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BB 2011, 1
Schmidt-Kessel, Martin 

Die Kunst des Möglichen - die Richtlinie über die Rechte der Verbraucher

EU-Verbraucherschutz

Das Europäische Parlament hat am 23.6.2011 die neue Richtlinie über die Rechte der Verbraucher verabschiedet; der Rat wird voraussichtlich Ende Juli folgen. Dass die im Herbst 2008 von der Kommission auf den Weg gebrachte Richtlinie die gesetzgebenden Organe überhaupt passiert hat, hat die Kommission insbesondere dem Parlament und dessen Berichterstattern, vor allem dem deutschen Abgeordneten Andreas Schwab, zu verdanken. Die herkulische Aufgabe, die divergierenden Interessen und Ideen der Parlamentarier und der Mitgliedstaaten in angemessener Form zusammenzubinden und mit den nicht minder vielfältigen Positionen im Rat zusammenzuführen, hat sich nun in einer Richtlinie niedergeschlagen, die in mehrfacher Hinsicht eine neue Ära des Europäischen Verbraucherrechts einleitet.

Gegenüber den ursprünglichen Plänen der Kommission erheblich reduziert hat sich der Umfang der Regelung: Der - technisch desaströse - Vorschlag der Kommission hatte noch die konsolidierende Zusammenführung und Harmonisierung der Richtlinien über Haustürgeschäfte, Fernabsatzverträge (im Allgemeinen), Verbrauchsgüterkäufe und unfaire Vertragsklauseln und deren Ergänzung um eine Reihe zusätzlicher Regelungen vorgesehen - und dabei schon Abstriche gegenüber früheren weitaus größeren Plänen gemacht. Die verabschiedete Richtlinie beschränkt sich nun im Kern auf eine Ersetzung der Richtlinien über Haustürgeschäfte und Fernabsatz. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sowie die AGB-Richtlinie werden lediglich um mitgliedstaatliche Berichtspflichten ergänzt.

Die zentrale Botschaft der Richtlinie liegt im Übergang zur Vollharmonisierung als Regelungsprinzip (Art. 4). Die Mitgliedstaaten dürfen Verbraucher daher nicht stärker schützen als durch die Richtlinie vorgegeben. Damit wird der Paradigmenwechsel im Europäischen Verbrauchervertragsrecht von der Mindestharmonisierung hin zur Vollharmonisierung - nach einer Reihe sektoraler Verwirklichungen - erstmals in einem Horizontalrechtsakt vollzogen. Dieser Paradigmenwechsel ist zu begrüßen: Er entspricht nicht nur der Idee des Binnenmarktes, sondern auch dem primärrechtlichen Normalzustand: Art. 288 Abs. 3 AEUV erhebt die Vollharmonisierung zur Grundregel, von der - was nicht selten, etwa bei der Auslegung der gesellschaftrechtlichen Richtlinien, nur unzureichend berücksichtigt wird - lediglich Art. 153 Abs. 4 AEUV für das Arbeitsrecht eine primärrechtliche Ausnahme vorsieht.

Dieser im besten Sinne europäische Fortschritt der Gesetzgebung hat freilich seinen Preis: Er ist - neben der indiskutablen technischen Qualität des Vorschlags der Kommission - Hauptgrund für den verringerten Anwendungsbereich. Die Beseitigung des bisherigen Schutzes nationaler Zivilrechtssystematiken und -dogmatiken durch die Zauberformel der Mindestharmonisierung hatte im Laufe der Beratungen im Rat vor allem für das Kaufrecht Versuche hervorgerufen, Reservate für bedrohte nationale Arten wie das englische Right to reject und den französischen bref delai zu schaffen. Zugleich hatte sie die überfällige Streichung des für zahlreiche Missverständnisse deutscher Juristen bei der Richtlinienauslegung ursächlichen Verschuldensprinzips bei der Schadensersatzhaftung des Verkäufers für Sachmängel verhindert. Am Ende war die Richtlinie nur durch Herausnahme des Kaufrechts zu retten. Geblieben sind nur punktuelle Regelungen für die verspätete Warenlieferung und den Gefahrübergang.

Die Herausnahme der Klauselkontrolle aus der Richtlinie hat ihre Ursache hingegen in den nicht abschließend geklärten Wirkungen der Vollharmonisierung auf die Konkretisierungsbefugnisse bei Generalklauseln: Die jüngere EuGH-Rechtsprechung zur Lauterkeitsrichtlinie und § 4 UWG deutet ein generelles Verbot legislativer Konkretisierungen unionsrechtlicher Generalklauseln durch die nationalen Gesetzgeber zumindest an. Damit wären auch die Listen nach §§ 308, 309 BGB in Frage gestellt gewesen. Die weitergehende Frage nach den Auswirkungen dieser Rechtsprechungslinie auf unmittelbare oder verfahrensrechtlich eingekleidete Präjudizienbindungen und Registersysteme ist noch völlig offen. Bei gleichzeitig weitgehender Ablehnung einer Inhaltskontrolle durch den EuGH (Entscheidung "Freiburger Kommunalbauten") wäre eine Situation beständiger Rechtsunsicherheit eingetreten, die der Europäische Gesetzgeber mit Recht nicht in Kauf genommen hat.

Andere Fragen hat der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen: Nicht nur die systemischen Folgen des zweiten - und kaum diskutierten - Paradigmenwechsels durch Einführung allgemeiner Informationspflichten unabhängig von einer typisierten Gefährdungslage für den Verbraucher bleiben offen. Die nunmehr vollharmonisierten Regeln der Haustür- und Fernabsatzgeschäfte werden vom EuGH erneut konkretisiert werden müssen. Für die neuen Anzeigepflichten der Mitgliedstaaten nach den neu eingefügten Regelungen in Verbrauchsgüterkauf- und Klauselrichtlinie wird zu klären sein, ob deren Verletzung die Unanwendbarkeit nationaler überschießender Umsetzungen zur Folge hat oder - wohl eher - nicht. Eine Frage schließlich bleibt angesichts der Gewissheit, dass der Detailreichtum der neuen Richtlinie Umsetzungsfehler vieler nationaler Gesetzgeber und damit Rechtsunsicherheit provozieren wird: Warum nicht gleich eine Verordnung?

Prof. Dr. Martin Schmidt-Kessel, geschäftsführender Mitherausgeber von GPR, ist Inhaber des Lehrstuhls für Verbraucherrecht an der Universität Bayreuth. Zuvor war er von 2004 an Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsvergleichung, Europäisches und internationales Privatrecht (2009/10: Privat- und Handelsrecht) im European Legal Studies Institute der Universität Osnabrück; Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften (2007-2009), Prodekan (2009/10).
 
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