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Handbuch der Risikobewertung (2016), S. 40—50 
II. Die Grundanforderung: Art. 3 … 
Alexander Pitzer 

40 II. Die Grundanforderung: Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004

Die zentrale Vorschrift für alle Lebensmittelbedarfsgegenstände ist Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Dieser hat folgenden Wortlaut:

Materialien und Gegenstände, einschließlich aktiver und intelligenter Materialien und Gegenstände, sind nach guter Herstellungspraxis so herzustellen, dass sie unter normalen oder vorhersehbaren Verwendungsbedingungen keine Bestandteile auf Lebensmittel in Mengen abgeben, die geeignet sind,

a)   die menschliche Gesundheit zu gefährden oder

b)   eine unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung der Lebensmittel herbeizuführen oder

c)   eine Beeinträchtigung der organoleptischen Eigenschaften der Lebensmittel herbeizuführen.“

Ausschließlich Buchstabe a) befasst sich mit der Produktsicherheit. Die Buchstaben b) und c) sind reine Qualitätsanforderungen. Der Schwerpunkt im Vorliegenden liegt deshalb auf Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Da in der Praxis auch häufig Schwierigkeiten im Umgang mit der „unvertretbaren Veränderung der Zusammensetzung“ und der „Beeinträchtigung der organoleptischen Eigenschaften“ eines Lebensmittels bestehen, soll dieser Themenbereich mit behandelt werden.

1. Regelungsadressat

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 spricht nur den Hersteller des Produktes an. Dies bedeutet aber nicht, dass die Vorschrift keinerlei Bedeutung für andere Wirtschaftsbeteiligte wie Einzel- und Großhändler oder Lebensmittelproduzenten und -verpacker hat. Über § 31 Abs. 1 LFGB wird nämlich die Brücke zu den Verwendern und Inverkehrbringern der Lebensmittelbedarfsgegenstände geschlagen, weshalb die Vorschrift für die gesamte Wertschöpfungs- und Benutzerkette einschlägig ist.

2. Gute Herstellungspraxis

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 fordert eine Produktion von Lebensmittelbedarfsgegenständen nach Guter Herstellungspraxis. Die Grundzüge sind in der Verordnung (EG) Nr. 2023/2006 festgelegt. Die Verordnung gilt materialunabhängig für alle Lebensmittelbedarfsgegenstände. Im Wesentlichen werden drei Forderungen aufgestellt. Der Produzent hat ein Qualitätssicherungssystem zu etablieren, das abhängig von der Betriebsgröße gewissen Anforderungen zu genügen hat. Zudem ist er zu bestimmten Qualitätskontrollen 41 verpflichtet. Schließlich wird eine angemessene Dokumentation bestimmter Themen gefordert. Diese kann sich zum Beispiel auf technische Aspekte wie das Herstellungsverfahren aber auch auf stoffliche Aspekte wie die Rezepturvorgaben selbst beziehen.

Eine Abweichung von der Guten Herstellungspraxis kann nicht automatisch – jedenfalls nicht für sich alleine genommen – zu einer Beanstandung nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 führen, da offensichtlich noch weitere gesetzliche Vorgaben bestehen, die kumulativ vorliegen müssen.

Umgekehrt führt eine stoffliche Abweichung, die zum Beispiel eine unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung eines Lebensmittels zur Folge hat, nicht gleichsam zu der Annahme, dass auch ein Verstoß gegen die Gute Herstellungspraxis gegeben ist.

Die Gute Herstellungspraxis in diesem Sinne soll die Grundvoraussetzung schaffen, Lebensmittelbedarfsgegenstände mit gleichbleibend hoher Qualität zu produzieren. Es geht um das System selbst. Für die konkrete Risikobewertung, das heißt die Frage, ob von einem konkreten Produkt ein Risiko für die menschliche Gesundheit ausgeht, kann sie – muss aber nicht – bestimmte Erkenntnisse liefern. So ließe sich möglicherweise überprüfen, ob die Produktion planmäßig verlaufen ist oder ob Besonderheiten aufgetreten sind. Ein einheitlicher Rohstoffeinsatz wird zu einheitlichen Fertigerzeugnissen führen; ob im Guten oder im Schlechten.

