LLP (Kasachstan), der KM NV, der K-G LLP sowie der K ... Limited, HongKong belegt.

Käme es im Rahmen der Günstigerprüfung ggf. auf die Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG n.F. an, stehe auch die Neufassung der Erstattung der Kapitalertragsteuer nicht entgegen. Zum einen sei keiner der Hauptzwecke für die gewählte Struktur die Erlangung eines steuerlichen Vorteils i.S.d. § 50d Abs. 3 Satz 2 1. Alt EStG n.F. und zum anderen seien wirtschaftliche Gründe für die gewählte Struktur maßgeblich gewesen.

Durch die gewählte Struktur werde kein steuerlicher Vorteil i.S.d. § 50d Abs. 3 Satz 2 1. Alt. EStG n.F. erzielt, da auch für Zwecke der neugefassten Regelung gelte, dass kein steuerlicher Vorteil vorliegen könne, soweit sich die Ansprüche auf Entlastung von Abzugsteuern bei ihr und der an ihr beteiligten K deckten, wenn diese sich unmittelbar beteiligt hätte. In diesem Fall werde der sog. Principle Purpose Test („PPT“) erfüllt. Anders als nach Auffassung des Beklagten seien – auch bei Berücksichtigung der Gesetzesbegründung – bei der Überprüfung möglicher steuerlicher Vorteile ausländische Steuervorteile im Ansässigkeitsstaat der an der Körperschaft beteiligten Personen außen vor zu lassen. Eine solche Auslegung finde keinen Anhaltspunkt im Wortlaut der Norm. Denn der in § 50d Abs. 3 Satz 2 1. Alt. EStG n.F. verwendete Begriff des steuerlichen Vorteils sei im Zusammenhang mit § 50d Abs. 3 Satz 1 EStG n.F. zu lesen, welcher mit der persönlichen Entlastungsberechtigung (§ 50d Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 EStG n.F.) ausschließlich auf den Anspruch auf Entlastung von der deutschen Kapitalertragsteuer abstelle und ausländische Steuern unstreitig nicht umfasse (vgl. Schönfeld/Erdem, in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, § 50d EStG, Rz. 540). Der Anwendungsbereich des § 50d Abs. 3 EStG n.F. umfasse ausschließlich die Entlastung von deutschen Abzugsteuern (hier: Kapitalertragsteuer) und gerade nicht das globale Steueraufkommen aller übrigen Staaten. Es sei daher mangels sachlichen Zusammenhangs nicht gerechtfertigt, die Entlastung von deutschen Abzugsteuern aufgrund etwaig möglicher ausländischer Steuereffekte zu versagen (vgl. Schönfeld/Erdem, in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, § 50d EStG, Rz. 540; Beutel/Oppel, DStR 2021, 1017, 1023; Grotherr, NWB 2021, 262, 273 ff.). Die Einbeziehung ausländischer Steuervorteile widerspreche außerdem der Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlichen Missbrauchsbegriff und sei somit europarechtswidrig. In der Rechtssache „Modehuis A. Zwijnenburg“ habe der EuGH explizit festgestellt, dass bei Prüfung eines Missbrauchs nur die den Zweck der Missbrauchsnorm (hier: § 50d Abs. 3 EStG n.F.) konkret betreffenden Steuern (hier: Abzugsteuern nach § 50a EStG bzw. Kapitalertragsteuer) berücksichtigt werden dürften; ein Einbezug weiterer (ausländischer) Steuern zur Prüfung eines Missbrauchs sei unzulässig (vgl. EuGH vom 20. Mai 2010, C-352/08, Modehuis A. Zwijnenburg, Tz. 47ff. (insb. Tz. 53ff.), juris; Schönfeld/Erdem, in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, § 50d EStG, Rz. 540; Schönfeld/Erdem, IStR 2021, 189, 196). Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus den in der Gesetzesbegründung zitierten Tzn. 107 bis 110 des EuGH-Urteils in der Rechtssache „T Danmark und Y Denmark Aps“. Vielmehr stelle der EuGH in Tz. 110 des Urteils explizit fest, dass für die Missbrauchsprüfung ausschließlich auf die konkret betroffenen Abzugsteuern abzustellen sei. Bestehe eine betragsmäßig identische Anspruchsgrundlage des Gesellschafters der antragstellenden Gesellschaft, gebe es nach Tz. 110 mangels steuerlichen Vorteils (aus diesen Abzugsteuern) keinen Missbrauch. Auf etwaige ausländische Steuerauswirkungen der gewählten Struktur komme es demnach ausdrücklich nicht an (vgl. Stangl/Greinert/Siebing, Ubg 2021, 447, 460 ff).

Schließlich ergebe sich nichts Anderes aus dem Verweis in der Gesetzesbegründung auf Art. 6 der Richtlinie mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts („ATAD“) (vgl. Richtlinie EU 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 geändert durch Richtlinie EU 2017/953 des Rates vom 29. Mai 2017). Denn Art. 6 ATAD sei entgegen den Ausführungen in der Gesetzesbegründung keine „übernationale Missbrauchsvermeidung“ (vgl. Schnitger/Gebhardt, IStR 2021, 289, 296 f; Holle, in Anti Tax Avoidance Directive (ATAD) Kommentar, Art. 6, Rz. 312). Art. 6 Abs. 1 ATAD erfordere es nicht, ausländische Steuervorteile zu betrachten. Vielmehr erkenne der Richtliniengeber selbst an, dass die ATAD zum einen lediglich einen Rahmen für ein gemeinsames strategisches Konzept und ein abgestimmtes Vorgehen vorgeben würden (vgl. Richtlinie EU 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 unter (2) der Erwägungsgründe) und zum anderen verbleibe die Entscheidung über den Umfang der Missbrauchsbekämpfung bei den Mitgliedstaaten (vgl. Richtlinie EU 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 unter (3) der Erwägungsgründe; vgl. auch Schnitger/Gebhardt, IStR 2021, 289, 297). Art. 6 Abs. 3 ATAD sehe als Rechtsfolge vor, dass bei einem festgestellten Missbrauch, „die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet“ werde. Es sei demnach weder einleuchtend noch sachgerecht, bei einer Beschränkung der Rechtsfolge auf nationale Steuern die Tatbestandsebene zur Missbrauchsfeststellung auf ausländische Steuern auszuweiten (vgl. Schnitger/Gebhardt, IStR 2021, 289, 297). Vielmehr könne sich der Missbrauch nur konkret auf die Erlangung des inländischen Steuervorteils beziehen.

Die weitere, sich aus § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG ergebende Voraussetzung sei infolge des EuGH-Urteils vom 16. Juni 2022 in der Rechtssache ACC Silicones nicht mehr streitig. Denn der EuGH habe festgestellt, dass § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5, Satz 5 KStG europarechtswidrig sei, da bei unbeschränkten (veranlagten inländischen) Steuerpflichtigen eine Freistellung gemäß § 8b Abs. 1 KStG 2011 nicht von den in § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5, Satz 5 KStG genannten Voraussetzungen abhängig sei (vgl. EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, ACC Silicones, juris). Die insoweit bestehende Europarechtswidrigkeit könne vorliegend nur durch eine Nicht-Anwendung von § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5, Satz 5 KStG beseitigt werden.

Der Erstattungsanspruch sei zudem auf der Grundlage unmittelbar anwendbaren Unionsrechts zu verzinsen.

Nach der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Irimie (EuGH-Urteil vom 18. April 2013, C-565/11, Irimie, juris) hätten Steuerpflichtige bei unionsrechtwidrig erhobenen Steuern nicht nur Anspruch auf die zu Unrecht erhobenen Steuern, sondern auch auf Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an den jeweiligen Mitgliedstaat gezahlt oder von diesem einbehalten worden seien. Darunter fielen nach der o.g. EuGH-Rechtsprechung auch Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer, so dass der jeweilige Mitgliedstaat verpflichtet sei, die unionsrechtwidrigen Steuern zuzüglich Zinsen zu erstatten. Diese Grundsätze seien nach der Rechtsprechung des FG Köln auch auf unionsrechtswidrig erhobene Kapitalertragsteuer anzuwenden (vgl. FG Köln, Urteil vom 30. Juni 2020, 2 K 140/18, EFG 2021, 117; Urteil vom 17. November 2021, 2 K 1544/20, EFG 2022, 349 - Rev. anhängig, Az: I R 50/21).

