Ungeachtet der in den §§ 8 bis 10 sowie in § 20 benannten Gründe ist eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen.
Übersicht
I. Allgemeines
1 Eine an sich gemäß § 7 Abs. 1 oder § 19 Abs. 1 verbotene unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes kann ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile einer Gruppe verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Systematisch enthält die Vorschrift einen Rechtfertigungsgrund. Sie verpflichtet den Arbeitgeber im Unterschied zu § 12 nicht, bestimmte Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu ergreifen. § 5 ist – als Vorschrift des Allgemeinen Teils – der einzige Rechtfertigungsgrund des AGG, der sowohl im zivilrechtlichen als auch im arbeitsrechtlichen Teil Anwendung findet.
2 § 5 stellt eine Umsetzung der Art. 5 der RL 2000/43/EG, Art. 7 Abs. 1 der RL 2000/78/EG, Art. 2 Abs. 8 der RL 76/207/EWG, Art. 6 der RL 2004/113/EG und Art. 5 der RL 2010/41/EU dar. In Bezug auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist der Rechtsgedanke der positiven Maßnahmen auch im europäischen Primärrecht verankert. Dort heißt es in Art. 157 Abs. 4 AEUV:
„Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbe 172 handlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.“
3 Die Rechtfertigungsmöglichkeit wird damit begründet, dass ein bloßes Diskriminierungsverbot nicht ausreiche, um alle bestehenden faktischen Ungleichheiten zu beseitigen. Vielmehr müssten die Regierungen, die Sozialpartner und sonstige beteiligte Stellen gleichzeitig tätig werden, um gegen Benachteiligungen (von Frauen) in der Arbeitswelt vorzugehen, so der EuGH unter Berufung auf die Empfehlung des Rates vom 13.12.1984 zur Förderung positiver Maßnahmen für Frauen (84/635/EWG).1
4 Durch die Formulierung „ungeachtet“ verdeutlicht der Gesetzgeber, dass § 5 ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund ist, dessen Vorliegen unabhängig von den Voraussetzungen der übrigen Rechtfertigungsgründe geprüft werden kann. Liegen die Voraussetzungen des § 5 vor, so ist eine ungleiche Behandlung nicht mehr verboten und löst dementsprechend auch keine Rechtsfolgen aus. Ob die Voraussetzungen des Rechtfertigungstatbestandes vorliegen, ist im Streitfall gemäß § 22 vom Anspruchsgegner zu beweisen; der Beweis obliegt im Arbeitsverhältnis in der Regel dem Arbeitgeber.2
5 Im Übrigen lässt § 5 auch spezielle Vorschriften zur Förderung einzelner Personengruppen unberührt. Dementsprechend richtet sich etwa die Förderung behinderter Personen weiterhin auch nach dem SGB IX.3
II. Voraussetzungen der Rechtfertigung
1. Maßnahme
6 § 5 kommt zur Rechtfertigung für Maßnahmen in Betracht, mit denen auf geeignete und angemessene Weise bestehende Nachteile einer besonders geschützten Gruppe verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Unter Maßnahmen sind in diesem Zusammenhang alle Handlungen 173 zu verstehen, die getroffen werden, um die Förderung der betroffenen Gruppe zu erreichen. Im Bereich des Arbeitsrechts sind sämtliche Rechtsakte erfasst, die das Beschäftigungsverhältnis gestalten, Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, Arbeitsverträge und sonstige Maßnahmen des Arbeitgebers.4 Wird eine bestimmte Gruppe gefördert, führt dies in der Mehrzahl der Fälle unmittelbar zur Benachteiligung einer anderen Gruppe: Werden Frauen bevorzugt, sind Männer benachteiligt; werden Junge bevorzugt, sind Ältere benachteiligt. Deswegen wird die Problematik auch unter dem Stichwort „umgekehrte Diskriminierung“5 diskutiert. Da diese Benachteiligung notwendige Folge der positiven Maßnahmen und damit unvermeidlich ist, gilt sie als gerechtfertigt.
