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RdZ-News
26.10.2023
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OLG Stuttgart: Anscheinsbeweis für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Zahlers bei unberechtigter Nutzung einer Kreditkarte und einer Girocard

OLG Stuttgart, Urteil vom 8.2.2023 – 9 U 200/22

ECLI:DE:OLGSTUT:2023:0208.9U200.22.00

Volltext des Urteils: RdZL2023-209-1

Leitsätze

1. An dem von der Rechtsprechung entwickelten Anscheinsbeweis für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Zahlers, wenn eine ec-Karte zeitnah nach dem Diebstahl unter Eingabe der richtigen PIN verwendet wird, ist auch nach Einführung der Beweisregeln in § 675 w S. 3 BGB festzuhalten.

2. Die Regeln über den Anscheinsbeweis sind unanwendbar, wenn der Schaden durch zwei verschiedene Ursachen herbeigeführt worden sein kann, die beide typische Geschehensabläufe sind, für die der Karteninhaber aber nur in einem Fall die Haftung zu übernehmen hätte.

Das kommt in Betracht, wenn ein enges zeitliches Aufeinanderfolgen von Entwenden der Karte und dem ersten nicht autorisierten Zahlungsvorgang besteht und deswegen in Betracht zu ziehen ist, dass der Dieb zuvor die persönliche Geheimzahl des Karteninhabers bei einem Zahlungs- oder Abhebevorgang ausgespäht hat. (hier bejaht)

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Erstattung des Gesamtbetrages der zu Lasten ihres bei der Beklagten geführten Girokontos im Zeitraum vom 11.12.2020 (10.40 h) bis 14.12.2020 (10.51 h) erfolgten Buchungen i.H.v. 18.545,74 EUR. Diesen Buchungen liegen verschiedene Verfügungen zugrunde, die eine unbekannte Person mit einer von der Beklagten für das Konto ausgegebenen ec-Karte und einer Kreditkarte unter Verwendung der (für beide Karten identischen) korrekten persönlichen Geheimzahl vornahm. Die Klägerin autorisierte diese Verfügungen nicht. Sie nutzte die ec-Karte zuletzt am 11.12.2020 gegen 10.30 h zum Bezahlen im L.-Markt in H. Am 15.12.2020 erstattete die Klägerin, nachdem sie von der Beklagten auf die Verfügungen aufmerksam gemacht worden war, Strafanzeige wegen Diebstahls und Betruges (Anlagen K 5 und K 6) und ließ die Karten sperren.

Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts wird auf die tatbestandlichen Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dem Anspruch der Klägerin aus § 675u S. 2 BGB könne die Beklagte einen Anspruch in gleicher Höhe entgegenhalten, weil die Beklagte gemäß § 675v Abs. 3 Nr. 2 BGB den durch die missbräuchliche Verwendung der Karten entstandenen Schaden zu ersetzen habe. Es spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Klägerin grob fahrlässig die Pflicht zur Geheimhaltung der PIN verletzt habe, in dem sie diese auf den Karten oder zusammen mit ihnen verwahrt habe. Denn durch die unbekannte Person seien die Originalkarten mit der richtigen PIN eingesetzt worden. Zu erschüttern habe die Klägerin den Anscheinsbeweis nicht vermocht. Die Klägerin habe für beide Karten immer dieselbe PIN verwendet. Das spreche dafür, dass sie befürchtet habe, die Zahlenkombination zu vergessen und sie sich deshalb nahe oder mit der Karte notiert habe. Wenig überzeugend sei, dass eine unbekannte Person unbemerkt den Geldbeutel aus der Jackentasche entwendet habe. Denn das Öffnen des Reißverschlusses einer Jackentasche werde gemeinhin bemerkt. Im Übrigen habe die Klägerin vorgetragen, nach ihrer Ansicht sei das Ausspähen der PIN im L.-Markt und nicht anderswo erfolgt. Dort aber sei ein Ausspähen „nahezu ausgeschlossen“, weil das Tasteneingabefeld durch seitliche Abdeckungen geschützt werde und die Klägerin zusätzlich die linke Hand über das Feld gehalten habe. Das werde durch den Vermerk des Polizeibeamten T. bestätigt. Schließlich sei nicht nachvollziehbar bzw. höchst unwahrscheinlich, dass die PIN über eine Plexiglasscheibe gespiegelt worden sei oder dass die unbekannte Person die PIN-Eingabe gefilmt oder fotografiert haben könnte. Hinzu komme, dass nur die ec-Karte beim Einkauf verwendet worden sei und der Täter, hätte er tatsächlich die PIN-Eingabe beobachtet, nicht habe wissen können, dass die PIN für die Kreditkarte dieselbe war.

Gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 07.06.2022 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer am 01.07.2022 bei Gericht eingegangenen und innerhalb verlängerter Frist mit am 07.09.2022 eingegangenem Schriftsatz begründeten Berufung, mit der sie ihr Klagebegehren vollumfänglich weiterverfolgt.

Die Klägerin trägt vor und ist der Ansicht, dem Anspruch der Klägerin aus § 675u S. 2 BGB stehe ein Schadenersatzanspruch der Beklagten nicht entgegen. Das Landgericht habe die Anforderungen an die Erschütterung des Anscheinsbeweises überspannt. Eine volle Aufklärung des unsicheren anderweitigen Geschehensablaufs sei gerade nicht verlangt. Die Klägerin habe sehr wohl die Möglichkeit eines Ausspähens der PIN bei dem Einkauf im L.-Markt dargelegt. Auch das Landgericht selbst habe an einer Stelle der Entscheidungsgründe ein Ausspähen immerhin als „durchaus denkbar“ bezeichnet. Dass es - wie das Landgericht dann wohl im Ergebnis meint - quasi unmöglich sei, werde schon durch die Lebenserfahrung widerlegt. Der Klägerin sei es in einem Selbstversuch nach der Tat gelungen, eine andere Person beim Eintippen der PIN zu beobachten und die PIN auszuspähen. Das Landgericht hätte daher hierzu den angebotenen Sachverständigenbeweis erheben müssen.

Weiters beanstandet die Klägerin die Würdigung durch das Landgericht. So sei der Gedanke, die Klägerin habe dieselbe PIN für beide Karten verwendet, weil sie befürchtet habe, eine PIN zu vergessen, und dies spreche dafür, sie habe sich sicherheitshalber die PIN notiert, falsch. Die Beklagte biete schließlich die Möglichkeit an, die PIN zu ändern - in eine leicht zu merkende Ziffernfolge. Diese brauche man dann gerade nicht mehr zu notieren, weil man sie eben kennt. Nicht zu überzeugen vermöge auch die Mutmaßung, dass man ein Öffnen des Reißverschlusses durch einen Trickdieb stets zu bemerken pflege. Und überdies berufe sich das Gericht zu Unrecht auf Feststellungen des Polizeibeamten T. Dieser habe die Örtlichkeit nämlich nie in Augenschein genommen.

Die Klägerin beantragt,

1. Das Urteil des Landgericht Stuttgart vom 05.05.2022 (Aktenzeichen: 25 O 22/22) wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 18.448,31 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 16.12.2020 zu bezahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.100,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil als richtig. Dazu wiederholt und vertieft sie ihr erstinstanzliches Vorbringen. Insbesondere bringt sie vor, ein Ausspähen der Geheimzahl durch Dritte sei vom Landgericht zutreffend als ausgeschlossen angesehen worden, gerade weil die Klägerin bei der PIN-Eingabe die eine Hand über das Tastenfeld gehalten habe. Denn der die Strafanzeige aufnehmende Polizeibeamte habe vermerkt, ein Ausspähen sei nahezu unmöglich gewesen. Im Übrigen sei es zutreffend, dass die Öffnung eines Reißverschlusses an der Jacke durch einen Taschendieb in der Regel bemerkt werde. An diese Feststellungen sei der Senat gebunden (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Aus den Gründen

II. Die nach § 511 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht (§§ 517, 519 ZPO) eingelegte und gemäß § 520 ZPO mit einer Begründung versehene Berufung ist begründet. Sie führt, weil die Klage begründet ist, zur Abänderung des landgerichtlichen Urteils und antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten.

1. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch aus § 675u S. 2 BGB auf Zahlung von 18.545,74 EUR zu (a.), dem die Beklagte ihrerseits einen Gegenanspruch nach § 675v Abs. 3 BGB nicht mit Erfolg entgegenhalten kann (b.). Der Klägerin stehen weiters Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe (c.) sowie ein Anspruch auf Ersatz ihrer vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.100,51 EUR nebst Prozesszinsen (d.). zu.

a. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 675u S. 2 BGB (aa.). Dieser richtet sich im Streitfall wie von der Klägerin verlangt auf die Zahlung des Betrages der nicht autorisierten Zahlungsvorgänge (bb.).

aa. Nach § 675u S. 1 BGB hat im Fall eines nicht autorisierten Zahlungsvorgangs der Zahlungsdienstleister des Zahlers gegen diesen keinen Anspruch auf Erstattung seiner Aufwendungen. Er ist verpflichtet, dem Zahler den Zahlungsbetrag unverzüglich zu erstatten und, sofern der Betrag einem Zahlungskonto belastet worden ist, dieses Zahlungskonto wieder auf den Stand zu bringen, auf dem es sich ohne die Belastung durch den nicht autorisierten Zahlungsvorgang befunden hätte. Was die Autorisierung anbelangt, ist in § 675j BGB bestimmt, dass die Zustimmung entweder als Einwilligung oder, sofern zwischen dem Zahler und seinem Zahlungsdienstleister zuvor vereinbart, als Genehmigung erteilt werden kann. Auf die Autorisierung als Willenserklärung sind die allgemeinen Regeln der Rechtsgeschäftslehre anzuwenden. Sie muss vom Berechtigten abgegeben werden, wenngleich Stellvertretung auf beiden Seiten und jeder Ebene des mehrstufigen Zahlungsvorgangs zulässig ist, auch wenn die Autorisierung über einen Zahlungsauslösedienstleister oder sonstigen Dritten erfolgt (vgl. Keßler, in: Ebenroth/Boujong/Joost/Stroh, HGB, 4. Aufl. 2020, § 675j BGB Rn. 3).

Nach diesen Grundsätzen liegt im Streitfall bezüglich der verschiedenen, sich insgesamt auf insgesamt 18.545,74 EUR belaufenden Verfügungen mit der ec-Karte und der Kreditkarte, die zu entsprechenden Belastungsbuchungen auf dem Girokonto der Klägerin geführt haben, eine Autorisierung nicht vor. Denn die Verfügungen wurden allesamt - was die Beklagte nicht in Abrede stellt - von einer unbekannten Person vorgenommen, die die Karten unberechtigterweise an sich genommen hatte.

bb. Die Klägerin kann Zahlung verlangen. Der Anspruch ist nicht, wie die Beklagte meint, zwingend auf Korrektur der Belastungsbuchungen gerichtet. Richtig ist zwar, dass nach § 675u S. 2 BGB der Zahlungsdienstleister, wenn - wie hier - der Betrag einem Zahlungskonto belastet worden ist, dieses Zahlungskonto wieder auf den Stand zu bringen, auf dem es sich ohne die Belastung durch den nicht autorisierten Zahlungsvorgang befunden hätte (und zwar zinsneutral, vgl. BeckOGK-BGB/Zimmermann, Stand 01.01.2023, § 675u BGB Rn. 25). Das schließt einen Zahlungsanspruch jedoch nicht aus. Ein solcher besteht zum einen, wenn zwischenzeitlich das betreffende Konto nicht mehr existiert (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 11.05.2017 - 1 U 224/15, BKR 2017, 526 Rn. 14; Herresthal, in: Langenbucher/Bliesene/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 675u BGB Rn. 14 m.w.N.). Zum anderen kann der Zahler nach seiner Wahl auch die Auszahlung nach allgemeinen Grundsätzen auf Basis der Kontoabrede begehren, wenn im Zeitpunkt des Auszahlungsverlangens auf dem Konto ein Habensaldo oder eine nicht ausgeschöpfte Kreditlinie bestehen (allg.A., vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 11.05.2017 - 1 U 224/15, BKR 2017, 526 Rn. 14; OLG Celle, Beschluss vom 17.11.2020 - 3 U 122/20, BeckRS 2020, 33608 Rn. 17; MüKo-BGB/´Zetzsche, 9. Aufl. 2023, § 675u BGB Rn. 23; jurisPK-BGB/Schwintowski, 9. Aufl. 2020 Stand 08.09.2022, § 675u BGB Rn. 15.1; Herresthal, in: Langenbucher/Bliesene/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 675u BGB Rn. 14; BeckOGK-BGB/Zimmermann, Stand 01.01.2023, § 675u BGB Rn. 2). So liegt es hier. Die Klägerin hat im Termin vor dem Senat unbestritten ausgeführt, dass das Konto immer im Haben geführt wird.

b. Der Beklagten steht kein Anspruch aus § 675v Abs. 3 BGB auf Schadenersatz in dem klägerischen Anspruch entsprechender Höhe zu, den sie diesem entgegenhalten könnte.

21 Richtig ist, dass der Zahlungsdienstleister nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) einem Erstattungsverlangen des Zahlers einen ihm zustehenden Schadenersatzanspruch aus § 675v BGB entgegensetzen und folglich die Erfüllung des Anspruchs aus § 675u S. 2 BGB verweigern kann (vgl. dazu BGH, Urteil vom 17.11.2020 – XI ZR 294/19, Rn. 25, juris = BGHZ 227, 343). Im Streitfall sind die Voraussetzungen dieses Schadenersatzanspruchs entgegen der Annahme des Landgerichts allerdings nicht erfüllt. Ein grob fahrlässiger Verstoß der Klägerin gegen die Sorgfaltspflichten im Umgang mit der ec-Karte oder der Kreditkarte ist nicht festzustellen.

Nach § 675v Abs. 3 Nr. 2 BGB ist der Zahler seinem Zahlungsdienstleister zum Ersatz des gesamten Schadens verpflichtet, der infolge eines nicht autorisierten Zahlungsvorgangs entstanden ist, wenn der Zahler den Schaden herbeigeführt hat durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung einer oder mehrerer Pflichten gemäß § 675l Abs. 1 oder einer oder mehrerer vereinbarter Bedingungen für die Ausgabe und Nutzung des Zahlungsinstruments. Ein zum Schadenersatz verpflichtender grob fahrlässiger Verstoß gegen die Vertragsbedingungen mag zwar regelmäßig in einem Aufbewahren der Karte zusammen mit der dazugehörigen PIN oder dem Notieren der PIN auf der Karte liegen (aa.). Ein solches, hier von der Beklagten behauptetes Verhalten kann der Klägerin jedoch nicht nachgewiesen werden (bb.).

aa. Im Streitfall die Parteien die Pflichten für die Geheimhaltung der PIN ausdrücklich geregelt. So wurde in den „Sonderbedingungen für die girocard“ (Anlage K 1) in Ziff. 7.3 bestimmt:

Der Karteninhaber hat dafür Sorge zu tragen, dass keine andere Person Kenntnis von der persönlichen Geheimzahl (PIN) erlangt. Die PIN darf insbesondere nicht auf der Karte vermerkt, bei einer digitalen Karte nicht in dem gleichen Endgerät gespeichert werden, das zur Nutzung der digitalen Karte verwendet wird, oder in anderer Weise zusammen mit dieser aufbewahrt werden.

Und in den „Vertragsbedingungen für Mastercard und Visa Karten“ (Anlage K 2) heißt es unter Ziff. 6.3.:

Der Karteninhaber hat dafür Sorge zu tragen, dass kein Anderer Kenntnis von seiner PIN erhält Diese darf insbesondere nicht auf der Karte vermerkt, bei einer digitalen Karte nicht in demselben mobilen Endgerät 'gespeichert werden, das zur Nutzung der digitalen Karte verwendet wird, oder in anderer Weise (z. B. nicht als getarnte Telefonnummer) zusammen mit der Karte oder deren Daten aufbewahrt werden. [...] Die PIN darf nur verdeckt an Kartenzahlungsterminals oder Geldautomaten eingegeben werden. [...]

