Wildwuchs in der europäischen Sustainable-Finance-Regulierung – Zurückschneiden für ein Mehr an Konsistenz und Transparenz erforderlich
Nachhaltigkeit ist das alles beherrschende Thema in der (Finanz-)Berichterstattung. Nahezu jeder fühlt sich berufen, einen Beitrag zur (mutmaßlichen) Verbesserung des Finanzsystems zu leisten. Auf europäischer Ebene wurde im März 2018 der Aktionsplan zur “Finanzierung nachhaltigen Wachstums” – eine direkte Folge der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – für Legislativbestrebungen ausgerufen. Aufgrund der EU-Wahlen Anfang 2019 passierte dann – mit Ausnahme branchenspezifischer Auflagen für die Finanzindustrie – allerdings erst einmal nicht viel, bis im Dezember 2019 der “Green New Deal” ausgerufen wurde. Bereits im März 2021 tritt ein umfassendes Maßnahmenbündel in Kraft; hervorzuheben sind aus dem November und Dezember 2019 die Offenlegungs- und die Benchmark-Verordnung. Als Nachzügler wurde im Juni 2020 die Taxonomie-Verordnung beschlossen, die bereits am 12.7.2020 in Kraft getreten ist, aber ein zeitlich gestrecktes Anwendungsdatum vorsieht. Bereits ab dem 1.1.2022 sind die Aspekte des Klimaschutzes zu berücksichtigen, ein Jahr später die übrigen (Umwelt-)Ziele. Für nationale Umsetzungsüberlegungen ist kein Raum, da das Verordnungsdreierlei jeweils als eigener Rechtsakt mit allgemeiner Gültigkeit und unmittelbarer Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten auf den Weg gebracht wurde. Bei all der Regulierungswut – der Aktionsplan sieht noch eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen vor – bleibt keine Zeit für das Detail. Wichtige Konkretisierungen, insbesondere die Verknüpfung mit der in nationales Recht umgesetzten CSR-Richtlinie, werden zunächst aufgeschoben. So behält sich die EU-Kommission vor, die berichtspflichtigen Unternehmen bis zum 1.6.2021 über einen delegierten Rechtsakt über Inhalt, Darstellung und Methode der zusätzlichen Angabepflichten, die sich aus der Taxonomie-Verordnung ergeben, zu informieren. Das Instrument des delegierten Rechtsakts wurde im Vertrag von Lissabon eigentlich mit dem Ziel einer Reduzierung der Detailflut von Gesetzgebungsakten aufgenommen (Art. 290 AEUV). Für das gemischte Dreierlei an Verordnungen wurden Details im großen Stil auf delegierte Rechtsakte verlagert. Passend zur verfolgten Nachhaltigkeitsstrategie wurde der Trieb für die Regulierung bereits verpflanzt und die Entscheidung über den Zuschnitt vertagt. Die aktuelle Krise bietet auch gegen den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten den perfekten Nährboden für weiteren Aktionismus. Nicht nur die berichtspflichtigen Unternehmen, sondern auch die Adressaten drohen in dem Wirrwarr der Regeln und dem anhaltenden Wildwuchs den Überblick zu verlieren. Wenig Trost kann man aus der Erkenntnis einer vergleichbaren Entwicklung auf nationaler Ebene ziehen. Die von der Taxonomie-Verordnung betroffene – national über die nichtfinanzielle Erklärung in das Handelsgesetz eingebettete – CSR-Richtlinie droht ebenfalls weiter wild auszuwuchern. Zur Festigung des europäischen Green Deal wurde im Februar 2020 eine breit angelegte Konsultation zur Anpassung losgetreten, angedacht ist natürlich eine Ausweitung der Regulierung. Der Geltungsbereich kann – so ist es auch schon in Artikel 3 der ursprünglichen Richtlinie angelegt – auf große, nicht börsennotierte Unternehmen ausgedehnt werden. In der Diskussion ist auch ein Verzicht auf Befreiungsregeln für Tochterunternehmen sowie eine Absenkung der Schwellenwerte, insbesondere bezogen auf die Arbeitnehmeranzahl. Eine Ausweitung der Berichtssubjekte, also Unternehmen mit besonders materiellen Risiken und/oder einer Geschäftsaktivität, die durch Nachhaltigkeitsaspekte geprägt sind, ist nicht generell abzulehnen. Es bedarf aber Strukturen und Prozesse, damit die zusätzliche Information nicht nur produziert, sondern auch von den Adressaten aufgenommen wird. Gegen die vorgeschlagene pflichtweise Verankerung im Lagebericht spricht der potentielle Konflikt mit den bestehenden Informationen. Gleichwohl ist eine stärkere Vereinheitlichung der bisherigen Offenlegungspraxis, die wegen der bisherigen 1:1-Umsetzung in Deutschland durch ein Maximum an Heterogenität gekennzeichnet ist, durchaus geboten. Im Hinblick auf die Berichtsinhalte fehlt – auch wegen der noch ausstehenden, bislang nur delegierten Rechtsakte – noch die notwendige Transparenz, welche Schwerpunkte in inhaltlicher und zeitlicher Dimension für nichtfinanzielle Informationen zu setzen sind. Darüber hinaus tragen die wenig konkreten Anforderungen an die gewünschte Verknüpfung finanzieller (“outside-in”) und nichtfinanzieller Perspektive (“inside-out”) nicht zu einem “level playing field” bei. Die (noch) offenen Fragen führen – in Verbindung mit der Taxonomie-Verordnung – zu dem Ruf nach einer Standardisierung über ein europäisches (Berichts-)Rahmenwerk. Bei all den (mehr oder weniger) geeigneten Maßnahmen zur Etablierung eines nachhaltigen europäischen Finanzsystems darf allerdings die Abgrenzung zur Finanzberichterstattung nicht angetastet werden. Eine Kreuzung von Anforderungen der (internationalen) Rechnungslegung mit Aspekten der Nachhaltigkeit – etwa über ein europäisches Carve-in – ist abzulehnen. Im Sustainable-Finance-Bereich besteht ein erhebliches Regulierungsdickicht, welches für eine Erhöhung von Transparenz und Konsistenz zurückgeschnitten werden muss.
Dr. Jens Freiberg, WP, ist Leiter der Accounting Advisory Group der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft an den Standorten Düsseldorf und Frankfurt a. M., Mitglied im Beirat des “Betriebs-Berater”, Mitglied des Fachausschusses Berichterstattung (FAB) des Instituts der Wirtschaftsprüfer e. V. sowie Mitglied des IFRS Interpretation Committee und der IFRS 17 Transition Ressource Group.