Hinsichtlich der Höhe der Verzinsung sei auf die allgemein gültigen Verzinsungsgrundsätze des § 238 Abs. 1 bis Abs. 1b AO zurückzugreifen (vgl. FG Köln, Urteil vom 30. Juni 2020, 2 K 140/18, EFG 2021, 117).

Die Kapitalertragsteuer sei vorliegend ab dem Tag des Kapitalertragsteuereinbehalts – also ab dem ... 2011 – zu verzinsen. Denn der EuGH habe explizit festgehalten, dass nur bei einem Zinslaufbeginn am Tag der Steuererhebung dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz genüge getan werde (vgl. EuGH-Urteil vom 18. April 2013, C-565/11, Irimie, juris).

Die bereits zitierten Entscheidungen des Finanzgerichts Köln vom 30. Juni 2020 (rechtskräftig) und vom 17. November 2021 (Revision beim BFH anhängig) stünden dieser Auslegung nicht entgegen. In diesen beiden Entscheidungen habe das Finanzgericht Köln entschieden, dass der Zinslauf bei unionsrechtswidrig erhobener Kapitalertragsteuer mit dem Erstattungsantrag bzw. mit dem Erstattungsantrag unter Beachtung einer angemessenen Bearbeitungsfrist beginne. Im Gegensatz zum vorliegenden Fall habe den beiden o.g. Entscheidungen eine aufgrund § 50d Abs. 3 EStG unionsrechtswidrig einbehaltene Kapitalertragsteuer zugrunde gelegen. Der jeweiligen Gläubigerin der Kapitalerträge habe mit § 50d Abs. 1 EStG in der jeweils anwendbaren Fassung ein gesetzlich normiertes Antragsverfahren zur Verfügung gestanden. Ihr, der Klägerin, habe zum Zeitpunkt des Kapitalertragsteuereinbehalts indes kein gesetzliches Antragsverfahren zur Verfügung gestanden, so dass sie gar keine Möglichkeit gehabt habe, durch eine entsprechende zeitnahe Antragsstellung den Zinslauf in Gang zu setzen. Die insoweit unionsrechtswidrige Rechtslage könne sich nicht zu ihrem Nachteil auswirken, so dass der Zinslauf im Streitfall zwingend am ... 2011 (Tag des Kapitalertragsteuereinbehalts) beginnen müsse.

Die Klägerin beantragt,

1.    den Bescheid für das Kalenderjahr 2011 über die Freistellung und Erstattung von deutschen Abzugsteuern vom Kapitalertrag vom 27. August 2015, Registernummer ...1, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Juni 2017, GZ: Rbl-Nr.: ..., aufzuheben und einen Freistellungsbescheid bezüglich Kapitalertragsteuern i.H.v. EUR ... zu erlassen sowie die Kapitalertragsteuer i.H.v. EUR ... zu erstatten,

2.    den Erstattungsbetrag i.H.v. EUR ... ab dem ... 2011 (Tag des Kapitalertragsteuereinbehalts) zu verzinsen

3.    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

1.    die Klage abzuweisen,

2.    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Die Klägerin sei im Rahmen des DBA/Niederlande nach § 50d Abs. 1 EStG freigestellt worden. Eine weitergehende Freistellung setze voraus, dass ein solcher Anspruch auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe (§ 172 Abs. 1 Nr. 2d AO). Eine solche stünde ihm nicht zur Verfügung, selbst wenn sich die Klägerin gegebenenfalls auf eine Verletzung ihrer Kapitalverkehrsfreiheit berufen könne.

Eine Erstattung sei auf der Grundlage des § 32 Abs. 5 KStG auch nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ACC Silicones ausgeschlossen. Denn die Klägerin erfülle die Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG nicht.

Dies folge bereits aus § 50d Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 EStG n.F. So scheide der Anspruch der Klägerin aus, insoweit Personen an ihr beteiligt seien, denen dieser Anspruch nicht zustünde, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten. Alleingesellschafterin der Klägerin sei die K mit Sitz in einem Nicht EU-Staat (Russland), die selbst keinen Anspruch auf eine Freistellung gemäß § 32 Abs. 5 KStG beanspruchen könne (vgl. § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. b KStG). Dies reiche aus, eine persönliche Entlastungsberechtigung der Klägerin zu verneinen. An diesem Ergebnis ändere sich nichts, auch wenn die russische Muttergesellschaft sich nach dem einschlägigen DBA ansonsten auf dieselbe Freistellungsregelung stützen könne wie die Klägerin.

Eine sachliche Entlastungsberechtigung gemäß § 50d Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 EStG n.F. sei gleichfalls nicht gegeben. Denn die Klägerin übe keine wirtschaftlichen Aktivitäten aus und verfüge über keinerlei eigene Mittel, die sie dazu befähigen könnten. Die Klägerin fungiere zusammenfassend als reine, vom EuGH als „missbräuchliche Gestaltung“ bewertete Durchleitungsgesellschaft (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-115/16, C-116/16, C-118/16, C-299/16 N Luxemburg und andere).

Schließlich greife auch der Motivtest gemäß § 50d Abs. 3 Satz 2 EStG n. F. nicht ein. Insoweit halte der BFH für diesen Prüfungsschritt neben einer umfassenden Prüfung der betreffenden Konzernverhältnisse, die sich auf Gesichtspunkte wie die „organisatorischen, wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Merkmale“ bezögen, auch eine nähere Befassung mit der Gesamt-Konzernstrategie und den Funktionen, die der Klägerin dabei zukämen, für unerlässlich (vgl. BFH, Urteil vom 10. November 2021, I R 27/19). Sofern die Klägerin nachweise, dass die gewählte Gestaltung auf außersteuerlichen Erwägungen beruhe, sei die Erstattung zu gewähren. Allerdings läge nach seiner Auffassung bisher keine überzeugende Argumentation der Klägerin zu diesem Gesichtspunkt vor.

Hinsichtlich eines möglichen Freistellungsanspruchs nach Art. 63 - 65 AEUV sei zu berücksichtigen, dass selbst wenn von einer nicht zu rechtfertigenden Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit der Klägerin ausgegangen werden solle, ihm, dem Beklagten, keine gesetzliche Regelung für eine weitergehende Freistellung zur Verfügung stehe, die eine Freistellung erlaube, nachdem § 32 Abs. 5 KStG nicht anwendbar sei.

Über diese im Klageverfahren 2 K 1791/17 mit Schreiben vom 29. September 2022 vorgetragenen Erwägungen hinaus, auf die sich der Beklagte auch im vorliegenden Verfahren ausdrücklich beruft, trägt er zusätzlich vor, dass nach seiner Auffassung das Gericht im vorliegenden Klageverfahren nur die aktenkundigen Anträge beurteilen könne, über die er, der Beklagte, bereits entschieden habe. Die angeblich an ihn gerichteten Anträge mit Datum vom 27. Februar 2014 seien ihm nicht bekannt.

Ergänzend zu den rechtlichen Ausführungen im Klageverfahren 2 K 1791/17 (betreffend das Jahr 2010) sei im Hinblick auf die nunmehr erstellte Klagebegründung hinsichtlich des Streitjahrs 2011 darauf hinzuweisen, dass § 50d Abs. 3 EStG uneingeschränkt anwendbar sei. Das von der Klägerin angeführte Rückwirkungsverbot greife nicht ein. Denn er, der Beklagte, wende in einem offenen Antragsverfahren die aktuelle Gesetzeslage an. Zum Zeitpunkt der Antragstellung seien noch keine Rechtsfolgen in Gestalt konkret festgesetzter Erstattungsansprüche entstanden. Auch der Verweis der Klägerin auf einen ihr zustehenden Anspruch gemäß § 50d Abs. 1 EStG analog vermöge kein anderes Ergebnis zu begründen, da § 50d Abs. 3 EStG auch bei diesem Anspruch zu überprüfen sei. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH sei die Bekämpfung missbräuchlicher Gestaltungen zur Erlangung ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile eine durchgängige Forderung des EuGH an die EU-Staaten (vgl. etwa: EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019, RS C-115/16, C-116/16, C-117/16 (N Luxembourg 1,T Danmark und Y Denmark), welche sogar so weit gehe, dass Steuervergünstigungen „bei Betrug oder Missbrauch auch dann zu verwehren [sind], wenn dies nicht in einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist“ (vgl. EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-116/16 und C-117/16).

