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BB 2022, I
Schultze/Pautke 

Kein Gesetz wie alle anderen: Die Gruppenfrei­stellungsverordnung von vertikalen Vereinbarungen (Vertikal-GVO) – 3. Auflage 2022

Abbildung 1

Abbildung 2

Die neue Vertikal-GVO – ein “dickes Brett”, dennoch praxisnäher und verständlicher.

Dieser Beitrag ist keine Buchbesprechung! Vielmehr geht es um die dritte Version eines Erfolgsmodells der EU-Kommission, nämlich die neue Vertikal-GVO, die am 10. Mai 2022 veröffentlicht wurde und die am 1. Juni 2022 in Kraft treten wird. Sie wird das Leben vertikaler Vereinbarungen für die nächsten zwölf Jahre bis zum 31. Mai 2034 begleiten.

Die Neu-Auflage der Vertikal-GVO ist eine gute Gelegenheit, sich einmal auf die Grundlagen zu besinnen, auf denen sie beruht. Nur wenn man diese kennt, ist man in der Lage, die Überlegungen der Kommission zu den Änderungen zu verstehen und auftretende Zweifelsfragen auch angemessen zu lösen.

In der Vertikal-GVO geht es um die Freistellung vertikaler Vereinbarungen vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV unter den Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV. Art. 103 Abs. 1 AEUV sieht “zweckdienliche Verordnungen” vor, die vom Rat (nach Konsultation der Kommission und des Europäischen Parlaments) beschlossen werden. Im Hinblick auf Art. 101 Abs. 3 AEUV ist zweckdienlich eine Verordnung, die die Einzelheiten der Anwendung dieser Vorschrift festlegt und dem Erfordernis einer wirksamen Überwachung bei möglichst einfacher Verwaltungskontrolle Rechnung trägt. Die hier relevante Verordnung ist die Rats-Verordnung Nr. 19/65/EWG vom 2. März 1965, welche die Kommission – und zwar ausschließlich die Kommission – zum Erlass der Vertikal-GVO ermächtigt.

Aus diesem rechtlichen Hintergrund ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen:

Erstens bedeutet dies, dass allein die Kommission die Voraussetzungen der Gruppenfreistellung bestimmt. Die Gerichte können und müssen die Vertikal-GVO natürlich anwenden, es ist ihnen aber mangels Kompetenz für die Festlegung der Bedingungen einer Gruppenfreistellung nicht möglich, in die Rechtssetzungsbefugnis der Kommission einzugreifen. Aus diesem Grund sind die Erläuterungen der Kommission zum Text der Vertikal-GVO in Tz. 48 – 274 mehr als die Selbstbindung einer Behörde: Da die Kommission alleinige Autorin der Vertikal-GVO ist, sind ihre Erläuterungen zum Verständnis des Textes der Vertikal-GVO bei der Feststellung des Inhalts der Vertikal-GVO für jedermann – und auch für die Gerichte – zwingend zu berücksichtigen. Eine Auslegung der Vertikal-GVO gegen den erklärten Willen der Kommission ist nicht möglich.

Zweitens bedeutet dies, dass die Vertikal-GVO nur dann eine wirksame Verordnung ist, wenn sie sich im Rahmen der Ermächtigungsgrundlage hält. Für die freigestellten Vereinbarungen muss also mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden können, dass sie die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen. Die Freistellung durch die Vertikal-GVO darf also grundsätzlich keine Vereinbarungen erfassen, die nicht die Freistellungs-Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen.

Auf diesen Grundlagen basiert die Prüfung der Kommission von “false positives”, also die Freistellung von Vereinbarungen unter der bisherigen Vertikal-GVO, obwohl diese Vereinbarungen nach heutigen Erkenntnissen nicht durchweg die Freistellungsvoraussetzungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen. Nur insoweit kann die neue Vertikal-GVO strenger sein, können also bisher freigestellte Vereinbarungen unwirksam werden. Das betrifft die beiden Bereiche “Informationsaustausch im dualen Vertrieb” und “(weite) Bestpreisklauseln”. Eine weitere Verschärfung ergibt sich daraus, dass Online-Vermittlungsdienste, die auch in Wettbewerb zu ihren Kunden treten (“hybride Plattformen”), nicht länger den Schutz der Vertikal-GVO für sich reklamieren können.