7 Für die Rechtfertigung unerheblich ist, wer eine positive Maßnahme ergreift, um bestehende Nachteile einer geschützten Gruppe zu verhindern oder auszugleichen. Urheber dieser Maßnahmen können sowohl der Staat und seine Einrichtungen als auch Private sein. So heißt es in der Gesetzesbegründung, positive Maßnahmen können auch durch Arbeitgeber, Tarifvertrags- und Betriebsparteien sowie durch sonstige Vertragspartner ergriffen werden.6 Vor Inkrafttreten des AGG war grundsätzlich umstritten, ob positive Maßnahmen im Rahmen des § 611a BGB gerechtfertigt waren, um die Gleichstellung von Frauen und Männern durchzusetzen.7 Dieser Streit dürfte sich aufgrund der eindeutigeren Rechtslage nun erübrigt haben. Nach wie vor umstritten ist, ob es gemeinschaftsrechtlich zulässig war, auch private Vertragsparteien zu positiven Maßnahmen zu ermächtigen. Die Zulässigkeit wird bezweifelt, da die Gleichbehandlungsrichtlinien den „Mitgliedstaaten“ das Recht einräumen, spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen.8 Daraus wird teilweise gefolgert, die Mitgliedstaaten hätten nicht das Recht, diese Befugnis zu delegieren.9 Angesichts der Tatsache, dass auch andere Länder die Kompetenz zur Ergreifung positiver Maßnahmen auf Arbeitgeber übertragen haben und dass durch eine sol 174 che Übertragung das Ziel faktischer Gleichstellung in größtmöglichem Umfang verfolgt wird, dürfte die deutsche Regelung Bestand haben.10
2. Bestehender Nachteil
8 Neben den von §§ 8 bis 10 und 20 erfassten Fällen ist eine Benachteiligung gerechtfertigt, wenn dadurch bestehende Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Die Nachteile können sowohl tatsächlicher als auch struktureller Natur sein.11 Für das Vorliegen eines Nachteils ist es bereits ausreichend, wenn eine Person oder eine Personengruppe größere Schwierigkeiten hat, einen Arbeitsplatz zu finden.12 In der Rechtsprechung des EuGH ist diesbezüglich etwa von in der sozialen Wirklichkeit bestehenden faktischen Ungleichheiten die Rede.13
9 Als Bezugsgröße für die Schlechterstellung kommt einerseits das einzelne Unternehmen oder sogar der konkret betroffene Betrieb in Betracht. Andererseits kann auch die jeweilige Region oder die jeweilige Branche in Bezug auf ganz Deutschland als Vergleich herangezogen werden. In der Literatur wird größtenteils vertreten, dass die Chancengleichheit „gesamtgesellschaftlich“14 hergestellt werden solle und dementsprechend die Nachteile nicht zwingend im eigenen Betrieb oder Unternehmen bestehen müssten.15 Ob es jedoch gerechtfertigt sein kann, bspw. bei einem Frauenanteil von mehr als 80 % im eigenen Unternehmen Frauen bei gleicher Eignung bevorzugt einzustellen, weil sie deutschlandweit unterrepräsentiert in der betroffenen Branche sind, wagen wir zu bezweifeln. Letztlich muss es Ziel des AGG sein, ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld für den Einzelnen zu schaffen. Wird nicht mehr auf den einzelnen Betrieb bzw. jedenfalls auf das Unternehmen abgestellt, droht die Gefahr, ebendies nicht effektiv zu realisieren.
10 Entgegen der herrschenden Ansicht in der Literatur, sind somit strukturelle, branchenbezogene Nachteile erforderlich, die darüber hinaus jedenfalls im betroffenen Unternehmen zum Ausdruck kommen. Dies entspricht auch der Handhabung in den Landesgleichstellungsgesetzen 175 bezüglich der Frauenförderung. Maßgebliche Bezugsgröße ist der Frauenanteil in der fraglichen Berufsgruppe in Bezug auf die für die Personalauswahl zuständige Dienststelle, vgl. § 7 Abs. 2 und 3 LGG Nordrhein-Westfalen.
11 Die Verhältnisse in einem Konzern können ebenfalls nicht als Bezugsgröße herangezogen werden. Die Statistiken der oftmals international agierenden Konzerne können nicht maßgeblich sein im Hinblick auf das Arbeitsumfeld des Einzelnen.
3. Ausgleich oder Verhinderung
12 Nach § 5 sind Maßnahmen gerechtfertigt, wenn sie dem Ausgleich oder der Verhinderung bestehender Nachteile dienen. Die Wortwahl ist insofern missglückt, als ein bestehender Nachteil an sich nicht mehr verhindert werden kann.16 Da die Rechtsfolge – Rechtfertigung der Maßnahme – nicht zwischen beiden Tatbestandsalternativen unterscheidet, ist eine exakte Abgrenzung entbehrlich.