Die Klägerin könne sich auch deshalb nicht auf § 32 Abs. 5 KStG berufen, weil sich der Ort ihrer Geschäftsleitung nicht in den Niederlanden, sondern in T, Russland befunden habe. Dies ergebe sich bereits aus den Unterlagen, die die Klägerin zur Überprüfung von § 50d Abs. 3 EStG im Verwaltungsverfahren vorgelegt habe. Denn sie habe dieses Formular nicht für sich selbst, sondern direkt aus der Sicht ihrer Muttergesellschaft, der K, ausgefüllt. Bestätigt werde dies durch die nunmehr von der Klägerin vorgelegten vollständigen Bilanzunterlagen der Streitjahre. Denn hieraus ergebe sich, dass die substanzlose Klägerin lediglich als reine Durchleitungsgesellschaft fungiert habe: Das Anlagevermögen der Klägerin bestehe ausschließlich aus Unternehmensbeteiligungen. Als Aufwand weise sie in der Gewinn- und Verlustrechnung lediglich Zinsaufwendungen, allgemeinen Verwaltungsaufwand, Prüfungsgebühren, Bankgebühren, Provisionen, Quellensteuern, Beratungsgebühren, Handelskammergebühren, Anwaltskosten, externe Managementkosten, Einstellungsgebühren, Steuerberaterkosten und Reisekostenersatz auf. Kosten für Büroräume und eigenes Personal seien nicht bilanziert. Die Einnahmen erschöpften sich in Zinserträgen, Wechselkursgewinnen und Erträgen aus den Beteiligungen.

Auf eine reine Durchleitungsgesellschaft wiesen zudem die hohen Verbindlichkeiten der Klägerin gegenüber anderen Konzerngesellschaften hin, 2010 i.H.v. ... US Dollar, 2011 i.H.v. ... US Dollar, 2012 i.H.v. ... US Dollar.

Der Ort der geschäftlichen Oberleitung der Klägerin befinde sich in Russland und sei damit außerhalb der EU belegen. Auch aus diesem Grund stehe der Klägerin kein Erstattungsanspruch gemäß § 32 Abs. 5 KStG zu.

Soweit sich die Klägerin auf die Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV berufe, habe er über einen unmittelbaren Anspruch der Klägerin zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung weder entscheiden wollen noch mangels Zuständigkeit können.

Soweit die Klägerin eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit hypothetisch für ihre Muttergesellschaft geltend mache, seien die tatsächlichen Beteiligungsverhältnisse der Muttergesellschaft an ihr zu berücksichtigen. Infolge der 100 % Beteiligung der K an der Klägerin habe diese die Vorrangigkeit der Niederlassungsfreiheit zu beachten.

Komme es auf die hypothetische Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit der K an, stelle sich überdies die Frage, ob nicht diese Gesellschaft hätte klagen müssen, da eine hypothetische Verletzung der Muttergesellschaft keine Rechtsverletzung der Tochtergesellschaft, der Klägerin, darstelle. Zudem sei aufgrund der tatsächlichen Sach- und Rechtslage zu entscheiden, nicht für hypothetisch vorstellbare Alternativen, die dann die tatsächlichen Verhältnisse des Streitfalles sogar noch verdrängen sollten.

Hinsichtlich einer möglichen Definitivbelastung sei zudem anzumerken, dass diese auch bei einer möglichen Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit nicht das entscheidende Merkmal sei, sondern erst die Schlechterstellung in Gestalt der Definitivbelastung unter Berücksichtigung einer entsprechenden Vergleichsgruppe. Insofern seien zunächst die für den Streitfall tatsächlich maßgeblichen Verhältnisse aufzuklären, soweit sie für die Klage der Klägerin erheblich seien. Infolge des gerichtlichen Hinweisschreibens vom 4. September 2023 sei hierzu noch mit einer Aufklärung zu rechnen.

Der von der Klägerin geltend gemachte Zinsanspruch komme überhaupt nur dann in Betracht, wenn der Klägerin entgegen seiner Auffassung ein Erstattungsanspruch zustehe. Selbst dann habe ihr Antrag keine Aussicht auf Erfolg. Denn nach der aktuellen Gesetzeslage sei ein Zinsanspruch ausgeschlossen, vgl. § 233a AO.

Es obliege dem deutschen Gesetzgeber ggf. diese Gesetzeslage durch Regelungen zu ändern, die über den hier betroffenen Einzelfall hinaus gelten würden (vgl. § 85 AO). Zudem sei die Klägerin nicht anders als Steuerinländer gehalten, den Steuerabzug zunächst hinzunehmen (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 3 EStG) und einen ggf. bestehenden Erstattungsanspruch im Rahmen eines nachträglichen Erstattungsverfahrens auf anderer Rechtsgrundlage bei ihm als sachlich zuständigen Beklagten geltend zu machen (vgl. BFH-Urteil vom 11. Januar 2012, I R 25/10, zitiert nach Juris, Rz. 27 und 28). Deshalb beginne ein ggf. gesetzlicher Zinslauf keinesfalls, wie von der Klägerin gewünscht, am Tag der Steuerabführung.

Das Klageverfahren wurde auf Antrag der Klägerin im Hinblick auf das zunächst ebenfalls anhängige Streitjahr 2010 (2 K 1791/17) mit Beschluss vom 14. September 2017 zum Ruhen gebracht. Das Verfahren 2 K 1791/17 wiederum ruhte im Hinblick auf die EuGH-Vorlage des erkennenden Senats im Verfahren 2 K 283/16 (Aktenzeichen des EuGH: C-572/20). Das Verfahren 2 K 1791/17 endete durch Klagerücknahme vom 17. April 2023, so dass der Grund für die Verfahrensruhe entfallen war.

Sowohl die Verwaltungsakten (NL ...) als auch die finanzgerichtlichen Akten (2 K 1791/17) betreffend das Streitjahr 2010 wurden beigezogen.

Der Beklagte hat auf telefonische Rückfrage am 14. September 2023 mitgeteilt, dass zwischenzeitlich ein Erstattungsantrag der Klägerin gemäß § 50d Abs. 1 EStG analog (wegen geltend gemachter Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV) betreffend das Streitjahr registriert wurde.

Aus den Gründen

I. Die Klage ist hinsichtlich des Erstattungsanspruchs begründet.

Der Bescheid vom 27. August 2015 betreffend das Jahr 2011 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 1. Juni 2017 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf die von ihr begehrte weitere Erstattung von Kapitalertragsteuer für die im Jahr 2011 von der V AG zugeflossenen Dividenden, da sämtliche Voraussetzungen gemäß § 32 Abs. 5 KStG als erfüllt anzusehen sind.

1. Der mit Gesetz vom 21. März 2013 eingeführte § 32 Abs. 5 KStG (Gesetz zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der Rs. C-284/09,  BGBl. I 2013, 561) sieht für beschränkt steuerpflichtige Körperschaften unter bestimmten subjektiven und materiellen Voraussetzungen eine Erstattungsmöglichkeit einbehaltener und abgeführter Kapitalertragsteuer für Kapitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, bei denen dem Steuerabzug abgeltende Wirkung zukommt, vor. Die Erstattung der Kapitalertragsteuer erfolgt gemäß § 32 Abs. 5 Sätze 1, 6 KStG auf Antrag auf der Grundlage eines Freistellungsbescheids gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO.

2. Die Klägerin erfüllt hinsichtlich der von ihr beantragten Kapitalertragsteuererstattung i.H.v. ... € betreffend die im Jahr 2011 zugeflossene Gewinnausschüttung der V AG unzweifelhaft sowohl die subjektiven Voraussetzungen als auch weitgehend die materiell-rechtlichen Voraussetzungen gemäß § 32 Abs. 5 KStG.

Die subjektive Voraussetzung des Ortes der Geschäftsleitung in den Niederlanden gemäß § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1b) KStG hat der Beklagte zwar im Schriftsatz vom 11. September 2023 kurz vor der mündlichen Verhandlung in Frage gestellt. Die Klägerin verfügte indes im Streitjahr über in Z ansässige Direktoren/Geschäftsführer und hat bereits im Antragsverfahren eine Bestätigung der niederländischen Steuerbehörde über ihren Ort der Geschäftsleitung in den Niederlanden vorgelegt (vgl. Bl 73 Verwaltungsakte NL ...1). Zudem bestehen keine Anhaltspunkte, dass das sog. Tagesgeschäft der Klägerin als Holding nicht durch ihre Direktoren/Geschäftsführer in Z ausgeübt wurde bzw. ausgeübt werden konnte, auch wenn die Klägerin über keine eigenen Büroräume verfügte und neben den Direktoren kein weiteres Personal für sie tätig wurde. Es ist daher vom Ort ihrer Geschäftsleitung in Z und damit innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaates der Europäischen Union gemäß § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1b KStG auszugehen.

