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Digitalisierung und mehr Bürgernähe im Gerichtswesen

Abbildung 1

Notwendige und ambitionierte Digitalisierungspläne des Gesetzgebers – Euphorie ist aber nicht angebracht.

Die Digitalisierung macht auch vor der Zivilgerichtsbarkeit nicht Halt und nimmt mit dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) vom 11.6.2024 zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit sowie dem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses zur Videokonferenztechnik (BT-Drs. 20/11770) vom 12.6.2024 sowie der Billigung des Bundesrats am 14.6.2024 konkrete Züge an. Flankiert wird diese Effizienzoffensive durch den Regierungsentwurf der Bundesregierung vom 5.6.2024 zur Anhebung der Zuständigkeitsstreitwerte für die Amtsgerichte und die Spezialisierung der Justiz in Zivilsachen.

Die Vorteile der Reformpläne liegen auf der Hand. Die Justiz soll einen digitalen Wandel vollziehen und bürgernäher werden. Euphorie ist aber nicht angebracht. Digitale Risiken, Fragen nach der Umsetzbarkeit und die langfristigen Auswirkungen lassen Kritik berechtigt erscheinen. Das erkennt auch der Gesetzgeber und plant eine Erprobungsphase von zunächst zehn Jahren. Ein Ausblick:

Das BMJ plant die Erprobung reiner Online-Verfahren auf Ebene der Amtsgerichte. Dieses in den Worten des BMJ “Reallabor der Justiz” soll ermöglichen, Zivilprozesse digital abzuwickeln, von der Klageerhebung über die Beweisaufnahme bis hin zur Urteilsverkündung. Das BMJ verspricht ein barrierefreies, nutzerfreundliches und bundeseinheitliches Online-Verfahren. Dabei soll verstärkt digitale Kommunikationstechnik zum Einsatz kommen, insbesondere durch eine Ausweitung von Videoverhandlungen und durch Erleichterungen im Beweisverfahren. In “geeigneten” Fällen soll das Amtsgericht auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.

Die Erprobung soll mittels einer Länderöffnungsklausel erfolgen, auf deren Grundlage die Länder durch Rechtsverordnung Zeitpunkt und Umfang ihrer Teilnahme selbst festlegen. Technische und organisatorische Vorgaben sind, abgesehen von einem bundeseinheitlichen Eingabesystem, nicht vorgesehen. Die aus der Erprobung gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sollen unter Beteiligung der Länder und unter Beachtung technischer Entwicklungen in den Folgejahren evaluiert werden.

Die Pläne sind ambitioniert. Was von dem Vorhaben letztlich umgesetzt werden wird, bleibt abzuwarten. Kritische Stimmen und Einschnitte im Verlauf des Gesetzgebungsvorhabens werden nicht ausbleiben. Entscheidend wird insbesondere sein, wie die Reformpläne mit der wachsenden Bedrohung von Cyberattacken in Einklang zu bringen sind und ein hohes Datenschutzniveau gewährleisten. Unter ähnlichen Gesichtspunkten skeptisch gesehen wurde die Einführung des elektronischen Anwaltspostdaches (beA). Die Startphase war begleitet von technischen Problemen und Sicherheitsbedenken. Klar ist aber auch: Die Anstrengungen haben sich gelohnt, der elektronische Rechtsverkehr ist in seiner heutigen Ausprägung trotz des nach wie vor bestehenden Optimierungsbedarfs nicht mehr wegzudenken. Den aktuellen Reformvorhaben wäre zu wünschen, dass die Rechtsanwender in zehn Jahren an dieser Stelle ähnlich urteilen.

Kritisch zu sehen sind die mit den Reformvorhaben einhergehenden Einschränkungen des Öffentlichkeits-, Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatzes. Diese Verfahrensgrundsätze sind für einen Rechtsstaat konstitutiv und nur mit äußerster Zurückhaltung unter Effizienzgesichtspunkten aufzuweichen. Zurückhaltung ist auch bei der Zulassung vollvirtueller Videoverhandlungen geboten, wie sie das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten erleichtern möchte. Eine vollvirtuelle Videoverhandlung, also eine Videoverhandlung, an der alle Mitglieder des Gerichts an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung teilnehmen und der Vorsitzende die Videoverhandlung von einem anderen Ort als der Gerichtsstelle aus leitet, führt zu einer Neuinterpretation des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und schafft Distanz zwischen den Verfahrensbeteiligten, den Mitgliedern des Gerichts und zum Ort der Rechtsfindung. Kritisch ist auch die avisierte Anordnungsbefugnis des Gerichts zu sehen. Eine mündliche Verhandlung oder eine Beweisaufnahme sind keine alltäglichen Vorgänge, vor allem nicht für die Parteien und Zeugen, und daher vor Verwässerung zu bewahren.

Zu begrüßen sind die Reformpläne der Bundesregierung, den Zuständigkeitsstreitwert der Amtsgerichte auf 8 000,00 Euro anzuheben und neue streitwertunabhängige Zuständigkeiten für Amts- und Landgerichte zu schaffen. Das Vorhaben entlastet die Landgerichte und stärkt die Bedeutung der Amtsgerichte als Eingangsinstanz. Berücksichtigt man, dass die Zuständigkeitsstreitwertbestimmung auf 5 000,00 Euro durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001 mehr als 20 Jahre zurückliegt (damals Umstellung von 10 000,00 DM auf 5 000,00 Euro), darf der Schritt, wie es das BMJ zu Recht betont, unter dem Gesichtspunkt der Geldwertentwicklung auch als überfällig bezeichnet werden.

Unter Effizienzgesichtspunkten ein Zugewinn ist auch die mit dem Gesetzesvorhaben geplante streitwertunabhängige Zuweisung bestimmter Sachgebiete an die Amts- oder Landgerichte. So sollen beispielsweise nachbarrechtliche Streitigkeiten den Amtsgerichten zugewiesen werden, Vergaberechts- und Veröffentlichungsstreitigkeiten und Streitigkeiten aus Heilbehandlungen den Landgerichten. Insbesondere die Konzentration von Veröffentlichungsstreitigkeiten bei den Landgerichten – hierunter fallen vor allem Streitigkeiten aus der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts über das Internet oder in sozialen Netzwerken – trägt der zunehmenden und regelmäßig überregionalen Bedeutung dieser Vorgänge Rechnung.

Dr. Konstantin Thress, RA, Partner im Münchner Büro der ZIRNGIBL Rechtsanwälte Partnerschaft mbB. Er berät zu den Themen Industrie 4.0 und Digitalisierung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Schutz und der Durchsetzung von Geschäftsgeheimnissen, kartellrechtlichen Fragestellungen und Vertriebsrecht.

 
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