13 Entscheidend ist dagegen, dass die Maßnahme gezielt eingesetzt wird mit dem Ziel, einen bestehenden Nachteil zu kompensieren. Sie muss dazu dienen, die tatsächlich benachteiligte Gruppe spezifisch zu begünstigen und ihre Fähigkeit zu verbessern, auf dem Arbeitsmarkt mit anderen zu konkurrieren und unter den gleichen Bedingungen eine berufliche Laufbahn zu verwirklichen.17 Ein betriebliches Interesse an der Förderung der jeweiligen Personengruppe muss der Arbeitgeber nicht darlegen. Nach der Wertung der Gleichbehandlungs-Richtlinien ist allein die Durchsetzung der faktischen Gleichberechtigung das maßgebliche Ziel.
III. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme
14 Maßnahmen, die dem Ausgleich oder der Verhinderung von Nachteilen dienen, können nach § 5 gerechtfertigt sein, wenn sie objektiv geeignet und angemessen sind. Die Angemessenheit erfordert außerdem, dass die Maßnahme auch erforderlich ist, um das bezweckte Ziel zu erreichen.18
176 1. Geeignetheit
15 Geeignet ist eine kompensierende Maßnahme, wenn es objektiv wahrscheinlich ist, dass die Maßnahme das bezweckte Ziel erreichen kann. Zwar sind an die Geeignetheit keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, doch sind jedenfalls offensichtlich ungeeignete Maßnahmen nicht zu rechtfertigen. Das ist etwa bei solchen Maßnahmen der Fall, die erst nach Beendigung der Erwerbstätigkeit zu einer Bevorzugung führen. Zu diesem Zeitpunkt können sie nach der Rechtsprechung des EuGH einer benachteiligten Personengruppe nicht mehr helfen, ihr Berufsleben gleichberechtigt mit der allgemeinen Bevölkerung zu führen. Beschränke sich eine Maßnahme darauf, der benachteiligten Gruppe zum Zeitpunkt ihrer Versetzung in den Ruhestand eine Verbesserung zu gewähren, ohne den Schwierigkeiten abzuhelfen, auf die sie während ihrer beruflichen Laufbahn stoßen könnten, so sei diese keine zulässige kompensierende Maßnahme.19 Dagegen ist eine Maßnahme geeignet, wenn sie den fraglichen Nachteil ausgleicht oder wahrscheinlich verhindern kann.
Beispiel:
Geeignet zum Abbau von Diskriminierungen in Bezug auf die sexuelle Identität ist das Errichten betrieblicher Netzwerke für Lesben und Schwule.20 Nicht geeignet wäre demgegenüber die Zahlung eines höheren Gehalts an homosexuelle Arbeitnehmer. Hierdurch werden keine bestehenden Nachteile ausgeglichen. Diese bestehen nicht hinsichtlich der Vergütung, sondern aufgrund eines möglicherweise feindlichen Umfelds und damit einhergehenden Unsicherheiten, sich offen zu seiner Sexualität zu bekennen.
2. Erforderlichkeit
16 Außerdem muss die zu rechtfertigende Maßnahme nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung auch erforderlich sein.21 Zwar geht diese Anforderung nicht aus dem Wortlaut der einschlägigen Richtlinien hervor, doch hält der EuGH in ständiger Rechtsprechung daran fest.22 Bei der Festlegung der Reichweite von Ausnahmen von einem Individualrecht wie dem Recht von Männern und Frauen auf Gleichbehandlung 177 sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Danach dürften Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist. Außerdem müsse der Grundsatz der Gleichbehandlung so weit wie möglich mit den Erfordernissen des auf diese Weise angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden.
