Entwicklung der Kapitalmärkte – Aufgaben für das neue Europaparlament
Das Europaparlament muss die Banken- und Kapitalmarktunion gleichzeitig vertiefen und regulatorisch entschlacken.
Seit der Veröffentlichung des Grünbuchs zur Schaffung einer Kapitalmarktunion im Jahr 2015 steht die Integration der europäischen Kapitalmärkte weit oben auf der Agenda der Kommission. Und es sind durchaus Fortschritte gemacht worden. Zu nennen wären etwa die Verbriefungsverordnung (2017) einschließlich der Regulierung synthetischer Verbriefungen (2021), die Regulierung zu gedeckten Schuldverschreibungen (2018) oder die Einführung eines KMU-Wachstumsprospekts (2017) zur Erleichterung des Börsenzugangs von KMU. Und als jüngstes Beispiel ist der Listing Act zu nennen (vgl. dazu auch Kaserer, BB 25/2023, Die Erste Seite), zu welchem es im Februar dieses Jahres eine Verständigung zwischen Rat und Parlament gab.
Nun kann man über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen trefflich streiten. Beispielsweise muss man im Bereich der Verbriefungsmärkte feststellen, dass in Europa über die letzten zehn Jahre die Emissionsvolumina stagnierten. Zwar ist die Verbriefungsverordnung erst 2019 in Kraft getreten, weshalb es noch zu früh ist, ein Urteil über diese Maßnahmen abzugeben. Dennoch muss es uns angesichts der zentralen Rolle, die Verbriefungen bei der Verzahnung mittelständischer Kreditfinanzierung mit den Kapitalmärkten spielen, besorgen, dass dieser Markt so wenig Dynamik aufweist.
Auch hinsichtlich des KMU-Wachstumsprospekts muss man nach heutigem Kenntnisstand festhalten, dass er zwar durchaus genutzt wird und zu einer Vereinfachung von Emissionsprospekten geführt hat. Gleichzeitig finden sich aber keine belastbaren Hinweise für eine Zunahme der Emissionsaktivität von KMU in Europa.
Daher verwundert es auch nicht, dass der Abstand zu Ländern wie den USA, Großbritannien oder Japan nach wie vor enorm ist. Gemittelt über die letzten zehn Jahre lag die Börsenkapitalisierung in Deutschland bei knapp über 50 % des Bruttoinlandsprodukts, in den USA war sie mehr als drei Mal so hoch. Und entgegen einer weit verbreiteten Meinung wird das Bild nicht besser, wenn man den ganzen Finanzmarkt betrachtet, also Fremdkapitalinstrumente, die von Banken ausgereicht oder am Kapitalmarkt emittiert werden, miteinschließt. Es bleibt bei dem Ergebnis, dass unsere Kapitalmärkte im internationalen Vergleich hinterherhinken. Dies ist angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen, ein bedenklicher Befund.
Daher sollte das neue Europaparlament drei Aspekte in den Vordergrund stellen:
Erstens gibt es keinen Dissens darüber, dass die wichtigste Ursache für die fehlende Größe unserer Kapitalmärkte in unserem umlagefinanzierten Altersvorsorgesystem liegt. Einige kontinentaleuropäische Länder haben neben der umlagefinanzierten Rente ein verpflichtendes kapitalgedecktes System. Bemerkenswerterweise sind es genau diese Länder, die über deutlich dynamischere Kapitalmärkte verfügen (z. B. Niederlande, Schweden, Schweiz). Trotz kaum vorhandener Gesetzgebungskompetenz von Kommission und Parlament sind hier dringend Initiativen auch auf EU-Ebene gefordert.
Zweitens ist es frappierend zu sehen, dass sich zehn Jahre nach der Einführung der Bankenunion kaum Institute mit echten europäischen Geschäftsmodellen etabliert haben. Der Bankenmarkt bleibt weiterhin entlang der nationalen Grenzen fragmentiert, obwohl Binnenmarkt und Bankenunion genau diese Grenzen hätten aufheben sollen. Es würde hier zu weit führen, die Gründe für diesen Zustand zu benennen. Jedenfalls hat die Kommission dieses Thema lange Zeit nicht mehr angefasst. Der jüngste Vorstoß zur europäischen Einlagensicherung kann möglicherweise als ein neuer Anlauf verstanden werden. Er setzt aber meines Erachtens am falschen Ende an: Solange Bankenmärkte ein derart hohes Maß an Fragmentierung entlang nationaler Grenzen aufweisen, wird eine europaweite Einlagensicherung nicht als das begriffen, was sie sein sollte, nämlich ein Versicherungsmodell, das die Resilienz des europäischen Bankensektors erhöht. Insoweit müssen Kommission und Parlament in der nächsten Legislaturperiode ein sehr viel stärkeres Augenmerk auf die Reduzierung der Zersplitterung des Bankensektors legen.
Drittens blicken wir auf zwei Legislaturperioden zurück, in denen der europäische Gesetzgeber die Finanzmarktregulierung umfassend reformiert hat. Eine große Zahl neuer Richtlinien und Verordnungen mit Finanzmarktbezug wurde erlassen. Noch auf der Schlussgeraden der aktuellen Legislaturperiode werden die sog. Basel-IV-Reformen in europäisches Recht umgesetzt. Und die Komplexität dieser neuen Regulierung wurde durch über 500 Empfehlungen und technische Standards, die von der European Banking Authority und der ESMA erlassen wurden, weiter erhöht. Gleichzeitig hat man allen Lippenbekenntnissen zum Trotz kaum etwas für eine stärkere Differenzierung der Aufsicht nach Größe und systemischem Risiko der Institute getan. Vor diesem Hintergrund sollte die nächste Legislaturperiode eine dringend notwendige Konsolidierung dieses Regulierungsaufwuchses im Blick haben. Welche Maßnahmen haben sich als wirksam und erfolgreich erwiesen und welche nicht? Auf welche dieser Maßnahmen kann man verzichten, ohne dass die Integrität und Stabilität der europäischen Finanzmärkte ernsthaft gefährdet wird? Es spricht vieles dafür, dass eine solche Konsolidierung und Verschlankung die Wettbewerbsfähigkeit unserer Finanzmärkte wieder steigern würde. Und dies käme auch der Realwirtschaft zugute.
Prof. Dr. Christoph Kaserer ist Inhaber des Lehrstuhls für Finanzmanagement und Kapitalmärkte an der Technischen Universität München. Seit 2016 ist er in verschiedenen Gremien der European Securities and Markets Authority (ESMA) tätig.