Der EuGH und die Arbeitszeiterfassung – eine sonnenklare Entscheidung?
Der Tenor der EuGH-Entscheidung trieb bereits vielerorts Tränen in die Augen – hier der Freude, dort der Trauer.
Gebetsmühlenartig weist der EuGH wieder und wieder darauf hin, dass es um das Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten ankomme, der Arbeitnehmer “in den Genuss der Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit sowie der in dieser Richtlinie vorgesehenen täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten zu kommen” habe.
Im entschiedenen Fall ging es darum, dass Arbeitszeiten selbst überhaupt nicht erfasst wurden, und es keinerlei Aufzeichnungen gab – außer “netto-Mehrarbeitsstunden”. So konnte freilich weder überprüft werden, ob Höchstarbeitszeiten noch ob Mindestruhezeiten eingehalten wurden. Nur die Verpflichtung, lediglich die geleisteten Überstunden zu erfassen, bietet nach Auffassung des EuGH kein wirksames Mittel zu prüfen, ob die wöchentliche Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeiten eingehalten werden. Dem EuGH ist insoweit durchaus denklogisch beizupflichten.
In Deutschland hingegen besteht gerade hinsichtlich der Durchsetzung der Rechte, Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten einzuhalten, eine gesetzliche Regelung – der (weithin unbekannte, und wo bekannt ungeliebte) § 16 Abs. 2 ArbZG, nach dem der Arbeitgeber verpflichtet ist, die über die tägliche Arbeitszeit von 8 h hinausgehende aufzuzeichnen. Der Gesetzgeber hat dabei von einer Regelung Gebrauch gemacht, wie im entschiedenen (spanischen) Fall gerade nicht: Wenn, so der EuGH deutlich, der Staat mit den erforderlichen Maßnahmen dafür sorge, dass der Arbeitgeber aktuelle Listen über alle betroffenen Arbeitnehmer führt, die Verletzungen von Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten erkennen lassen, muss eine weitergehende Aufzeichnung nicht erfolgen. Das ergibt sich aus Art. 22 GrCH. Mithin ist ein System zu gewährleisten, mit dem sich Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten nachweisen lassen. Es brauchen lediglich “die erforderlichen” Maßnahmen getroffen zu werden, um den Zweck, die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit, die in der Richtlinie festgesetzt sind, zugutekommen zu lassen, zu gewährleisten. Nicht mehr – aber eben auch nicht weniger.
Vor diesem Maßstab erfüllt das ArbZG zwar nur einen Teil der Richtlinie: den Beleg der Einhaltung der Höchstarbeitszeit. Die Lücke: Selbst bei Einhalten der Höchstarbeitszeiten kann die Einhaltung der Mindestruhezeit verletzt werden. Es besteht also Handlungsbedarf.
Das heißt aber auch: Es ist ausreichend, einen weiteren Beleg zu führen – und zwar über die Ruhezeiten.
Heftig wird gestritten, wie groß der Handlungsbedarf ist. Was mich (mit Verlaub, dieser Hinweis darf sein) ärgert: der Missbrauch der EuGH-Entscheidung zur Durchsetzung politischen Willens. Die Entscheidung gibt eben nicht her, dass alle Arbeitszeiten zu erfassen wären. Das mag politisch gewollt oder nicht gewollt sein – dann muss es aber auch so beim Namen genannt werden.
Das Thema Mehrarbeit ist in Deutschland flächendeckend tariflich geregelt, und die Betriebsräte wachen – auch Dank des BetrVG – sorgsam darüber. Hier besteht kein zusätzlicher Handlungsbedarf. Wo Vertrauensarbeitszeit vereinbart ist, wird sorgsam damit umgegangen – zu scharf ist das Schwert, mit dem ein Betriebsrat diesem Instrument den Garaus machen kann.
Bedenken wir aber auch: Der EuGH bekennt sich klar dazu, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs; und Ausnahmen dürfen erfolgen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Das heißt: Etwa Leitende Angestellte oder außer Tarif Beschäftigte könnten von einer Erfassung ausgenommen werden. Und auch Gleitzeitsysteme ohne Arbeitszeiterfassung (gemeinhin “Vertrauensarbeitszeit” genannt) können ausgenommen werden.
Mein Fazit:
Erstens: Ich erwarte Ehrlichkeit. Wer nun die Gelegenheit nutzt, Arbeitszeiterfassung flächendeckend verpflichtend einzuführen, soll nicht unredlicherweise die Entscheidung des EuGH missbrauchen – sondern zu seinem politischen Willen stehen!
Zweitens: Eine gesetzliche Regelung, die wieder einmal Kleinbetriebe ausnimmt und die Last nur den größeren aufbürdet, hielte ich vor dem Lichte der Grundrechtscharta für grob rechtswidrig. Denn gerade die großen Betriebe mit Betriebsrat und Tarifbindung sind im Wesentlichen compliant. Die “Sünder” finden sich tendenziell woanders.
Drittens: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Arbeitszeiterfassung will, muss sich auch dazu bekennen, dass ein Verstoß gegen diese Verpflichtung Folgen hat. Nachhaltige Schlamperei, bewusste Falschangaben, Kündigung – all dies sind Dinge, die in diesem Zusammenhang genannt werden müssen. Das ist die komplette Wahrheit – und die andere Seite der Medaille.
Nota Bene: Auch eine Richtlinie könnte geändert werden. So sehr in Blei gegossen, wie oft Glauben gemacht wird, ist auch diese nicht. Und sie muss geändert werden. Denn mit den Instrumenten aus der industriellen Zeit kann den Bedürfnissen der Beschäftigten wie auch der Arbeitgeber in Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 längst nicht mehr Rechnung getragen werden.
Alexander R. Zumkeller, MBA, RA, Wirtschaftsmediator, ist Präsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler in Unternehmen (www.bvau.de), der branchenübergreifenden, personenbezogenen und bundesweit tätigen Vereinigung für Arbeitsrechtler in Unternehmen. Nach 20 Jahren in Arbeitgeberverbänden, zuletzt als Geschäftsführer tätig, ist er seit 2007 bei ABB und heute dort Head of HR Policies ABB Deutschland, Deputy Global Head of Labour Relations sowie Global Lead CoE Labour Law.