Richtig ist, dass das Tatbestandsmerkmal grober Fahrlässigkeit einen in objektiver Hinsicht schweren und in subjektiver Hinsicht schlechthin unentschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der konkret erforderlichen Sorgfalt erfordert (s. BGH, Urteil vom 26.01.2016 – XI ZR 91/14, Rn. 71, juris), also nicht jeden objektiven Pflichtenverstoß genügen lässt. Richtig ist aber auch, dass die in den vorstehenden Vertragsbedingungen im Einzelnen geregelte besondere Geheimhaltung der PIN und deren von der Karte getrennte Aufbewahrung zu den Kardinalpflichten des Karteninhabers gehört. Wer die persönliche Geheimzahl auf Karte vermerkt oder zusammen mit der Karte verwahrt, beseitigt den mit der PIN verbundenen Sicherungsmechanismus und ermöglicht jeder Person, der ec-Karte und PIN in die Hände fallen ohne weiteres deren Missbrauch. Solches Verhalten ist deswegen als grob fahrlässig zu qualifizieren (vgl. BGH, Urteil vom 05.10.2004 - XI ZR 210/03, NJW 2004, 3623, 3624; Urteil vom 17.10.2000 - XI ZR 42/00, NJW 2001, 286, 287).

bb. Es ist nicht festzustellen, dass die Klägerin ihre vorgenannten vertraglichen Pflichten missachtet hat. Die Behauptung der Beklagten, die Klägerin habe die für beide Karten identische PIN auf zumindest einer der Karten notiert oder einen Zettel, auf dem die PIN vermerkt war, im Geldbeutel neben den Karten verwahrt, ist nicht zur Überzeugung (§ 286 ZPO) des Senats nachgewiesen. Ein zugunsten der Beklagten sprechender Anscheinsbeweis greift entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht ein.

(1) Allerdings ist in der Rechtsprechung mehrfach ein Beweis des ersten Anscheins angenommen worden, wenn bei Abhebungen mit einer Zahlungskarte an einem Automaten die Originalkarte und PIN verwendet wurden, und zwar dahingehend, dass - was hier nach dem unstreitigen Vortrag der Parteien ausscheidet - die Zahlung entweder vom berechtigten Karteninhaber selbst vorgenommen wurde oder dass er, wenn die Karte - wie hier - von einem Dritten unberechtigt genutzt wurde, diesem pflichtwidrig eine Kenntniserlangung von der PIN ermöglicht hat, insbesondere durch eine grob fahrlässig erfolgende gemeinsame Aufbewahrung der Karte mit einer Notiz der PIN (siehe grundlegend BGH, Urteil vom 05.10.2004 - XI ZR 210/03, Rn. 24 ff. = BGHZ 160, 308; Urteil vom 14.11.2006 – XI ZR 294/05, Rn. 31, juris = BGHZ 170, 18; Beschluss vom 06.07.2010 – XI ZR 224/09, Rn. 10, juris; Urteil vom 29.11.2011 – XI ZR 370/10, Rn. 16, juris; Brandenburgisches OLG, Urteil vom 07.03.2007 - 13 U 69/06, Rn. 33, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 30.01.2008 - 23 U 38/05, Rn. 29, juris; OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2008 - 17 U 170/07, Rn. 17, juris). Grundlage dieses Anscheinsbeweises ist der anerkannte technische Befund, dass es Unbefugten praktisch nicht möglich ist, die Sicherheitsvorkehrungen im Bereich der Kartenzahlvorgänge mit PIN unter Einsatz der Originalkarte zu überwinden (so BGH, Urteil vom 05.10.2004 - XI ZR 210/03, Rn. 28 ff., juris = BGHZ 160, 308; Hanseat. OLG Bremen, Beschluss vom 19.04.2021 - 1 W 4/21, Rn. 13, juris).