3. Normale oder vorhersehbare Verwendungsbedingungen

Die Abweichungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstaben a)–c) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 müssen „unter den normalen oder vorhersehbaren Verwendungsbedingungen“ auftreten. Die normalen, also zweckbestimmungsgemäßen, Verwendungsbedingungen werden um die vorhersehbaren erweitert. Was noch vorhersehbar ist, muss im jeweiligen Einzelfall ermittelt werden. Der gesunde Menschenverstand wird – wie so oft – der richtige Maßstab sein. Die normale und primär beabsichtigte Verwendung einer Serviette wird beispielsweise darin liegen, sich den Mund oder die Hände abzuwischen. Vorhersehbarerweise werden wohl ebenso gewisse trockene Lebensmittel, wie eine Bratwurst im Brötchen, darin „serviert“. Die normalen und vorhersehbaren Verwendungsbedingungen führen allerdings nicht alleine zu einer Erweiterung des Anwendungsbereiches der rechtlichen Vorschrift. Vielmehr geht damit auch eine Begrenzung einher, die bei der Risikobewertung zu berücksichtigen ist. So wird es den normalen beziehungsweise vorhersehbaren Verwendungsbedingungen entsprechen, Lebensmittelbedarfsgegenstände wie Küchenhelfer, Mehrwegschüsseln und Mehrweggeschirr vor ihrem Gebrauch einer haushaltsüblichen Reinigung zu unterziehen. Findet diese allgemein übliche Behandlung zum Beispiel im Rahmen einer (amtlichen) Analyse nicht statt, stellt sich die 42 Frage, ob und inwieweit die Ergebnisse repräsentativ beziehungsweise vertretbar sind.

a) Hinweis für eine sichere und sachgemäße Verwendung

Die normalen und vorhersehbaren Verwendungsbedingungen lassen sich durch Verbraucherinstruktion und -information steuern. Gemeint sind die besonderen Hinweise für eine sichere und sachgemäße Verwendung im Sinne von Art. 15 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Diese Kennzeichnungspflicht aber auch -möglichkeit besteht selbstverständlich nur so lange, wie das Produkt noch nicht mit einem Lebensmittel in Berührung gekommen ist, was in der Vorschrift als Negativvoraussetzung formuliert ist.

Die gutachterliche Bewertung muss, will sie eine verlässliche Aussage im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 produzieren, die Verwendungshinweise berücksichtigen. Der mögliche Anwendungsbereich solcher Hinweise ist groß. Praktisch bedeutsam sind Reinigungsanweisung und -anleitung, insbesondere vor erstmaliger Verwendung. Der Hersteller kann aber auch bestimmte Temperaturbereiche für die letztliche Anwendung des Lebensmittelbedarfsgegenstandes definieren (zum Beispiel: Verwendung bis maximal +200°C) oder aber Einsatzbereiche positiv herausstellen, aber auch beschränken (zum Beispiel: „Mikrowellengeeignet“ oder „Nicht für Mikrowellen geeignet“). Grundsätzlich kann die Anwendungsbeschränkung auch durch eine zeitliche Vorgabe erfolgen (zum Beispiel: „Nicht im Kochgut stehen lassen“).

Der Hinweisvielzahl sind allerdings auch Grenzen gesetzt. Diese sind dann erreicht, wenn der Hinweis dem eigentlichen Verwendungszweck des Lebensmittelbedarfsgegenstandes selbst entgegensteht. Der Temperaturhinweis für Lebensmittel „bis maximal +30 °C“ auf einem Kochtopf ist nicht akzeptabel. Die Produktkennzeichnung, Werbung und Aufmachung darf den Verbraucher nicht irreführen, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Es ist ein sachgerechter Ausgleich zwischen der sicherheitstechnisch sinnvollen Verbraucherinformation und dem naturgegebenen Anwendungsbereich eines Lebensmittelbedarfsgegenstandes zu schaffen.

b) Analytischer Gleichlauf

Da der rechtliche Bewertungsmaßstab die normalen und vorhersehbaren Verwendungsbedingungen sind, muss gleichfalls die Art und Weise der Probenaufbereitung und -analyse mit dieser Vorgabe in Einklang stehen.

Nimmt man an, dass eine Serviette vorhersehbar mit einer Bratwurst im Brötchen oder einem Stück Kuchen in Berührung kommen kann, hat sich die (amtliche) Analyse danach zu richten. In Druckfarben für Papierservietten können primäre aromatische Amine (paA) enthalten sein. Die Analyse erfolgt häufig 43 mittels Kaltwasserextraktion. Die Papierserviette wird für einen Zeitraum von 24 Stunden in Wasser „eingelegt“. Das Wasser wird danach auf paA untersucht. Wird ein Übergang von paA über der Nachweisgrenze von 0,01 mg/kg Lebensmittel festgestellt, stellt sich die Frage, wie dieser Nachweis rechtlich zu bewerten ist. