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BB 2018, I
Reimer 

Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung: Garant von Wahrung und Innovation des Rechts

Abbildung 1

Durch Kaiserliches Gesetz vom 26.7.1918 ist der Reichsfinanzhof gegründet worden. Zu seinem Erbe bekennt sich der Bundesfinanzhof bis heute. Reichs- und Bundesfinanzhof setzen im Bundesstaat fort, was bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte: die unabhängige richterliche Kontrolle der Steuer- und Zollbehörden im Reich und in den Bundesstaaten, im Bund und in den Ländern.

Das Gerichtsjubiläum, das sich in diesem Heft widerspiegelt, hat die heutigen Mitglieder des BFH ebenso wie Vertreter von Steuergesetzgebung, Finanzverwaltungen, Steuerrechtswissenschaft und Beratungspraxis zu einer Bestandsaufnahme veranlasst, die dieser Tage als monumentale zweibändige Festschrift erscheint (Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland: Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018). Gerichtsjubiläen sind stets Anlass zu kritischer Rückschau. Sie werden aber auch selbst zu Wegmarken, wenn sie konstruktiv offenlegen, wo Stärken und Schwächen des jeweiligen Gerichts liegen.

Zentraler Maßstab dafür ist das Recht selbst. Gerichte dienen dem Recht. Sie bringen Steuergesetzgebung und Verfassung zur Sprache. Sie korrigieren Fehler der Verwaltung unabhängig und unablässig. Wie wenig selbstverständlich die Unabhängigkeit der Gerichte ist, zeigt die Geschichte der Richter und Entscheidungen des RFH im Nationalsozialismus. Bei aller Heterogenität der Senatskulturen wird der BFH heute seiner Aufgabe als unabhängiger Wahrer des Steuerrechts in Deutschland gerecht.

Die Rechtsprechung ist aber auch Motor steuerrechtlicher Innovation. Sie deckt auf, wo der Gesetzgeber – aktiv oder passiv – gegen Grundgesetz oder Unionsrecht verstößt. Sie bewältigt Unsicherheiten in der Auslegung der Steuergesetze. Zahlreiche Rechtsfiguren sind Kinder der Rechtsprechung; ihretwegen sind wichtige Teile des Unternehmenssteuerrechts lange (oft zu lange) ohne gesetzliche Grundlage ausgekommen. Die Rechtsprechung leistet zudem einen zentralen methodischen Beitrag zur bruchlosen Abstimmung der deutschen Steuerrechtsordnung auf das Völkerrecht und – mittelbar – auf die Steuerrechtsordnungen anderer Staaten.

Gerichte anderer Staaten orientieren sich an der Rechtsprechung des BFH und an steuerverfassungsrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Wichtigste Transmissionsriemen der globalen Wahrnehmung der deutschen Judikatur sind der EuGH und die Steuerrechtswissenschaft. Längst haben Entscheidungen des BFH deshalb Eingang in internationale, zumeist englischsprachige Datenbanken und Kommentare gefunden. Nicht immer ist sich der BFH dieser verdienten Breitenwirkung bewusst; zu selten setzt er sich seinerseits mit Entscheidungen ausländischer Gerichte auseinander.

Sichtbarkeit verpflichtet. Es ist nicht selbstverständlich, dass Richterinnen und Richter ihre Urteile öffentlich, frei und unbefangen zur Diskussion stellen. Dabei ist der kritische Dialog über die Staatsgewalten, Berufsgruppen und Generationen hinweg eine echte Errungenschaft. Sie ragt im internationalen Vergleich heraus. Die Präsenz der Mitglieder des BFH und der Finanzgerichte auf wissenschaftlichen Tagungen – auch auf europäischem und internationalem Parkett – ist seit der Präsidentschaft Herbert Dorns (1931–1934) ein Standortvorteil für das Law made in Germany. Wer seine Urteile erklären kann, fällt bedachte Urteile. Der öffentliche Diskurs ist normative Notwendigkeit. Der Rechtsstaat verwirklicht sich im demokratischen Disput. Dieser Disput muss Richterinnen und Richtern auch in dienstlicher Eigenschaft möglich sein.

Kann die Finanzrechtsprechung noch besser werden? Häufig wird der Grundsatz der Öffentlichkeit als Nachteil des geltenden Prozessrechts genannt. Wenn Unternehmen mit Blick auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse lieber auf ihr Recht verzichten als Klage zu erheben, entstehen Kontrolldefizite. Hier hilft der voraussetzungslose Anspruch des Steuerpflichtigen (nicht der Finanzverwaltung) auf Ausschluss der Öffentlichkeit aus § 52 Abs. 2 FGO. Diese Norm sichert das Steuergeheimnis und effektuiert den Rechtsschutz. Vielleicht wird sie zu wenig genutzt.

Ungelöst ist der Umgang mit Fragen nach Auslegung und Anwendung der Steuergesetze durch die anderen Gerichtsbarkeiten, namentlich die ordentlichen Gerichte. Wo die Steuergesetze im Kontext von Strafrecht, Deliktsrecht, Gesellschafts- oder allgemeinem Vertragsrecht anders ausgelegt werden, als der BFH sie auslegt (oder auslegen würde), ist die Einheit der Rechtsordnung in Gefahr. Bürger verlieren Vertrauen in den Rechtsstaat. Die gesetzliche Verklammerung der unterschiedlichen Fachgerichtsbarkeiten durch den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes löst die Probleme schon deshalb nicht, weil sie sich nicht auf die Berufungs- und Revisionszulassungspraxis der Instanzgerichte auswirkt. Deshalb sind diagonale Vorlageverfahren nach dem Vorbild von Art. 267 AEUV zu erwägen: Ist vor einem Gericht außerhalb der Finanzgerichtsbarkeit eine steuerrechtliche Vorfrage streitig, sollte dieses Gericht die Auslegung der entscheidungserheblichen Steuerrechtsnorm der Vorabentscheidung durch das örtlich zuständige Finanzgericht oder den BFH überlassen.

Hundert Jahre höchstrichterlicher Steuerrechtsprechung sind Grund zur Dankbarkeit. Sie sind nicht das Ende der Geschichte. Dem Münchener Gericht ist zu wünschen, dass es sich im zweiten Jahrhundert seines Bestehens frei entfalten, den Parteien Gehör gewähren und sich selbst Gehör verschaffen darf, dass es unabhängig entscheiden kann und dadurch – inkrementell, nicht disruptiv – weiterhin zur Erneuerung des Steuerrechts beiträgt.

Prof. Dr. Ekkehart Reimer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europäisches und Internationales Steuerrecht und Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er ist Kommentator in Vogel/Lehner, DBA, und u. a. Mitherausgeber der Internationalen Steuerrundschau (ISR), eines Großkommentars zu DBA (Klaus Vogel on Double Taxation Conventions), der Series on International Taxation, der Steuerwissenschaftlichen Schriften sowie der Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerrecht.

 
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