Infolge des EuGH-Urteils vom 16. Juni 2022 (C-572/20) ist nunmehr auch § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 KStG nicht mehr im Streit.

Schließlich steht auch § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 KStG dem Anspruch der Klägerin unstreitig nicht entgegen, da eine Erstattung im Verfahren gemäß § 32 Abs. 5 KStG nur hinsichtlich des Teils der Kapitalertragsteuer geltend gemacht wird, für die eine Erstattung in anderen Verfahren, insbesondere jenen gemäß § 44a Abs. 9 EStG bzw. § 50d EStG i.V.m. DBA Deutschland-Niederlande, nicht vorgesehen ist.

3. Die damit einzig noch streitige Voraussetzung gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG ist ebenfalls als erfüllt anzusehen. Danach erfolgt eine Erstattung nach Satz 1 dieser Vorschrift nur („Satz 1 gilt nur“), soweit der Anspruch bei entsprechender Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG nicht ausgeschlossen wäre.

a) Die entsprechende Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG führt nicht zu einem Ausschluss des Erstattungsanspruchs, wobei dies aus § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des JStG 2007 (vom 13. Dezember 2006, BGBl. 2006, 2878) folgt, der auf Grund der gesetzlich vorgesehenen Günstigerprüfung vorheriger Fassungen vorrangig zu überprüfen ist (vgl. die Anwendungsregelung in § 52 Abs. 47b EStG in der Fassung des Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes vom 2. Juni 2021, AbzStEntModG, BGBl. I S. 1259).

§ 50d Abs. 3 EStG i.d.F. des JStG 2007 gelangt hinsichtlich der im Jahr 2011 zugeflossenen Dividenden in Abgrenzung zu 50d Abs. 3 EStG in der Fassung des BeitrRLUmsG vom 7. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2592) zur Anwendung, da diese vorherige Fassung zu dem Zeitpunkt (noch) galt, zu dem die Einkünfte zugeflossen sind (vgl. § 52 Abs. 47b EStG i.d.F. AbzStEntModG). Dass § 50d Abs. 3 EStG in der Fassung des BeitrRLUmsG auf Dividendenzuflüsse 2011 noch nicht anwendbar war, folgt aus der allgemeinen Anwendungsregelung des § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der Fassung des BeitrRLUmsG, wonach das EStG in seiner aktuellen Fassung erstmals für den Veranlagungszeitraum 2012 anzuwenden ist, soweit in den übrigen Absätzen des § 52 EStG oder in § 52a EStG nichts anderes bestimmt ist. Weder § 52 EStG (insbesondere § 52 Abs. 59a EStG) noch § 52a EStG sahen eine besondere Anwendungsregelung für § 50d Abs. 3 EStG 2012 vor. Es ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, dass dies nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen soll. In den Gesetzesmaterialien findet sich keine Erwägung dazu, § 50d Abs. 3 EStG 2012 auf alle offenen Fälle anzuwenden (vgl. BT-Drucks. 17/7524, Seite 13 f.).

b) Gemäß § 50d Abs. 3 EStG 2007 hat eine ausländische Gesellschaft keinen Anspruch auf völlige oder teilweise Entlastung nach § 50d Abs. 1 oder Abs. 2 EStG, soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und

1. für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder

2. die ausländische Gesellschaft nicht mehr als 10 Prozent ihrer gesamten Bruttoerträge des betreffenden Wirtschaftsjahres aus eigener Wirtschaftstätigkeit erzielt oder

3. die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.

Maßgebend sind dabei ausschließlich die Verhältnisse der ausländischen Gesellschaft; organisatorische, wirtschaftliche oder sonst beachtliche Merkmale der Unternehmen, die der ausländischen Gesellschaft nahestehen (§ 1 Abs. 2 AStG), bleiben außer Betracht (§ 50d Abs. 3 Satz 2 EStG 2007).

c) § 50d Abs. 3 EStG 2007 ist indes nicht uneingeschränkt anwendbar. Nach der Rechtsprechung des EuGH verstößt diese Norm sowohl gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV als auch die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; vgl. auch EuGH-Beschluss zu § 50d Abs. 3 EStG 2012 vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479). Diese Verletzung der Grundfreiheiten führt zwar nicht dazu, dass § 50d Abs. 3 EStG 2007 überhaupt nicht anzuwenden ist. Allerdings ist diese Regelung im Lichte der EU-Grundfreiheiten geltungserhaltend auszulegen.

Das Recht der Europäischen Union ist gemäß Art. 23 GG, Art. 267 AEUV Bestandteil des Bundesrechts und zwar mit Anwendungsvorrang vor nationalem Recht (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 7. Juni 2000, 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147; vom 9. Januar 2001, 1 BvR 1036/99, NJW 2001,1267). Die Gerichte dürfen deshalb deutsche Vorschriften nicht anwenden, soweit sie Unionsrecht verletzen. Der Anwendungsvorrang des Primärrechts der EU und damit der unionsrechtlichen Grundfreiheiten vor nationalem Recht ist folglich auch mit Blick auf die Antimissbrauchsregelung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 zu beachten.

Allerdings ist die nationale Norm bei einem Verstoß gegen EU-Primärrecht nicht generell überhaupt nicht anwendbar. Denn der gemeinschaftsrechtliche Anwendungsvor-rang wirkt sich nicht prinzipiell dergestalt aus, dass von der Anwendung der EU-rechtswidrigen Norm grundsätzlich gänzlich abzusehen ist. Die vom EuGH verbindlich formulierten gemeinschaftsrechtlichen Erfordernisse sind vielmehr in geeigneten Fällen durch die sog. „geltungserhaltende Reduktion“ in die betreffenden Normen hineinzulesen (vgl. BFH-Urteile vom 21. Oktober 2009, I R 114/08, BFH/NV 2010, 279; vom 13. Juni 2018, I R 94/15, BFHE 262, 79; vom 3. Februar 2010, I R 21/06, BStBl. II 2010, 692). Dadurch wird im Wege richterlicher Fortbildung ein unionsrechtskonformer Zustand geschaffen.

Demgemäß ist dem Steuerpflichtigen mit Blick auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 und vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH der unionsrechtlich gebotene Gegenbeweis über einen mangelnden Regelungsmissbrauch im Einzelfall zu eröffnen (vgl. so zu §§ 7 ff. AStG BFH-Urteil vom 13. Juni 2018, I R 94/15, BFHE 262, 79).

Bei der Prüfung, ob ein Vorgang Steuerhinterziehung und Missbrauch als Beweggrund hat, können sich die zuständigen nationalen Behörden nicht darauf beschränken, vorgegebene allgemeine Kriterien anzuwenden; vielmehr müssen sie den Vorgang als Ganzes individuell prüfen. Eine generelle Steuervorschrift, mit der bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen automatisch vom Steuervorteil ausgenommen werden, ohne dass die Steuerbehörde auch nur einen Anfangsbeweis oder ein Indiz für die Steuerhinterziehung oder den Missbrauch beizubringen hätte, geht über das zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen Erforderliche hinaus (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479).

Konkret mit Blick auf § 50d Abs. 3 EStG hat der EuGH in diesem Zusammenhang festgestellt, dass diese Regelung nicht speziell bezweckt, von der Inanspruchnahme eines Steuervorteils rein künstliche Konstruktionen auszuschließen, die auf die ungerechtfertigte Nutzung dieses Vorteils ausgerichtet sind (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479). § 50d Abs. 3 EStG begründet eine unwiderlegbare Missbrauchs- oder Hinterziehungsvermutung, da sie in dem Fall, in dem eine der in ihr vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist, der gebietsfremden Gesellschaft nicht die Möglichkeit lässt, das Vorliegen wirtschaftlicher Gründe zu beweisen (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479). Die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG begründen indes, einzeln oder zusammen betrachtet, keinen Missbrauch oder keine Hinterziehung (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479).

