Die Uhr tickt – Vorbereitung auf den schlimmsten Brexit-Fall
Im Juni 2016 fand im Vereinigten Königreich (UK) das schicksalhafte Brexit-Referendum statt. Niemand, am wenigsten die, die für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) gekämpft hatten, waren darauf vorbereitet. Und sollte darüber die UK-Regierung oder das Parlament entscheiden? Die höchsten englischen Gerichte haben für Letzteres votiert. Im Sommer 2017 begannen endlich die Austrittsverhandlungen, aber in der Zwischenzeit hatte es Neuwahlen gegeben und seither regiert Theresa May nur noch mithilfe einer nordirischen Splitterpartei. Konservative wie Labour sind über den Brexit heillos zerstritten. Und doch: Im Dezember wurde die erste Stufe der Austrittsverhandlungen einigermaßen erfolgreich abgeschlossen. Und jetzt gibt es sogar einen fertigen Austrittsplan (White Paper) der UK-Regierung und einen neuen unverbrauchten UK-Brexit-Minister.
O. k., wenige Tage nach dem ersten gibt es bereits ein zweites White Paper und der neue Brexit-Minister ist jetzt schon eine “lame duck”, da die Premierministerin von jetzt an selbst die Austrittsverhandlungen führen will. Ach ja, die EU ist von den Inhalten des White Paper nicht begeistert und, ob es im Parlament von Westminster eine Mehrheit für irgendein Austrittsabkommen geben wird, steht in den Sternen. Und das gilt ebenso für die Antwort auf die Frage, ob es dem UK überhaupt gelingt, auf der Basis der White Paper-Vorschläge rechtzeitig ein Austrittsabkommen mit der EU, einschließlich eines grundsätzlichen gemeinsamen Verständnisses, wie ein künftiges Freihandelsabkommen aussehen könnte, auszuhandeln. Die Zeit dafür jedenfalls wird täglich knapper. Sollte das nicht bzw. nicht mehr gelingen, wäre ein “Hard Brexit”, ggf. auch mit chaotischen Zuständen während der ersten Zeit danach, ein realistisches Szenario.
Also wer auch immer heute etwas vorhersagen will, braucht schon eine verdammt gute Kristallkugel.
Das dämmert jetzt selbst der UK-Regierung und, quasi als “vertrauensbildende Maßnahme”, beginnt sie damit, Vorräte für den Notfall anlegen zu lassen und die Bevölkerung zu warnen. Selbst die EU-Kommission warnte am 19.7.2018 öffentlich die Behörden und Unternehmen in der EU, sich besser auf das Schlimmste vorzubereiten.
Zweckoptimistisch erklärt die Kommission aber fast zeitgleich, dass bis Oktober 2018 ein Austrittsabkommen (das zu 80 % ja schon ausgehandelt sei – was freilich nicht für ein damit zusammenhängendes künftiges Freihandelsabkommen gilt, weil das erst danach ausgehandelt werden könne), und damit dann verbunden eine 21-monatige Übergangszeit, noch möglich sei. Aber das sei nicht sicher und jeder müsse sich jetzt eben für alle möglichen Szenarien rüsten, insbesondere auch für einen Austritt ohne Austrittsabkommen, d. h. den harten Brexit. Dann gäbe es weder für EU- noch für UK-Bürger Sicherheit bezüglich ihres Aufenthaltsstatus bzw. ihre Visapflicht, Grenzkontrollen würden eingeführt und (z. T. hohe) Zölle fällig werden, Erlaubnisse würden entfallen, in einem extremen Szenario könnte der Luftverkehr zum Erliegen kommen und, und, und. Ungewöhnlicher starker Tobak aus der Feder der Kommission.
Jedem Unternehmen in der EU/dem EWR (aber auch im UK) kann derzeit daher nur – jetzt mehr denn je – geraten werden: “Hope for the best, but prepare for the worst.” Wer sich daran nicht hält, ist am Ende selbst schuld.
Aber was bedeutet das eigentlich, dass sich die (EU und damit auch die deutschen) Unternehmen auf das Schlimmste vorbereiten sollen? Ganz Unterschiedliches, abhängig davon, in welchem Sektor der Wirtschaft ein Unternehmen tätig ist. Beispielsweise:
Wer Waren ins UK exportiert oder von dort importiert, eventuell auch im Rahmen von Vertriebsketten, muss künftig mit Zöllen, d. h. mit Kostensteigerungen rechnen. Und mit viel komplexeren Prozessen. Beim Handel von Waren mit Drittstaaten ist zudem immer zu prüfen, ob die betreffenden Produkte, auch ohne UK-Komponenten betrachtet, noch EU-Produkte i. S. d. Ursprungsregeln sind.
Bei zahlreichen Produkten werden zudem mögliche Handelsbeschränkungen und Verbote zu beachten sein, z. B. solche zum Gesundheits- oder Umweltschutz, etwa wenn es um Tiere, tierische Produkte, Pflanzen, Pflanzenprodukte, bestimmte Verpackungen, radioaktives Material, Abfall, Chemikalien, Medikamente usw. geht.
In vielen Bereichen gibt es Zertifikate, Lizenzen oder Erlaubnisse auf Produkt- oder Unternehmensebene, bei Waren z. B. im Automobilsektor oder bei Medizinprodukten, und insbesondere bei Dienstleistungen wie im Transportwesen, bestimmten Medien oder ganz besonders im Finanzsektor. Daran, solche im UK einzuholen, sollte rechtzeitig gedacht und entsprechend gehandelt werden.
Auch die Übertragung von Daten wird vielleicht nicht mehr so frei laufen wie bisher, da das UK nach dem Brexit Drittstaat sein wird. Sollte es zu keiner Äquivalenz-Entscheidung der EU-Kommission zugunsten des UK kommen, könnte der Transfer persönlicher Daten beschränkt werden.
EU-Unternehmen mit Niederlassungen, Tochterunternehmen oder sonst Mitarbeitern im UK müssen sich auf die Beschränkung der Personenverkehrsfreiheit, bis hin zu einer möglichen Visa-Pflicht, und auf andere mögliche Arbeitsmarktbeschränkungen einstellen.
Und vieles mehr . . .
Nicht umsonst wird dieses “Hard-Brexit”- im UK auch “Cliff Edge”-Szenario genannt: Man schaut in einen Abgrund. Die Uhr vor dem Sturz in diesen Abgrund tickt, aber immerhin tickt sie noch.
Peter Scherer, LL.M. (I.U.), ist Rechtsanwalt und Partner bei GSK Stockmann in Frankfurt am Main. Seine Tätigkeitsschwerpunkte bilden das Bank- und Kapitalmarktrecht, insbesondere das Finanzaufsichtsrecht.