An diesen Grundsätzen hat sich durch die Beweisregeln in § 675 w S. 3 BGB, mit dem Art. 59 II RL 2007/64/EG über Zahlungsdienste im Binnenmarkt (ZahlungsdiensteRL) umgesetzt worden ist, nichts geändert. Soweit dort bestimmt ist, dass die Aufzeichnung der Nutzung des Zahlungsinstruments einschließlich der Authentifizierung durch den Zahlungsdienstleister allein nicht notwendigerweise ausreichen soll, um nachzuweisen, dass der Zahler den Zahlungsvorgang autorisiert (bzw. nach den Nr. 2 bis 4 pflichtwidrig gehandelt) hat, wird diesen zusätzlichen Nachweisanforderungen durch die Konstruktion des Anscheinsbeweises Genüge getan. Indem der Anscheinsbeweis weder eine zwingende Beweisregel noch eine Beweislastumkehr beinhaltet, bleibt vielmehr eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls möglich (BGH, Urteil vom 26.01.2016 - XI ZR 91/14, Rn. 20 ff., juris = BGHZ 208, 331; OLG Bremen, Beschluss vom 19.04.2021 - 1 W 4/21, Rn. 13, juris).

(2) Das Landgericht hat allerdings verkannt, dass die Heranziehung auch des vorgenannten Anscheinsbeweises nur bei typischen Geschehensabläufen anwendbar ist, d.h. in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist. Das ist nicht immer schon dann gleichsam automatisch der Fall, wenn ein Unberechtigter eine Originalkarte und die richtige Geheimzahl verwendet.

Die Regeln über den Anscheinsbeweis sind vielmehr unanwendbar, wenn der Schaden durch zwei verschiedene Ursachen herbeigeführt worden sein kann, die beide typische Geschehensabläufe sind, für die der Karteninhaber aber nur in einem Fall die Haftung zu übernehmen hätte. Das ist etwa der Fall, wenn als weiterer typischer Geschehensablauf in Betracht zu ziehen wäre, dass die Eingabe der zutreffenden PIN durch den Dieb der Karte dadurch ermöglicht wurde, dass dieser zuvor die persönliche Geheimzahl des Karteninhabers ausgespäht hat, als dieser sie bei Abhebungen an Geldausgabeautomaten oder beim Einsatz der Karte an einem POS-Terminal zur Zahlung eines Geldbetrages eingab (BGH, Urteil vom 05.10.2004 - XI ZR 210/03, Rn. 31 = BGHZ 160, 308; zustimmend OLG Frankfurt, Urteil vom 30.01.2008 - 23 U 38/05, Rn. 29, juris). Wenn und soweit demnach ein Anscheinsbeweis nicht anzunehmen ist, stellt sich die - im Streitfall vom Landgericht allein geprüfte - Erschütterung der Vermutung bereits nicht.

So liegt es hier. Die Klägerin hat nicht nur ein Ausspähen der PIN als theoretische Möglichkeit in den Raum gestellt, was für die Bejahung eines anderweitigen typischen Geschehensablaufs nicht genügen würde. Sie hat im Gegenteil unbestritten dargelegt, dass sie lediglich rund zehn Minuten vor der ersten nicht autorisierten Verfügung (einer Geldabhebung an einem nur rund einen Kilometer entfernten Automaten) am POS-Terminal im Lebensmittelmarkt ihre Einkäufe bezahlte. Dabei hat die Beklagte zwar bestritten, dass ein hochgewachsener Mensch an der Kasse hinter der Klägerin gestanden habe, welcher die Eingabetastatur hätte sehen können. Darauf aber kommt es nicht entscheidend an. Es ist weder behauptet noch sonst ersichtlich, dass die Klägerin allein an der Kasse war. Schon von daher ist ein Ablauf möglich, bei dem eine der umstehenden Personen die Eingabe der Geheimzahl beobachtete. Und weil die Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs genügt, ist es anders als die Beklagte meint nicht an der Klägerin, die von ihr nur teilweise wahrgenommenen Einzelheiten, wie mutmaßlich der oder die Täter vorgegangen sind, darzulegen oder gar zu beweisen. Der von der Klägerin geschilderte Ablauf mitsamt des Diebstahls von Geldbeutel und Karte ist an sich unstreitig. Die Klägerin hat später Strafanzeige erstattet. Zwischen der letzten autorisierten Verwendung der Karte und der ersten nicht autorisierten Verwendung lagen gerade einmal zehn Minuten. Bereits hieraus ergibt sich, dass das Ausspähen der Geheimzahl am POS-Terminal nicht allein theoretischer Natur ist. Für die Möglichkeit dieses alternativen Geschehensablaufs spricht gerade das enge zeitliche Aufeinanderfolgen von Entwenden des Geldbeutels mit den darin befindlichen Karten und dem ersten nicht autorisierten Zahlungsvorgang. Auch der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 05.10.2004 - XI ZR 210/03, Rn. 31 = BGHZ 160, 308) hat ausgeführt, dass ein Ausspähen der PIN gerade dann in Betracht zu ziehen ist, wenn die Karte in einem „näheren zeitlichen Zusammenhang“ mit der Eingabe der PIN durch den Karteninhaber entwendet worden ist. Denn durch Ausspähen erlangt der Täter zunächst nur Kenntnis von der PIN, gelangt aber nicht in den Besitz der Karte. Da er den Karteninhaber regelmäßig nicht persönlich kennt, muss er die Karte alsbald nach dem Ausspähen der PIN entwenden.