Dabei führt der EuGH aus, dass der Umstand, dass die Beteiligung solcher Personen an einer gebietsfremden Muttergesellschaft, denen die betreffende Befreiung nicht zustände, wenn sie die Dividenden unmittelbar bezogen hätten, für sich allein nicht bedeute, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliege, die einzig und allein zur ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119; EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479). Auch der Umstand, dass die Wirtschaftstätigkeit einer gebietsfremden Muttergesellschaft in der Verwaltung von Wirtschaftsgütern ihrer Tochtergesellschaften besteht oder dass ihre Einkünfte nur aus dieser Verwaltung stammen, bedeute für sich allein nicht, dass eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliege (vgl. EuGH-Beschluss vom 14. Juni 2018, C-440/17, GS, DStR 2018, 1479).

Diese vom EuGH festgestellten Grundsätze sind geeignet, in § 50d Abs. 3 EStG hineingelesen zu werden, so dass betroffenen Gesellschaften jedenfalls der Gegenbeweis zu erlauben ist.

d) Dies berücksichtigend ergibt sich die Nichtanwendbarkeit von § 50d Abs. 3 EStG zwar nicht bereits aus der sog. persönlichen Entlastungsberechtigung, da der 100 %igen Muttergesellschaft der Klägerin, der K, bei unmittelbarer Beteiligung an der V AG – anders als nach Auffassung der Klägerin – kein Erstattungsanspruch zustände. Allerdings ist der Klägerin der Gegenbeweis gelungen, dass es sich vorliegend nicht um eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion zur Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils handelt.

aa) An der Klägerin ist die K beteiligt, der die begehrte vollständige Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielte. Sie könnte einen Erstattungsanspruch weder aus § 32 Abs. 5 KStG herleiten noch aus § 50d Abs. 1 EStG analog unter Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV.

aaa) § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 KStG setzt voraus, dass die die Erstattung beantragende Gesellschaft eine Gesellschaft im Sinne des Artikels 54 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder des Artikels 34 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist und ihren Sitz und Ort der Geschäftsleitung innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, hat.

Diese Voraussetzungen erfüllt die K als Gesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in T, Russland unstreitig nicht.

bbb) Entgegen der Auffassung der Klägerin folgt eine Anwendbarkeit des § 32 Abs. 5 KStG zu Gunsten der K auch nicht aus der Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV. Der erkennende Senat hat zwar in einer jüngeren Entscheidung eine Einschränkung von § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 KStG dergestalt angenommen, dass die Regelung auch für Gesellschaften gilt, deren Sitz und/oder Sitz der Geschäftsleitung sich in Drittstaaten befindet (vgl. Beschluss zur Vorlage an den EuGH vom 20. Mai 2020, 2 K 283/16, EFG 2021, 123). Allerdings vermag der Senat – anders als in der dem Vorlagebeschluss vom 20. Mai 2020 zu Grunde liegenden Konstellation – im Fall der K keine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit festzustellen, so dass § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 KStG nicht einschränkend auszulegen ist. Dies folgt aus der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere aus den Urteilen vom 8. November 2007 (C-379/05, Amurta, IStR 2007, 853) und vom 16. Juni 2022 (C-572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725).

ccc) Der Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ist eröffnet. Dies ergibt sich – in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit, die nur zugunsten Angehöriger von EU-Mitgliedstaaten und nicht auch zugunsten Drittstaatengesellschaften wirkt – daraus, dass die (gedankliche) Direktbeteiligung der K an der V AG i.H.v. 8,07 % zum Zeitpunkt des Dividendenzuflusses 2011 bzw. später zum Zeitpunkt des Dividendenzuflusses 2012 i.H.v. 1,05 % ihr keinen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der V AG gewährt hätte. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Auffassung des FG Düsseldorf in der nicht rechtskräftigen Entscheidung vom 2. März 2022 zu folgen wäre, wonach bei Inbound-Drittsaatenkonstellationen nicht auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelungen, sondern auf die tatsächliche Beteiligungshöhe abzustellen wäre (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 2. März 2022, 7 K 1424/18 KE, EFG 2022, 598, nrkr., Az. des BFH: I R 16/22; vgl. auch FG Köln, Urteil vom 17. März 2021, 2 K 476/17, juris), oder ob entsprechend der Auffassung der Klägerin nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur bei Outbound- sondern auch bei Inbound-Drittstaatenkonstellationen der Gegenstand der betreffenden Normen maßgeblich wäre (vgl. EuGH-Urteil vom 24. November 2016, C-464/14, SECIL, IStR 2017, 118; EuGH-Urteil vom 10. April 2014, C-190/12, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, IStR 2014, 333; so auch: Patzner/Nagler, IStR 2022, 709 m.w.N.). Letzteres würde unabhängig von der konkreten Beteiligungshöhe zur Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit führen, da es sich bei den in Betracht kommenden nationalen Normen § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG (Abgeltung der Körperschaftsteuer durch den Steuerabzug), § 8b Abs. 1 KStG in der im Streitjahr geltenden Fassung (nur Inländern gewährter Beteiligungsertragsbefreiung), § 50d Abs. 1 EStG i.V.m. Art. 10 Abs. 1b) DBA Russland sowie § 32 Abs. 5 KStG um Vorschriften handelt, die nicht ausschließlich auf Beteiligungen anwendbar sind, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (vgl. Patzner/Nagler, IStR 2022, 709 m.w.N.).

Für die Abgrenzung zwischen Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit spielt die Beteiligungshöhe der K an der Klägerin i.H.v. 100 %, anders als der Beklagte meint, keine ausschlaggebende Rolle. Denn im Rahmen der Prüfung des § 50d Abs. 3 EStG ist gerade die hypothetische Situation ohne Beteiligung der „eingeschalteten“ Gesellschaft zu beurteilen, in der die fraglichen Anteile an der V AG unmittelbar vom Anteilseigner, d.h. der K, gehalten werden.

ddd) Ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit kann für den hypothetischen Fall der Direktbeteiligung der K an der V AG indes nicht festgestellt werden.

Die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV verbietet grundsätzlich alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern. Ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit liegt auch vor, wenn durch Maßnahmen eines Mitgliedstaats Gebietsfremde von Investitionen in diesem Mitgliedstaat abgehalten werden (vgl. EuGH-Urteil vom 22. November 2018, C-575/17, Sofina u.a., RIW 2019, 390; EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725). Insbesondere kann der Umstand, dass ein Mitgliedstaat an ausländische Gesellschaften ausgeschüttete Dividenden weniger günstig behandelt als an inländische Gesellschaften ausgeschüttete Dividenden, Gesellschaften, die im Ausland ansässig sind, davon abhalten, im Inland zu investieren, und stellt damit eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs gemäß Art. 63 AEUV dar (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Oktober 2011, C-284/09, Kommission/Deutschland, IStR 2011, 840; EuGH-Urteil vom 22. November 2018, C-575/17, Sofina u.a., RIW 2019, 390).

Nach den vorliegend in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften sind die Voraussetzungen, unter denen die an der Quelle einbehaltene Kapitalertragsteuer auf Dividenden aus Streubesitzanteilen erstattet werden kann, je nachdem, ob es sich bei der Empfängerin der Dividenden um eine gebietsansässige oder eine gebietsfremde Gesellschaft handelt, unterschiedlich. Gebietsansässigen Gesellschaften steht die Möglichkeit einer Anrechnung auf die von ihnen geschuldete Körperschaftsteuer und ggf. die Erstattung eines Restbetrags zu, während in einem sog. Drittlandsgebiet ansässigen Gesellschaften keine nationale Erstattungsregelung zur Verfügung steht.

Dabei befinden sich die gebietsansässigen und gebietsfremden Gesellschaften in einer objektiv vergleichbaren Situation. So hat der EuGH zuletzt in seiner Entscheidung vom 16. Juni 2022 bekräftigt, dass, sofern sich ein Mitgliedstaat dafür entschieden hat, seine Steuerhoheit für sämtliche Dividenden aus Streubesitzanteilen unabhängig davon auszuüben, ob sie an gebietsansässige Gesellschaften oder an Gesellschaften ausgeschüttet werden, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind, sich beide Kategorien von Gesellschaften, was die Gefahr einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung oder einer mehrfachen Belastung dieser Dividenden angeht, in einer vergleichbaren Situation befinden. Sie müssen daher einer gleichwertigen Behandlung unterzogen werden (vgl. in diesem Sinne bereits EuGH-Urteil vom 20. Oktober 2011, C-284/09, Kommission/Deutschland, IStR 2011, 840, EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C 572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725).

