Deutscher Public Corporate Governance-Musterkodex (D-PCGM) – ein neuer Kompass im Gestrüpp von Legitimität und Legalität
In privatwirtschaftlichen Unternehmen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das eigene Handeln nicht nur am Maßstab der Legalität gemessen werden muss, sondern an dem der Legitimität. Die wirtschaftliche Freiheit darf nicht missverstanden werden als Freibrief, sondern ist als Rahmen für ein verantwortungsvolles Wirtschaften zu sehen. Aktuelle Schlagworte sind hier die Abkehr der Shareholderorientierung zugunsten der Stakeholder, die Versuche zur Neudefinition des Begriffs der Wertschaffung oder die intensive Nachhaltigkeits- und Ethikdebatte.
Die Erkenntnis, dass Regeln “guter Unternehmensführung” nicht nur per Gesetz verordnet werden können, sondern gewisser Spielräume bedürfen, wurde um die Jahrtausendwende politisch mit der Einrichtung einer “Regierungskommission Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK)” und ab dem Geschäftsjahr 2002 einer gesetzlichen Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung nach § 161 AktG umgesetzt. Seither wurde der DCGK, der eine Mischung von Gesetzeswiederholung und darüber hinausgehenden Empfehlungen zur Erreichung einer guten Unternehmensführung darstellt, mehrfach überarbeitet (am 23.1.2020 wurde erneut eine deutlich geänderte Fassung beim BMJV zur Bekanntmachung eingereicht), für andere Unternehmensformen adaptiert und auch zaghaft in den weiten Raum der öffentlichen Verwaltung als Anregung für eigene Kodizes primär bei einigen wenigen Gebietskörperschaften für die Festlegung eigenen Verhaltens insbesondere auch im Umgang mit den öffentlichen Unternehmen verwendet. Da aber die gesetzliche Verankerung mit einer zu veröffentlichenden Entsprechenserklärung weiterhin nur für börsennotierte Aktiengesellschaften gilt, ist die Ausstrahlungswirkung in den letzten knapp 20 Jahren blass geblieben.
In dieses (Fast-)Vakuum stößt nun eine hochkarätig und gut ausgewogen besetzte Expertenkommission um Ulf Papenfuß, Klaus-Michael Ahrend und Kristin Wagner-Krechlok vor, die am 7.1.2020 den unter www.pcg-musterkodex abrufbaren Deutschen Public Corporate Governance-Musterkodex veröffentlicht hat. Ausgehend von der Prämisse, “Good Governance” und verantwortungsvolle Organisationsführung bei öffentlichen Verwaltungen und öffentlichen Unternehmen seien für den Staat und die Gesellschaft von besonderer Bedeutung (D-PCGM, Präambel), werden deutlich umfangreicher als im DCGK Grundsätze zur verantwortungsvollen Steuerung, Leitung und Aufsicht von und in öffentlichen Unternehmen, die in Praxis und Wissenschaft als einschlägig eingestuft werden, sowie Hinweise auf gesetzliche Vorschriften und Vorgaben beschrieben. Aufgrund des deutschen Föderalismus kann der D-PCGM nur ein fundiert ausgearbeitetes Unterstützungsangebot für Akteursgruppen bieten, die in Gebietskörperschaften und öffentlichen Unternehmen mit der Etablierung oder der Evaluation eines bereits vorliegenden Public Corporate Governance Kodex betraut sind. Gleichwohl sollte dies nicht zum Cherry-Picking einladen, sondern es müsste lediglich die jeweilige gesetzliche Untermauerung angepasst werden.
Im Vergleich zum DCGK für börsennotierte Unternehmen gibt es im D-PCGM zahlreiche Besonderheiten. So wurde etwa neben der Berücksichtigung zahlreicher Aspekte von demokratischer Legitimation in Governance- und Steuerungsprozessen das Feld “Gesellschafter” mit den politischen Organen und dem Organisationselement Beteiligungsmanagement komplett anders gestaltet. Auch waren in zahlreichen anderen Feldern aufgrund des konstitutiven öffentlichen Zwecks und der Ausrichtung der Unternehmen am öffentlichen Auftrag spezifische situationsgerechte Regelungen erforderlich.
Die Expertenkommission hat zugesagt, den D-PCGM regelmäßig vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Entwicklungen zu überprüfen und ggf. anzupassen, wobei auch die interessierte Öffentlichkeit aufgerufen ist, hier in einen Konsultationsprozess analog zu dem der Regierungskommission DCGK einzutreten.
Es ist dem D-PCGM eine große Verbreitung zu wünschen, wozu politische Legitimierung der Expertenkommission und eine gesetzlich verankerte Entsprechenserklärung (bislang laut D-PCGM, Grundsatz 4, lediglich in Satzungen zu verankern) sicher den größten Beitrag leisten würde. Es bleibt abzuwarten, ob die politischen Akteure, die der Privatwirtschaft gerne immer neue Transparenzpflichten, wie aktuell mit der nichtfinanziellen Berichterstattung und den erweiterten Vergütungsberichten, auferlegen, hier den Mut aufbringen, das für börsennotierte Gesellschaften seit knapp 20 Jahren bewährte System auch auf den öffentlichen Bereich zu übertragen – schließlich sind Bürgerinnen und Bürger nicht nur Stakeholder, sondern letztlich Eigentümer der Gebietskörperschaften und damit indirekt auch der öffentlichen Unternehmen.
Prof. Dr. Stefan Müller ist Inhaber der Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfungswesen, der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und u. a. wissenschaftlicher Leiter des Arbeitskreises Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaftslehre e. V. sowie Fachbeirat der Zeitschrift Corporate Governance.