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BB 2011, 1
Teichmann, Christoph 

Wege aus der Krise?

Europäisches Gesellschaftsrecht

Nach der Finanzkrise will die Europäische Kommission neu über das Gesellschaftsrecht nachdenken. Hierzu wurden eine "Reflection Group" eingesetzt und ein Grünbuch zur Corporate Governance veröffentlicht, eine internetgestützte Konsultation gestartet und eine Tagung in Brüssel einberufen.

Für die Corporate Governance-Diskussion bildet die Kommission drei Schwerpunkte. Erstens richtet sich das Augenmerk auf den Verwaltungsrat bzw. Aufsichtsrat: Er soll hinreichend qualifiziert sein, seiner Tätigkeit genügend Zeit widmen, die Risiken des Unternehmens analysieren und nach dem Gebot der Vielfalt zusammengesetzt sein. Zweitens geraten die Aktionäre in den Blick: Sie verhalten sich nach Auffassung der Europäischen Kommission zu passiv und sind überdies häufig nur an kurzfristigen Gewinnen interessiert. Institutionelle Investoren sollen daher zu größerem Engagement angehalten werden. Für Unternehmen mit einem Groß- oder Mehrheitsaktionär wird zudem erwogen, einen Minderheitenvertreter mit Sitz und Stimme im Verwaltungsrat/Aufsichtsrat auszustatten. Drittens hält die Kommission den Mechanismus des "comply or explain" für verbesserungsbedürftig: Die Informationsqualität der Berichte soll erhöht werden und einer Beobachtung durch Börsen oder Aufsichtsbehörden unterliegen.

Wirklich neue Wege sind das nicht. Es geht um zentrale Mechanismen der Corporate Governance, die seit Jahrzehnten diskutiert und - vermeintlich - perfektioniert worden waren. In der Finanzkrise haben sie sich als weitgehend wirkungslos erwiesen. Und es wird nicht viel helfen, dieselben Stellschrauben einfach nur eine Windung weiter zu drehen. Die Möglichkeiten, hoch qualifizierte und zeitlich verfügbare Aufsichtsratsmitglieder zu finden, Aktionäre zur aktiven Mitwirkung zu bewegen oder Wohlverhalten durch den "comply or explain"-Mechanismus zu generieren, sind weitgehend ausgereizt. Ein verstärktes Engagement von Frauen ist noch der einzige Bereich, in dem sichtbare Fortschritte möglich sind. Das mag die aktuelle Vorliebe für dieses Thema erklären. Gegen Vielfalt ist nichts einzuwenden. Für die Krisenprävention sollte man sich davon aber nicht zu viel versprechen. Frauen werden systemische Risiken nicht schneller entdecken als Männer. Sie sind auch keineswegs davor gefeit, kurzfristiges Gewinnstreben über Nachhaltigkeit zu stellen. Solange man mit dieser Einstellung in börsennotierten Unternehmen die besseren Karrierechancen hat, ergibt sich die entsprechende Auslese unter Frauen wie Männern ganz von selbst.

So viel lässt sich aus der Corporate Compliance-Bewegung lernen: Wenn es heute in jedem großen Unternehmen einen Compliance Officer (männlich oder weiblich) gibt, so verdanken wir das weder Aufsichtsratsschulungen noch Kodex-Kommissionen. Das Umdenken setzte in dem Moment ein, in dem klar wurde, dass enorme Geldbußen und persönliche Strafverfolgung drohen. Ob die ausufernden Compliance-Abteilungen die Mittel-Zweck-Relation noch wahren, ist eine andere Frage. Immerhin belegen sie aber, wie schnell sich Verhaltensmuster ändern, wenn beim Top-Management von Rechts wegen ein Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit Einzug hält. Will man vermeiden, dass auf den Finanzmärkten die alten Verhaltensmuster fröhliche Urständ feiern, muss man an dieser Stellschraube drehen. Es erstaunt, dass sie in der Diskussion kaum eine Rolle spielt.

Die europäische "Reflection Group" legt den Schwerpunkt auf die binnenmarktweite Unternehmensmobilität. Es gäbe viel zu tun, das legt der Abschlussbericht eingehend dar. Eine Sitzverlegungsrichtlinie wäre hilfreich und das Statut über die Europäische Privatgesellschaft (SPE) harrt seiner Verabschiedung. All dies aber wird überschattet durch das Mitbestimmungsthema. Die Signale der europäischen Gewerkschaften legen die Vermutung nahe, dass ihnen der Kompromiss der Verhandlungslösung, wie er für die Europäische Aktiengesellschaft (SE) und die grenzüberschreitende Verschmelzung gefunden wurde, nicht mehr ausreicht. Die europaweite Ausdehnung von Beteiligungsrechten ist das Ziel. Die EU soll gemäß Art. 153 AEUV die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, unterstützen und ergänzen. Angeregt wird eine Rahmenrichtlinie, die einen europäischen Standard der Mitbestimmung setzt.

Es bleibt den Arbeitnehmern unbenommen, in den europäischen Gremien für ein solches Regelwerk zu streiten. Es ist aber nicht einzusehen, dass währenddessen im Europäischen Gesellschaftsrecht Stillstand herrschen soll. Zwischenzeitlich ergehende Rechtsakte müssen den Status Quo der Arbeitnehmerrechte wahren, das versteht sich von selbst. Die europäische Verhandlungslösung kann das auch leisten. Sollten Arbeitnehmervertreter verlangen, deren Schwachstellen nachzubessern (Stichworte: Einfrieren der Mitbestimmung, strukturelle Änderungen), werden sie damit auf Verständnis stoßen. Keinerlei Unterstützung verdient es hingegen, wenn sinnvolle Projekte des Gesellschaftsrechts solange blockiert werden, bis eine allgemeine Rahmenrichtlinie über den sozialen Dialog erreicht ist. Beides lässt sich ohne weiteres separat verhandeln und später bei Erlass einer solchen Richtlinie wieder zusammenführen.

Prof. Dr. Christoph Teichmann, ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Würzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind supranationale Rechtsformen und die europäische Niederlassungsfreiheit.
 
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