Diese vom EuGH geforderte gleichwertige Behandlung kann durch Regelungen in Doppelbesteuerungsabkommen erreicht werden. Zwar kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf einen von einem anderen Mitgliedstaat einseitig gewährten Vorteil berufen, um sich den ihm aus dem Vertrag obliegenden Verpflichtungen zu entziehen. Das Ziel, eine gleichwertige Behandlung von Dividenden zu erreichen, die an gebietsansässige und gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, kann jedoch über ein mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenes Doppelbesteuerungsabkommen erreicht werden (vgl. EuGH-Urteil vom 8. November 2007, C-379/05, Amurta, IStR 2007, 853), soweit dessen Anwendung ermöglicht, die Wirkungen der sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergebenden Ungleichbehandlung vollständig auszugleichen (vgl. EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725).

Dieser als sog. „Amurta-Klausel“ bezeichnete Rechtfertigungsgrund der abkommensrechtlichen Neutralisierung greift bei hypothetischer Betrachtung auf Ebene der K ein. Denn die vom deutschen Kapitalertragsteuer-Nachteil ausgehende Beschränkung könnte durch die im DBA Russland angeordnete Anrechnung seitens des Sitzstaats Russland vollständig neutralisiert werden. Neben der Reduzierung der Quellensteuer in Art. 10 Abs. 1b) DBA Russland auf 15 % sieht der Methodenartikel Art. 23 Abs. 1 DBA Russland die Anrechnung der ausländischen Quellensteuer auf die in Russland auf die Dividenden erhobene Steuer vor. Der im Abkommenstext verwendete Begriff des „Abzugs“ der deutschen Steuer von der russischen Steuer ist insoweit missverständlich, da hiermit die Anrechnung gemeint ist (vgl. Wagner/Wellmann in Wassermeyer, Art. 23 DBA RUS, Rz. 2).

Unschädlich für die Rechtfertigung ist die im Abkommen enthaltene Beschränkung der Anrechnung auf in Russland auf die Dividenden erhobene Steuer. Denn anders als nach Auffassung der Klägerin, die deren Prozessbevollmächtigte zuletzt in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage bekräftigt haben, schließt eine solche Abkommensklausel eine Rechtfertigung nicht per se aus. Zwar hat der EuGH in seinem Urteil vom 16. Juni 2022, auf das sich die Klägerin im Wesentlichen bezieht, ausgeführt, dass ein solcher Mechanismus (Ausgangspunkt des dem EuGH vorgelegten Falles war eine vergleichbare Regelung im DBA Großbritannien) offensichtlich ungeeignet ist, in allen Fällen einen Ausgleich der Ungleichbehandlung sicherzustellen, der sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergibt, da ein solcher Ausgleich nämlich nur unter der Annahme möglich ist, dass der Betrag der auf die ausgeschütteten Dividenden berechneten britischen Steuer mindestens demjenigen der von der Bundesrepublik Deutschland einbehaltenen Quellensteuer entspricht (vgl. EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725). Dass bei ausreichendem Anrechnungssubstrat im Ansässigkeitsstaat und einer daraus folgenden vollständigen Anrechnung die Ungleichbehandlung nicht ausgeglichen werden könnte, ist diesen Ausführungen jedoch gerade nicht zu entnehmen, zumal in dem Fall, der der EuGH-Vorlage zu Grunde lag, gerade kein Anrechnungssubstrat in Großbritannien vorhanden war (vgl. FG Köln, Vorlagebeschluss vom 20. Mai 2020, 2 K 283/16, EFG 2021, 123). Zudem hat der EuGH bei der Auflistung solcher Maßnahmen, die generell ungeeignet sind, eine vollständige Neutralisierung dieser Ungleichbehandlung zu ermöglichen, die Anrechnungsmethode gerade nicht genannt, sondern vielmehr in Abgrenzung hierzu den Abzug der Quellensteuer von der Bemessungsgrundlage der Steuer aufgeführt, die von der Dividenden beziehenden Gesellschaft im Mitgliedstaat der Niederlassung geschuldet wird, sowie den Abzug als Betriebsausgaben oder als Werbungskosten sowie die Möglichkeit für diese Gesellschaft, einen Anrechnungsvortrag in Anspruch zu nehmen, dessen Inanspruchnahme stets unsicher ist (vgl. EuGH-Urteil vom 16. Juni 2022, C-572/20, ACC Silicones, FR 2022, 725, Rz. 49). Die Maßgeblichkeit von Steuern im ausländischen Ansässigkeitsstaat, die konkret für eine Anrechnung zur Verfügung stehen, wird im Zusammenhang mit einem möglichen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit auch in weiteren EuGH-Entscheidungen, wie z.B. dem Urteil vom 13. November 2019 (C-641/17, College Pension Plan of British Columbia/Finanzamt München Abteilung III, IStR 2019, 933) oder dem EuGH-Urteil vom 14. Dezember 2006, (C-170/05, Denkavit International und Denkavit France, IStR 2007, 62 hinsichtlich einer Verletzung der Niederlassungsfreiheit) sowie finanzgerichtlichen Entscheidungen, wie z.B. dem Urteil des FG Nürnberg vom 12. April 2018 (6 K 1390/16, EFG 2019, 1095) oder dem Urteil des FG Düsseldorf vom 2. März 2022 (7 K 1424/18 KE, EFG 2022, 598) deutlich. In sämtlichen Fällen fehlte es – aus unterschiedlichen Gründen – an Anrechnungssubstrat im ausländischen Ansässigkeitsstaat, so dass es zu einer definitiven Belastung mit Quellensteuer, auch nach Anwendung des jeweiligen DBA, kam.

Nach hinreichender Überzeugung des Senats könnte im Fall des unmittelbaren Dividendenbezugs durch die K die Ungleichbehandlung durch eine Anrechnung der reduzierten Quellensteuer i.H.v. 15 % auf in Russland auf die Dividenden anfallende Steuer neutralisiert werden. Denn der im Streitjahr in Russland gültige Steuersatz für Streubesitzdividenden betrug 15 % (vgl. Patzner/Nagler, IStR 2022, 709, 717). Zu besonderen Umständen, die zu einer Abweichung dieser allgemein gültigen Besteuerungslage in Russland, die zu einer Verringerung des Anrechnungssubstrats im Fall der K hätten führen können, hat die Klägerin, auch nach ausdrücklicher Nachfrage gegenüber ihren Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, mangels nach ihrer Auffassung vorliegender Erheblichkeit keine Ausführungen gemacht. Unilaterale Anrechnungsregelungen, insoweit ist der Auffassung der Klägerin zuzustimmen, wären für eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung zwar nicht zu berücksichtigen. Infolge nationaler Besteuerungsgrundlagen vorhandenes Anrechnungssubstrat ermöglicht demgegenüber den vollständigen Ausgleich infolge bilateral vereinbarter Abkommensvorschriften. Der Rechtfertigungsgrund der abkommensrechtlichen Neutralisierung greift mithin bei hypothetischer Betrachtung auf der Ebene der K ein. Die Kapitalverkehrsfreiheit wird daher nicht verletzt, der K stünde ein Anspruch gemäß § 32 Abs. 5 KStG nicht zu.

eee) Infolge des fehlenden Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV stünde der K auch kein auf § 50d Abs. 1 EStG analog gestützter Erstattungsanspruch zu.

fff) Aus dem fehlenden Erstattungsanspruch der 100 %igen Muttergesellschaft der Klägerin, der K, bei unmittelbarer Beteiligung an der V AG folgt, dass die Voraussetzungen der persönlichen Entlastungsberechtigung gemäß § 50d Abs. 3 EStG 2007 nicht gegeben sind.

bb) Auch das Vorliegen einer sachlichen Entlastungsberechtigung gemäß § 50d Abs. 3 EStG 2007 ist zweifelhaft, sowohl hinsichtlich einer eigenen aktiven Wirtschaftstätigkeit als auch hinsichtlich eines angemessen eingerichteten eigenen Geschäftsbetriebs. Nach ihrem eigenen Vortrag handelt es sich bei ihr um eine Zwischenholding mit Finanzierungsfunktion ohne einen angemessen eingerichteten eigenen Geschäftsbetrieb, die die Substanzkriterien des § 50d EStG 2007 zum Antragszeitpunkt nicht erfüllte. Dies berücksichtigend hat die Klägerin entsprechend der damaligen Gesetzes-, Rechtsprechungs- und Verwaltungslage (insbesondere vor Ergehen des EuGH-Urteils vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119) im Antragsverfahren bei der Prüfung von § 50d Abs. 3 EStG 2007 konsequent auf ihre Muttergesellschaft, die K, abgestellt.

cc) Der Klägerin ist es allerdings gelungen, den ihr eingeräumten Gegenbeweis zu führen. Sie konnte den erkennenden Senat davon überzeugen, dass es sich bei ihrer Einschaltung nicht um eine rein künstliche Konstruktion handelt, die auf die ungerechtfertigte Nutzung eines steuerlichen Vorteils, insbesondere einer Erstattung gemäß § 32 Abs. 5 KStG, gerichtet ist.