Ohne Erfolg wendet die Beklagte ein, dass ein Ausspähen in der von der Klägerin geschilderten Konstellation unmöglich sei. Richtig ist, dass die Klägerin - wie es die Bedingungen der Beklagten vorsehen - die eine Hand bei der PIN-Eingabe über das Gerät hielt. Dass dies ein Ausspähen sicher ausschließen würde, bleibt eine bloße Vermutung, die die Beklagte nicht zu beweisen vermag. Der Senat kann sich, was er im Termin erörtert hat, aufgrund der Fotografie des Kassenbereichs (Anlage K 7) ein hinreichendes Bild von der Örtlichkeit verschaffen, die der Situation entspricht, wie sie in vielen, den Senatsmitgliedern bekannten, L.-Einkaufsmärkten und anderen Supermärkten anzutreffen ist. Einer Inaugenscheinnahme vor Ort bedurfte es deswegen nicht. Sie hätte keine weiteren Erkenntnisse gebracht. Das gilt auch für die Einholung des beklagtenseits beantragten Sachverständigengutachtens zur angeblichen Unmöglichkeit des Ausspähens der PIN-Eingabe. Ein Sachverständiger - welcher Fachrichtung auch immer - könnte nichts anderes machen als zu versuchen, mit verschiedenen Personen eine Kassensituation nachzustellen. Weil die tatsächlich stattgefundene Situation, bei der es nach Darlegung der Klägerin zum Ausspähen der PIN-Eingabe kam, aber streitig ist, hinge eine Begutachtung gleichsam in der Luft. Es ist weder bekannt, wo der oder die Täter tatsächlich standen, noch ob und welche technischen Mittel (Kamera o.ä.) sie verwendeten. Die Abwesenheit technischer Mittel ist nicht nachgewiesen. Dass es keine denkbare Position von Klägerin und Tatbeteiligten geben könnte, bei der mit oder ohne technische Hilfsmittel im entscheidenden Moment ein Blick auf die Tastatur oder auch nur die Fingerbewegungen, die einen Rückschluss auf die eingegebenen Ziffern ermöglichten gibt, schließt der Senat, wie er im Termin bereits erläutert hat, aus eigener Sachkenntnis aus. Das Abdecken mit einer Hand macht schon deswegen nicht jeglichen Blick auf das Tastaturfeld unmöglich, weil dann die Klägerin selbst die Ziffern nicht eingeben könnte. Folglich kann jedenfalls eine unauffällig hinter der Klägerin stehende Person mit einem ähnlichen Blickwinkel auch Handbewegung und/oder Tastaturfeld beobachten. Einer Einvernahme des mit der Bearbeitung der Strafanzeige befassten Polizeibeamten, den die Beklagte ohnehin nicht als Zeugen benannt hat, bedurfte es nicht. Er hat keine für die hier interessierenden Feststellungen nützlichen Beobachtungen gemacht. Er war weder zur Tatzeit noch danach vor Ort. Der Hinweis in einem Vermerk (Anlage K 8), es bestehe zwar durchaus die Möglichkeit, dass mit einem Schulterblick die PIN ausgespäht worden ist, dass dies vorliegend aber aufgrund der Stellung des POS-Terminals „fast gänzlich ausgeschlossen“ sei, ist ebenso eine unbelegte Vermutung wie die Behauptung, es seien technische Hilfsmittel nicht zum Einsatz gekommen, da dies von den Mitarbeitenden des Marktes bemerkt und zum Herbeirufen der Polizei geführt hätte. Es ist, wie der Senat im Termin erörtert hat, offenkundig gerade nicht anzunehmen, dass jeder Trickdiebstahl bemerkt zu werden pflegt.