17 Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn es keine gleich geeignete und gleichzeitig mildere Maßnahme gibt, um das angestrebte Ziel zu erreichen.23 In Bezug auf § 5 bedeutet dies, dass die Erforderlichkeit entfällt, sofern ein gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht, das sich weniger benachteiligend auf die nicht begünstigte Gruppe auswirkt.24
3. Angemessenheit
18 Schließlich muss eine Maßnahme auch angemessen sein, damit sie als kompensierende Maßnahme gerechtfertigt ist. Dazu darf sie nicht übermäßig in die Belange derjenigen Beschäftigten eingreifen, die von der jeweiligen Begünstigung ausgenommen sind. Sie ist angemessen, wenn die von ihr bewirkte Zurücksetzung nicht geförderter Personen weder deren völligen Ausschluss von den fraglichen Vergünstigungen bewirkt, noch eine Entscheidungsautomatik zu ihren Lasten enthält. So erfordert die Angemessenheit nach Auffassung des EuGH beispielsweise, dass auch bei einer Bevorzugung weiblicher Beschäftigter gegenüber den männlichen Bewerbern, die die gleiche Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden.25 Die Umstände des Einzelfalls müssen auch bei Anwendung von Förder- oder Ausgleichsmaßnahmen etwa durch eine Härtefallregelung berücksichtigt werden.26 Der EuGH unterscheidet zwischen zulässigen Maßnahmen zur Förderung der faktischen Chancengleichheit und unzulässigen Maßnahmen, die einen absoluten 178 Vorrang einer ursprünglich benachteiligten Gruppe normieren und damit ausschließlich auf die Herstellung von Ergebnisgleichheit zielen.27
19 Auf Basis dieser Rechtsprechung sind starre Quoten und unbedingte Vorrangregelungen, wonach Angehörige einer ursprünglich benachteiligten Gruppe auch bei gleicher Qualifikation ausnahmslos bevorzugt werden, als unzulässig verworfen worden.28 Lediglich wenn Frauen in einem Beruf deutlich unterrepräsentiert seien, kann eine starre Frauenquote nach Auffassung des EuGH zulässig sein. Der EuGH hatte im vorliegenden Fall über die Zulässigkeit einer Regelung über den Zugang von Frauen und Männern zu öffentlichen Ämtern zu befinden, die verbindliche Zielvorgaben (Ergebnisquote) u.a. für die Zugangsbedingungen von Frauen vorsah. Der EuGH hielt die Vorschrift u.a. deshalb für zulässig, weil die Quote nur für Ausbildungsplätze galt, für die kein staatliches Monopol bestand, und es sich somit um Ausbildungen handelte, für die es auch im Privatsektor Plätze gab. Daraus schloss der EuGH, dass aufgrund dieser Tatsache kein männlicher Bewerber definitiv von einer Ausbildung ausgeschlossen werde. Unter Zugrundelegung einer Gesamtbetrachtung, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor einbeziehe, beschränke sich die fragliche Bestimmung daher auf die Verbesserung der Chancen weiblicher Bewerber im öffentlichen Sektor. Hinzu käme, dass die Mehrheit der Ausbildungsplätze dann mit Männern besetzt werden dürfe, wenn nicht genügend Bewerbungen von Frauen um freie Ausbildungsplätze vorlägen, obwohl diese durch geeignete Maßnahmen darauf aufmerksam gemacht worden seien.29
IV. Einzelfälle
1. Arbeitsrecht
a) „Diversity Management“
20 Unter „Diversity Management“ sind solche Maßnahmen zu verstehen, die dem Zweck dienen, eine möglichst breit gestreute Beschäftigtenstruktur zu schaffen oder zu erhalten, in der auch die nach § 1 besonders geschützten Gruppen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölke 179 rung angemessen vertreten sind.30 Die Verschiedenheit und Vielfalt der Beschäftigten wird als Gewinn für das Unternehmen betrachtet.31
b) Förderpläne und Quoten
21 Eine Rechtfertigung ist bei solchen Programmen möglich, die bei gleicher Eignung bevorzugt beispielsweise Frauen oder Schwerbehinderte einstellen oder befördern. Gleiches gilt für einen Arbeitgeber, der bis dato nur deutsche Arbeitnehmer beschäftigt und jetzt bestimmt, dass bei gleicher Eignung ausländische Bewerber bevorzugt eingestellt werden sollen. Diese Bevorzugung darf jedoch nicht so weit gehen, dass der Personengruppe ein genereller Vorrang eingeräumt wird.32 Vielmehr muss es sich um Maßnahmen handeln, deren Ziel nicht die Herstellung einer Ergebnisgleichheit, sondern die Beseitigung tatsächlicher Chancenungleichheiten ist.33 Relevant für die Frage der Rechtfertigung ist, wie deutlich die begünstigte Gruppe bisher benachteiligt worden ist und in welchem Maß der benachteiligten Gruppe ein Vorrang eingeräumt wird.34
22 Tipp für die Praxis: Es sollten dementsprechend keine zwingenden, sondern „weiche“ Vorrangsregelungen formuliert werden, die Raum für abweichende Entscheidungen im Einzelfall lassen.