Bei der Gesamtabwägung im Hinblick auf den Gegenbeweis ist zu berücksichtigen, dass eine passive Wirtschaftstätigkeit für sich allein gesehen im Lichte der EU-Grundfreiheiten unter Missbrauchsgesichtspunkten unschädlich ist (vgl. EuGH-Urteil vom 20. Dezember 2017, C-504/16 und C-613/16, Deister Holding und Juhler Holding, DStR 2018, 119) und dass allein die Tatsache, dass es an einem angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb fehlt, es z.B. im Lichte der europäischen Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV (ex-Art. 56 EGV) nicht rechtfertigt, die Erstattung der Kapitalertragsteuer zu versagen (vgl. FG Köln, Urteil vom 23. Januar 2019, 2 K 1315/13, EFG 2019, 1764). Zudem hat der erkennende Senat bereits entschieden, dass der mögliche Gegenbeweis auch im Falle vermögensverwaltender Zwischengesellschaften ohne angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb erbracht werden kann (vgl. FG Köln, Urteil vom 23. Januar 2019, 2 K 1315/13, EFG 2019, 1764, Nachfolgeentscheidung im 2. Rechtsgang vom 21. Juni 2023, nrkr.). Allerdings betraf diese Entscheidung des Senats eine Konstellation, in der die Gesellschaft zu einer Unternehmensgruppe gehörte, die in ihrem Ansässigkeitsstaat über eine Konzerngesellschaft verfügte, die frei von Missbrauchszweifeln war, die insbesondere über einen angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb verfügte und eine aktive Wirtschaftstätigkeit ausübte. Im Übrigen gab es noch weitere ins Gewicht fallende Umstände aus dem Bereich der Unternehmensstrategie und Unternehmensaufstellung, die der Senat im Zusammenhang mit § 50d Abs. 3 EStG n.F. als ausschlaggebend angesehen hat.

Vergleichbare Gesamtumstände wurden von der Klägerin im Streitfall ebenfalls vorgebracht, allerdings im Ergebnis recht allgemein gehalten. So wurde z.B. mitgeteilt, dass die Klägerin eine Zwischenholding im Bereich der ... gewesen und generell im Konzern verschiedene Sparten und Bereiche in eigenen Gesellschaften getrennt organisiert worden seien. Eine weitere Aufklärung konnte diesbezüglich unterbleiben, da ein anderer Gesichtspunkt ausschlaggebend dafür ist, dass nach Auffassung des erkennenden Senats im Ergebnis keine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliegt, die einzig und allein zur ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde.

Entscheidend ist, dass das Gericht, worauf in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde, nicht erkennen kann, dass die Konstruktion allein zur ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde.

Unabhängig davon, ob bei der Anwendung von § 50d Abs. 3 EStG im Zusammenhang mit § 32 Abs. 5 KStG ein abkommensrechtlicher Vorteil Beachtung fände, ist ein solcher vorliegend nicht feststellbar. Denn die Regelungen im mit den Niederlanden abgeschlossenen DBA sind vergleichbar mit denjenigen im DBA Russland. In beiden DBA ist im Fall von Streubesitzdividenden eine Quellensteuerreduzierung im Quellenstaat Deutschland i.H.v. 15 % (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 c) DBA Niederlande und Art. 10 Abs. 1 b) DBA Russland) und eine (begrenzte) Anrechnung im Ansässigkeitsstaat (Art. 22 Abs. 2 c) DBA Niederlande und Art. 23 Abs. 1 DBA Russland) vorgesehen. Dass durch ihre „Zwischenschaltung“ kein abkommensrechtlicher Vorteil entstanden ist, hat die Klägerin auch von Anfang an betont.

Eine ungerechtfertigte Nutzung eines Steuervorteils ist auch mit der Erstattungsregelung in § 32 Abs. 5 KStG nicht begründbar. Die Klägerin als Kapitalgesellschaft mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung in den Niederlanden erfüllt zwar, anders als die K, die persönlichen Voraussetzungen des § 32 Abs. 5 KStG. Zum Zeitpunkt der Gründung der Klägerin am ... 2008 und des Beteiligungserwerbs an der V AG am ... 2009 bzw. der Reduzierung der Beteiligungshöhe auf weniger als 10 % am ... 2010 war indes weder die Erstattungsmöglichkeit für Streubesitzdividenden in § 32 Abs. 5 KStG gesetzlich installiert, noch war das EuGH-Urteil im Verfahren C-284/09 ergangen, das Ausgangspunkt für die Normierung von § 32 Abs. 5 KStG war. Dieses Urteil datiert auf den 20. Oktober 2011. Die „Einschaltung“ der Klägerin kann mithin nicht auf die Nutzung eines steuerlichen Vorteils gerichtet gewesen sein, den es zumindest gesetzlich manifestiert noch gar nicht gab. Dass es gebietsfremden Gesellschaften bereits vor der gesetzlichen Normierung unbenommen war, insbesondere unter Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV Anträge auf Kapitalertragsteuererstattung zu stellen, ist zu risikobehaftet, als dass diese Möglichkeit im Rahmen von § 50d Abs. 3 EStG maßgeblich Bedeutung erlangen könnte, zumal der BFH erst im Januar 2012 über die Zuständigkeit solcher Anträge entschieden hat (vgl. BFH-Urteil vom 11. Januar 2012, I R 25/10, IStR 2012, 340).

Diesen der Klägerin gelungenen Gegenbeweis vermag der Beklagte auch nicht mit seinem Vorbringen zu entkräften, dass es sich bei der Klägerin um eine sog. Durchleitungsgesellschaft entsprechend der EuGH Rechtsprechung handele. Diese Rechtsprechung des EuGH, die insbesondere in der Entscheidung vom 26. Februar 2019 deutlich wird, beurteilt die Einordnung als sog. Durchleitungsgesellschaft ohne wirtschaftliche Rechtfertigung als ein wesentliches Indiz für eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion (vgl. EuGH-Urteil vom 26. Februar 2019, C-116/16, C-117/16, T Danmark Y Denmark Aps, IStR 2019, 266; vgl auch BFH-Beschluss vom 9. Juni 2021, I B 60/20, IStR 2021, 762 mit Anm. Uterhark/Nagler).

Anders als z.B. in der Sachverhaltskonstellation, die der Entscheidung des erkennenden Senats vom 16. Februar 2022 (2 K 1483/19, EFG 2022, 1607) zu Grunde lag und bei der eine passive Verwaltungstätigkeit mit Durchleitungsfunktion feststellbar war, ergibt sich aus den von der Klägerin vorgelegten Bilanzen, dass nicht lediglich finanzielle Mittel durch die Klägerin hindurchgeleitet wurden. Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass hohe Verbindlichkeiten der Klägerin gegenüber anderen Konzerngesellschaften bestanden. Gleichermaßen waren jedoch erhebliche Forderungen der Klägerin im Konzernverbund feststellbar sowie eine umfangreiche Investitionstätigkeit z.B. durch den Erwerb der Beteiligung an der KM NV von der N im Jahr 2012 zu einem Kaufpreis i.H.v. ca. ... €. Auch eine Weiterleitung der vorliegend in Rede stehenden Dividenden kurz nach deren Bezug durch die Klägerin an ihre Muttergesellschaft, die K, ist – nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin – nicht erfolgt. Dieser Umstand ist indes für den EuGH ein bedeutsames Merkmal einer künstlichen Konstruktion, in der im Konzern zwischen die Gesellschaft, die die Dividenden zahlt, und die Einheit, die Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, eine Durchleitungseinheit geschaltet wird (vgl. EuGH-Urteil vom 26. Februar 2019, C-116/16 und C-117/16, T Danmark Y Denmark Aps, IStR 2019, 266).

Der Klägerin ist mithin der sich aus der geltungserhaltenden Reduktion von § 50d Abs. 3 EStG 2007 folgende Gegenbeweis gelungen.

e) Da die entsprechende Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 im Rahmen der Günstigerprüfung nicht zu einem Ausschluss des Erstattungsanspruchs führt, ist eine Prüfung von § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG nicht mehr erforderlich (vgl. die Anwendungsregelung in § 52 Abs. 47b EStG i. d. F. des AbzStEntModG).