cc. Schon keine Pflichtverletzung begründet es, dass die Beklagte für beide Karten dieselbe PIN verwendete. Diese Vorgehensweise ist weder vertraglich aufgrund der für die Karten geltenden Bedingungen untersagt, noch ist sie aus sich heraus (grob) sorgfaltswidrig. Im Gegenteil bietet die Beklagte es als Service für ihre Kunden an, eine automatisch vergebene PIN abzuändern. Dies gerade deswegen, damit der Karteninhaber sich selbst eine ihm leicht eingängige Zahlenkombination wählen kann. Die Beklagte geht damit selbst im Falle dass sie einer Person zwei Karten ausgibt, das damit verbundene leicht erhöhte Missbrauchsrisiko ein, dass für diese Karten dieselbe PIN gewählt wird und eine unbefugte Person, die die PIN für eine der Karten ausspäht, diese auch bei der anderen Karte erfolgreich „ausprobiert“. Dieses Risiko ist aber nicht wesentlich höher als das grundsätzlich durch die Möglichkeit der freien PIN-Wahl eröffnete. Schließlich lässt sich eine solche auch sonst leichter abgreifen oder erraten, etwa wenn der Karteninhaber als leicht eingängig eine Zahlenkombination wählt, die er auch an anderer Stelle - und sei es beim Zahlenschloss an seinem Fahrrad - verwendet.

36 dd. Die Beklagte hat ebenso wenig einen (als solchen schon nicht geltend gemachten) Anspruch auf Zahlung eines Schadenersatzes in Höhe von (höchstens) 50 EUR aus § 675v Abs. 1 BGB. Die Klägerin hat, was nicht in Streit steht, erst aufgrund einer Mitteilung der Beklagten den Diebstahl von Geldbeutel samt Karten bemerkt (§ 675v Abs. 2 Nr. 1 BGB). Dass sie bis dahin einen Verdacht hegen musste, der u.U. zu weiteren Nachforschungen Anlass gegeben hätte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

c. Die Klägerin hat Anspruch auf Zinsen aus §§ 280 Abs. 1 und 3, 286 Abs. 1 S. 1, 288 Abs. 1 BGB. Die Beklagte geriet nicht erst mit Ablauf der in dem Anwaltsschreiben vom 26.01.2021 auf den 03.02.2021 gesetzten Zahlungsfrist, also ab 04.02.2021 in Verzug. Vielmehr trat Verzug gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 2 BGB ab dem 16.12.2020 ein. Denn die Beklagte hatte spätestens einen Tag nach der Schadensmeldung vom 14.12.2020 die Erstattung zu leisten (§ 675u S. 3 BGB).

d. Die Beklagte hat der Klägerin die verzugsbedingten vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten gemäß §§ 280 Abs. 1 und 3, 286 BGB zu erstatten. Deren Höhe beläuft sich, ausgerichtet an einem Gegenstandswert von bis 19.000 EUR und auf Grundlage der vor der RVG-Anpassung zum 01.011.2021 geltenden Gebühren (1,3 Gebühr zzgl. Auslagenpauschale von 20,00 EUR und zzgl MWSt.), auf 1.100,51 EUR. Auf diesen Betrag schuldet die Beklagte gemäß § 291 BGB Prozesszinsen in gesetzlicher Höhe (§ 288 Abs. 1 S. 2 BGB).

2. Der Ausspruch zu den Kosten folgt aus § 91 ZPO, derjenige zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 712 ZPO.

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