23 Zweifel ergeben sich an der Zulässigkeit der von der Großen Koalition geplanten gesetzlichen Frauenquote für Aufsichtsräte. Nach dem Koalitionsvertrag sollen in börsennotierten Unternehmen ab 2016 mindestens 30 % der Aufsichtsratssitze mit Frauen besetzt werden. Im Falle des Nichterreichens dieser Quote sollen die hierfür vorgesehenen Plätze frei bleiben.35 Eine solche Regelung ließe sich aufgrund der Gleich 180 rangigkeit der (Bundes-)Normen nicht am AGG messen.36 Sie wäre jedoch in (verfassungs-37 und) unionsrechtlicher38 Hinsicht sehr bedenklich, weil eine Nichtbesetzung der Plätze im Falle des Nichterreichens der 30 % faktisch einem Verbot der Besetzung mit männlichen Kandidaten – und somit einer grundsätzlich unzulässigen starren Quote – gleichkäme.39 Da die Bildung bzw. Zusammensetzung von Aufsichtsräten bestimmten weiteren Kriterien unterliegt, bestehen so viele Vorbedingungen an die Personen der Aufsichtsräte, dass eine starre Quote mit Sicherheit dazu führen würde, dass einzelne Aufsichtsratssitze in einer ganzen Reihe von Unternehmen unbesetzt blieben (Vertreter der leitenden Angestellten, Gewerkschaftsvertreter auf Arbeitnehmerseite, verschiedene Anteilseigentümerfunktionen auf Gesellschafterseite müssen vertreten sein). Bedenkt man weiterhin, dass es in manchen Unternehmen bereits schwierig ist, überhaupt Aufsichtsräte zu finden, würde eine solche Regelung die Funktionsfähigkeit von Aufsichtsräten gefährden. Da das deutsche, gut eingeübte und gut funktionierende two-tier-System als weitestgehend einmalig im europäischen Umfeld ohnehin ständigen Angriffen ausgesetzt ist und es nicht umsonst in Deutschland eine zunehmende Anzahl an SEen und vor allem an LTDs und Co-KGs und ähnlichen Konstruktionen gibt, um Mitbestimmung zu vermeiden oder zu beschränken, würde eine derartige Regelung die Gegner der unternehmerischen Mitbestimmung noch mehr stärken und diese noch mehr in Bedrängnis bringen. Eine starre Quote wäre abgesehen von ihrer rechtlichen Bedenklichkeit hinsichtlich der Gefährdung der Funktionsfähigkeit von Aufsichtsräten auch rechtspolitisch das falsche Signal. Aufgrund der Besonderheiten der Aufsichtsratswahl (u.a. kein klares Leistungsprofil, das einen Eignungsvergleich erst möglich machen würde) scheint eine starre Quote in diesem Fall jedoch nicht vollständig ausgeschlossen.40 Hier bleibt weitere Rechtsprechung abzuwarten.
181 Tipp für die Praxis: Arbeitgeber, die die Einführung einer freiwilligen Aufsichtsratsquote beabsichtigen, müssen diese am AGG messen lassen. Die Rechtsprechung des EuGH ist hierbei in unionsrechtskonformer Auslegung zu berücksichtigen. Angesichts der noch unklaren Rechtslage im Hinblick auf die europarechtliche Zulässigkeit starrer Quoten für Aufsichtsräte sollten diese bis auf Weiteres ebenso vermieden werden wie unbedingte Vorrangsregelungen.
24 Einzelfälle:
Weist der öffentliche Arbeitgeber in einer ansonsten geschlechtsneutral gehaltenen Ausschreibung darauf hin, dass „ein besonderes Interesse an Bewerbungen von Frauen bestehe“, werden hierdurch männliche Stellenbewerber nicht i.S.d. AGG unzulässig benachteiligt, wenn in der für die Stelle maßgeblichen Vergleichsgruppe Frauen unterrepräsentiert sind.41
Unzulässig ist allerdings eine Stellenanzeige, die sich ausschließlich an Frauen mit Migrationshintergrund richtet, ohne dass zunächst auf die Eignung abgestellt wird. Dies entschied das Arbeitsgericht Berlin jüngst in Bezug auf eine Stellenausschreibung der Zeitung „taz“.42
Das ArbG Frankfurt/Oder ist der Auffassung, dass es den Insolvenzgerichten obliegen kann, auf eine stärkere Beteiligung von Frauen bei der verantwortlichen Leitung von Insolvenzverfahren hinzuwirken.43 Zwar dürfe die Einführung einer sogenannten „Frauenquote“, etwa als sogenannte „weiche Quote“, bei der Vergabe derartiger Aufgaben nach derzeitiger Rechtslage mangels ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung nicht durch die Insolvenzgerichte, sondern nur durch den Gesetzgeber erfolgen. Rechtlich zulässig sei es aber bereits jetzt, unter abgeschwächter Heranziehung der Maßgaben einer sogenannten „Frauenquote“ eine im Vergleich zur bisherigen Praxis höhere Anzahl der Aufträge an Frauen zu vergeben.