4. Infolge des Eingreifens des gesetzlich in § 32 Abs. 5 KStG geregelten Erstattungsanspruchs zu Gunsten der Klägerin kann dahinstehen, ob die Klägerin auch mit ihrem im Hinblick auf Art. 63 AEUV auf § 50d Abs. 1 EStG analog gestützten Antrag Erfolg gehabt hätte. Dieser Antrag, den die Klägerin mit Schreiben vom 14. Dezember 2012 erstmals gegenüber dem Finanzamt P geltend gemacht hat, wurde infolge des Zuständigkeitswechsels zwischenzeitlich vom Beklagten – in einem gesonderten Verfahren – registriert. Nicht zu entscheiden ist daher, ob dieser Anspruch überhaupt isoliert in einem gesonderten Verfahren betrachtet werden kann oder nicht auch in einem auf § 32 Abs. 5 KStG gestützten Verfahren berücksichtigt werden müsste, sollten die Voraussetzungen von § 32 Abs. 5 KStG nicht gegeben sein. Dahinstehen kann daher auch die Frage, ob bei einem Anspruch gemäß § 50d Abs. 1 EStG analog auch § 50d Abs. 3 EStG analog zu beachten wäre. Das FG Nürnberg hat die Anwendbarkeit von § 50d Abs. 3 EStG analog in einem solchen Fall mit stichhaltigen Gründen verneint (vgl. FG Nürnberg, Urteil vom 12. April 2018, 6 K 1390/16, EFG 2019, 1095)

II. Hinsichtlich des Zinsanspruchs ist die Klage überwiegend begründet.

Der Erstattungsbetrag ist ab dem 5. November 2013 i.H.v. 6 % p.a. zu verzinsen. Dies ergibt sich bei Berücksichtigung der bereits durch den erkennenden Senat getroffenen Entscheidungen, dass ein zu Unrecht nach § 50d Abs. 3 EStG versagter Kapitalertragsteuererstattungsanspruch zu verzinsen ist (vgl. FG Köln, Urteile vom 30. Juni 2020, 2 K 140/18, EFG 2021, 117 und vom 17. November 2021, 2 K 1544/20, EFG 2022 349, Revision anhängig unter dem Az. I R 50/21; vgl. auch FG Köln, Urteil vom 20. April 2023, 2 K 2018/19, nrkr.).

1. Nach der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich im Fall von Steuerbeträgen, die unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben worden sind, ein Anspruch auf Erstattung der erhobenen Beträge zuzüglich Zinsen unmittelbar aus dem Unionsrecht (vgl. EuGH-Urteil vom 18. April 2013, C-565/11, Irimie, HFR 2013, 659; s.a. EuGH-Urteil vom 27. September 2012, C-234/10, Jülich, HFR 2012, 1210; vgl. BFH-Urteil vom 22. September 2015, VII R 32/14, BStBl. II 2016, 323).

So ist nach der Rechtsprechung des EuGH eine nationale Regelung unionsrechtswidrig, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf jene Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind. Eine derartige nationale Regelung dürfe im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundsatzes der Effektivität nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Steuer erlitten habe, vorenthalten werde. Die Einbußen hingen u.a. davon ab, wie lange der unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu Unrecht gezahlte Betrag nicht zur Verfügung gestanden habe und entstünden somit grundsätzlich im Zeitraum vom Tag der zu Unrecht geleisteten Zahlung der fraglichen Steuer bis zum Tag ihrer Erstattung (vgl. EuGH-Urteil vom 18. April 2013, C-565/11, Irimie, HFR 2013, 659). Der EuGH hat somit grundsätzlich entschieden, dass Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene Steuern für den Zeitraum, in dem die Mittel nicht zur Verfügung stehen, zuzusprechen sind (bestätigt durch EuGH-Urteil vom 24. Oktober 2013, C-431/12, Rafinăria Steaua Română, HFR 2013, 1163).

Für den Bereich der Energiesteuerentlastung hat der BFH entschieden, dass der Behörde bei der Prüfung von Anträgen auf Entlastung eine angemessene Bearbeitungszeit zuzubilligen ist (vgl. BFH-Urteil vom 22. Oktober 2019, VII R 24/18, BFHE 267, 90). Er berief sich hierzu auf die Rechtsprechung des EuGH zum Mehrwertsteuerüberschuss und bemaß die Frist in Ermangelung ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen in Anlehnung an die Art. 19 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG, wonach einer Behörde insgesamt vier Monate und zehn Arbeitstage zur Verfügung stünden, um einen Erstattungsantrag zu bearbeiten und den Erstattungsbetrag auszuzahlen. Der BFH hat in seiner Entscheidung ausdrücklich auf das Urteil des EuGH in der Sache Irimie Bezug genommen und den von ihm entschiedenen Fall dahingehend abgegrenzt, dass es bei der Energiesteuervergütung nicht um eine unionsrechtswidrige Erhebung einer Abgabe gegangen sei, sondern um eine unionsrechtswidrige Nichtgewährung einer obligatorischen Steuerbefreiung.

Die Abgabenordnung sieht im Zusammenhang mit Erstattungsansprüchen indes lediglich einen Anspruch auf Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit gemäß § 236 AO vor; Ausnahmen hiervon sind in § 233a AO abschließend normiert und im Streitfall nicht einschlägig.

2. Angesichts dessen steht der Klägerin ein Anspruch auf Verzinsung zu. Die einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer wurde zunächst zu Unrecht nicht erstattet. Die zunächst nicht vorgenommene Erstattung basierte (u.a.) auf der Anwendung der Regelung des § 32 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 KStG i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG 2007. Diese Norm ist mit der in Art. 63 AEUV geregelten Kapitalverkehrsfreiheit nicht in Einklang zu bringen und verstößt damit gegen EU-Recht, so dass der Klägerin die Erstattung der Kapitalertragsteuer in unionsrechtswidriger Weise zeitweise vorenthalten wurde.

In Ermangelung einer nationalen Normierung der Verzinsungsmodalitäten ist auf die allgemein gültigen Verzinsungsgrundsätze zurückzugreifen. Hiernach beträgt der Zinssatz für jeden Monat 0,5 Prozent (vgl. § 238 Abs. 1 AO).

Im Hinblick auf den Beginn des Zeitraumes der Verzinsung ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung gemäß § 32 Abs. 5 KStG abzustellen, wobei dem Beklagten vor dem Beginn der Verzinsung ein angemessener Prüfungszeitraum hinsichtlich des Erstattungsantrages zuzubilligen ist.

Im Streitfall hat die Klägerin mit Eingang am 25. Juni 2013 eine Erstattung gemäß § 32 Abs. 5 KStG beantragt, nachdem von den Kapitalerträgen im Jahr 2011 zunächst entsprechend des gesetzlich vorgesehenen Steuerabzugsverfahrens die Kapitalertragsteuer einbehalten und abgeführt wurde und erst im Nachgang im anschließenden Erstattungsverfahren wieder auszukehren ist. Für diesen Fall, in dem der Steuerabzug zu Recht erfolgt und erst die Erstattung zu Unrecht zeitweise vorenthalten wurde, sind die Grundsätze des BFH aus seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2019 heranzuziehen, wonach dem Beklagten ab dem Erstattungsantrag zunächst eine angemessene Bearbeitungszeit zuzugestehen ist und vor diesem Hintergrund der Zinslauf erst mit Ablauf der Bearbeitungszeit beginnt. Im Hinblick auf die Angemessenheit der Bearbeitungszeit teilt das Gericht wie bereits in der Entscheidung vom 17. November 2021 (2 K 1544/20, EFG 2022, 349, Az. des Revisionsverfahrens I R 50/21) die Auffassung des BFH, wonach in Ermangelung ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen in Anlehnung an die Art. 19 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG dem Beklagten insgesamt vier Monate und zehn Arbeitstage zur Bearbeitung des Erstattungsantrages zur Verfügung stehen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.

IV. Die Revision zum Bundesfinanzhof war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache sowohl im Hinblick auf den Erstattungsanspruch als auch den Zinsanspruch, hinsichtlich des Zinsanspruchs auch angesichts des bereits unter I R 50/21 anhängigen Revisionsverfahrens, zuzulassen.

V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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