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BB 2024, I
Vanetta/Vogt 

BGH-Leitentscheidungsverfahren: Gut gemeint, schlecht umgesetzt?

Abbildung 1

Abbildung 2

Es ist keine wesentliche Effizienzsteigerung zu erwarten, da der Weg zur Leitentscheidung weiterhin lang und die Aussetzungsmöglichkeiten im Instanzenzug unzureichend bleiben.

Ende Oktober 2024 ist das Gesetz zur “Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof” in Kraft getreten (BGBl. I 2024, Nr. 328). Ziel des Vorhabens ist es, in Massenverfahren den Weg zur höchstrichterlichen Klärung zu beschleunigen. Hierzu wird dem BGH als Revisionsinstanz die Möglichkeit eröffnet, aus mehreren anhängigen Revisionsverfahren ein geeignetes Verfahren als Leitentscheidungsverfahren auszuwählen. Wesentliche Neuerung ist dabei, dass der BGH auch in dem Fall, in dem dieses Verfahren nicht durch Revisionsurteil beendet wird, sondern etwa durch Revisionsrücknahme, seine Entscheidung im Wege eines Beschlusses kundtun darf. Dieser soll als Richtschnur und Orientierung dienen und somit eine effizientere Behandlung der instanzgerichtlichen Verfahren gewährleisten. Die Instanzgerichte dürfen die Verfahren während eines anhängigen Leitentscheidungsverfahren grundsätzlich zunächst aussetzen. Mit Beschluss vom 31.10.2024 hat der BGH bereits am Tag des Inkrafttretens der Gesetzesänderung erstmals ein Leitentscheidungsverfahren bestimmt (VI ZR 10/24).

Das Leitentscheidungsverfahren soll laut Gesetzesbegründung – unter anderem neben den Verbandsklagen des VDuG – ein “Baustein für eine effiziente Erledigung von Massenverfahren” sein. Dieser Anspruch des Gesetzgebers an das Leitentscheidungsverfahren verdient vollen Zuspruch. Die zahllosen Individualverfahren zu ähnlich gelagerten Sachverhalten und Rechtsfragen sind nicht nur ressourcen- und zeitintensiv für Justiz und Parteien, sondern bringen auch eine unübersichtliche Vielzahl divergierender instanzgerichtlicher Einzelentscheidungen und damit erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich. Dass Rechtsschutzversicherer bis zur zeitintensiven höchstrichterlichen Klärung grundsätzlich zur Deckung verpflichtet bleiben, wirkt dabei wie ein zusätzlicher Katalysator für Individualklagen.

Anspruch und Realität dürften allerdings auseinandergehen, denn das Gesetzesvorhaben greift in der praktischen Umsetzung an mehreren Stellen erheblich zu kurz.

Eine wirkungsvolle Verfahrensbeschleunigung ist aus mehreren Gründen nicht zu erwarten. Zunächst müssen die Verfahren wie bisher den gesamten Instanzenzug durchlaufen, ehe die Rechtsfragen höchstrichterlich entschieden werden können. Bei einem Senat des BGH muss sich sodann erst eine gewisse Anzahl ähnlicher Verfahren ansammeln, bis er eine ausreichende Grundlage für die Wahl eines Leitentscheidungsverfahrens hat. Die Parteien können dabei nach wie vor zum show stopper werden. Zum einen darf der BGH frühestens einen Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung oder nach Eingang der Revisionserwiderung ein Leitentscheidungsverfahren bestimmen. Wird in der Zwischenzeit die Revision zurückgenommen, scheidet das betreffende Verfahren aus. Zum anderen ist davon auszugehen, dass sich prozesstaktische Erwägungen zur Vermeidung eines nachteiligen Revisionsurteils – oder nunmehr eines Beschlusses – zunehmend in die Berufungsinstanz verlagern.

Die durch den Rechtsausschuss ausgeweitete Aussetzungsmöglichkeit durch die Instanzgerichte während eines anhängigen Leitentscheidungsverfahrens ist im Sinne der Rechtssicherheit zwar zu begrüßen, schöpft aber ihr Potential nicht aus. Während die Aussetzung im Regierungsentwurf noch an die Zustimmung beider Parteien gebunden war, liegt diese nunmehr grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Möglich bleibt jedoch der Widerspruch einer Partei bei Vorliegen eines gewichtigen Grundes, wofür der Rechtsausschuss exemplarisch die drohende Insolvenz oder das Alter einer der Parteien anführt. An diesen Beispielen offenbart sich ein weiteres Mal die einseitig kläger- bzw. verbraucherorientierte Sicht des Gesetzgebers, was im Hinblick auf die Maxime der prozessualen Waffengleichheit der Parteien überrascht. Der Widerspruchsgrund wird sich insbesondere für Unternehmen in der Praxis erst herausbilden müssen. Da der Aussetzungsbeschluss mit der sofortigen Beschwerde angreifbar ist, sind entsprechende Nebenkriegsschauplätze bei den Instanzgerichten absehbar, die wiederum reversible Rechtsfragen produzieren. Die grundsätzliche Beschränkung der Aussetzung auf ein Jahr durch den Verweis auf § 149 Abs. 2 ZPO beraubt die Aussetzungsmöglichkeit weiter ihrer Wirkung.

Die Einschätzung des Gesetzgebers, die Instanzgerichte könnten die Verfahren nach einer erlassenen Leitentscheidung zügig entscheiden, ist zudem eher optimistisch. Eine höchstrichterliche Klärung streitentscheidender Rechtsfragen wirkt aufgrund der faktischen Präzedenzwirkung zwar beschleunigend. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass die Übertragung einer zu einem anderen Sachverhalt ergangenen Leitentscheidung die sorgfältige und einzelfallabhängige Prüfung der Instanzgerichte erfordert, ob sich diese Rechtsfragen in dem eigenen Verfahren tatsächlich in demselben Gewand stellen. Langwierige Sachverhaltsaufklärung und Beweisaufnahme werden ohnehin nicht entbehrlich.

Es ist daher zu erwarten, dass der Effizienzgewinn durch das Leitentscheidungsverfahren deutlich hinter den Erwartungen bleiben wird. Ein ähnlich wie beim EuGH ausgestaltetes Vorlageverfahren, bei dem der BGH ohne vorherige Ausschöpfung des Instanzenzugs entscheidungserhebliche Rechtsfragen klären könnte, würde der gesetzgeberischen Intention der Entlastung der Justiz besser Rechnung tragen.

Sara Vanetta, RAin, Partnerin bei White & Case LLP in Berlin. Sie ist auf dem Gebiet der Streitbeilegung tätig und vertritt seit vielen Jahren Mandanten verschiedener Industrien in Massenverfahren. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt auf dem Versicherungsrecht und auf technologischen Haftungsfragen.

Janna Vogt, RAin bei White & Case LLP in Berlin in der Praxisgruppe Commercial Litigation. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrungen im Bereich Dispute Resolution und berät und vertritt Mandanten in komplexen Rechtsstreitigkeiten mit einem besonderen Schwerpunkt auf Massenverfahren.

 
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