182 2. Zivilrecht
a) Ghettobildung/Wohnprojekte
25 Nach § 5 soll es auch gerechtfertigt sein, wenn Vermieter beim Abschluss von Mietverträgen darauf achten, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen gleichmäßig in größeren Wohnanlagen vertreten sind und eine Ghettobildung verhindert wird.44 Allerdings ist zumindest in dieser Allgemeinheit nicht ersichtlich, welche Nachteile welcher Gruppe durch diese Auswahl unter Berücksichtigung des sozialen Hintergrunds ausgeglichen werden sollen. Sind Deutsche benachteiligt, wenn in einem Stadtviertel einer deutschen Stadt überwiegend Ausländer wohnen, weil diese gern in räumlicher Nähe ihre Kultur pflegen? Näherliegend erscheint es, die Maßnahmen zur Verhinderung von Ghettobildung gemäß § 19 Abs. 3 zu rechtfertigen, der sich ausdrücklich auf die Vermietung von Wohnraum bezieht.
26 Es wird allerdings angenommen, dass Wohnprojekte, wie beispielsweise Frauenhäuser oder Behindertenwohngemeinschaften, positive Maßnahmen i.S.v. § 5 darstellen können.45
b) Hausbaudarlehen von Unternehmen
27 Eine Rechtfertigung nach § 5 ist auch möglich, wenn Unternehmen in strukturschwachen Gebieten günstige Hausbaudarlehen an junge Beschäftigte mit Familie vergeben, um deren Ansiedlung zu fördern.46 Zwar werden durch eine solche gezielte Förderung ältere Beschäftigte benachteiligt, doch ist diese Ungleichbehandlung dadurch gerechtfertigt, dass junge Familien durch hohe Baukosten besonders belastet sind, weil sie noch keine Möglichkeit hatten, viele Jahre lang Ersparnisse aufzubauen.
c) Subventionen
28 Einem Urteil des BVerwG entsprechend hatten Frauen im Jahr 2002 in Nordrhein-Westfalen einen Anteil von 51,4 % an der Wohnbevölkerung, aber nur 13,6 % der Selbstständigen im Handwerk waren Frauen.47 Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG enthält nach Auffassung der Rechtsprechung den bindenden Auftrag für den Staat, für die Zukunft die Gleich 183 berechtigung der Geschlechter durchzusetzen, und ziele auf die Angleichung der Lebensverhältnisse.48 Nach Ansicht des BVerwG müsse im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nicht konkret dargelegt werden, welche konkreten frauentypischen Nachteile für diesen statistischen Befund verantwortlich seien. Die Einschränkungen der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen würden in der Lebenswirklichkeit aus einer Vielzahl von Umständen gespeist, die von einer stärkeren Inanspruchnahme durch Familienarbeit über eine geringere Finanzausstattung wegen schlechterer Verdienstmöglichkeiten bis hin zu schwer ausrottbaren Vorurteilen reichen könnten. Dazu gehörten nach Ansicht des BVerwG auch psychologische Hemmnisse, die sich aus dem Fehlen weiblicher Vorbilder, der Weigerung von Männern, ihren Betrieb einer Frau zu übertragen, oder aus einer gewissen Risikoscheu ergeben können. Das jeweilige Gewicht derartiger Hemmnisse müsse nicht ermittelt werden, wenn der statistische Befund über die ungleiche Verteilung der Chancen in der Lebenswirklichkeit so massiv sei wie im vorliegenden Zusammenhang. Deshalb sei es zulässig, dass die Gründung von Handwerksbetrieben durch Frauen von staatlichen Programmen besonders gefördert wird. Konkret hatte das Land NRW vorgesehen, dass Männer die Meistergründungsprämie innerhalb von zwei Jahren nach Ablegung der Meisterprüfung beantragen müssen, Frauen dagegen eine 5-Jahres-Frist in Anspruch nehmen dürfen.49
29 Aus dem gleichen Grund soll es auch zulässig sein, behinderten Handwerkern oder Handwerkern fremder Herkunft bevorzugt Subventionen für die Gründung von Handwerksbetrieben zu gewähren.50