Umgekehrt hat die Kommission auch “false negatives” korrigiert, also zu enge Freistellungen gelockert und damit den Handlungsspielraum des Art. 101 Abs. 3 AEUV besser ausgenutzt. Insoweit gibt es jetzt mehr Flexibilität bei aktiven Verkaufsverboten sowie Beschränkungen im Bereich des Online-Handels.

Die neue Vertikal-GVO ist ein “dickes Brett”. Zwar ist der eigentliche Text – wenn man von der breiteren Aufschlüsselung der aktiven Verkaufsverbote absieht – einigermaßen übersichtlich geblieben, aber der kommentierende und damit “quasi-gesetzliche” Teil der vertikalen Leitlinien hat sich massiv verlängert: Etwas über die Hälfte der Leitlinien enthalten Kommentare zur Vertikal-GVO, so dass das für die direkte Rechtsanwendung erhebliche Gesamtpaket 15 plus 55 = 70 Din-A4-Seiten umfasst. Damit geht die Vertikal-GVO auf der einen Seite denselben Weg, den Bücher häufig in der 3. Auflage gehen, d. h. sie werden länger. Auf der anderen Seite ist die Verordnung aber – wenn man sie richtigerweise zusammen mit dem kommentierenden Teil der vertikalen Leitlinien liest – auch nicht mehr so holzschnittartig, sondern praxisnäher und gibt klare Hinweise für eine Vielzahl von Einzelproblemen in Handels- und Liefervereinbarungen. Dies erhöht ihre Verständlichkeit.

Während die neue Vertikal-GVO angesichts des aufwändigen Verfahrens in den nächsten zwölf Jahren sicher nicht geändert wird, hat die Kommission in Fußnote 4 der vertikalen Leitlinien vorausschauend schon einmal darauf hingewiesen, dass sie die Leitlinien angesichts künftiger Entwicklungen ändern kann. Wenn sie das im kommentierenden Teil tut, stellt sich natürlich sofort die Frage, ob die Kommission ihren eigenen Gesetzestext auch nachträglich mit derselben Wirkkraft erläutern kann, wie sie das bei gleichzeitiger Verabschiedung der Vertikal-GVO und der vertikalen Leitlinien kann. Aber soweit sind wir ja noch nicht.

Dr. Joerg-Martin Schultze, LL.M. (SMU Dallas), RA und Notar, ist Gründungspartner der auf Kartellrecht spezialisierten Kanzlei Commeo Rechtsanwälte PartGmbB in Frankfurt a. M. Er berät in allen Bereichen des Kartellrechts und übt seine gesellschaftsrechtlich geprägte Notariatspraxis aus. Zu seinen kartellrechtlichen Beratungsschwerpunkten gehören die Fusionskontrolle sowie das Vertriebs- und Vertragskartellrecht. Schultze ist Mitherausgeber des im dfv, Fachbereich Recht und Wirtschaft, in 4. Aufl. 2019 erschienenen Kommentars zur Vertikal-GVO.

Dr. Stephanie Pautke, LL.M. (Stellenbosch), RAin, ist Gründungspartnerin der auf Kartellrecht spezialisierten Kanzlei Commeo Rechtsanwälte PartGmbB in Frankfurt a. M. Sie berät nationale und internationale Mandanten in allen Fragen des deutschen und europäischen Kartellrechts, insbesondere zu vertriebskartellrechtlichen Fragestellungen, einschließlich der Digitalwirtschaft. Pautke ist Mitherausgeberin des im dfv, Fachbereich Recht und Wirtschaft, in 4. Aufl. 2019 erschienenen Kommentars zur Vertikal-GVO.

 
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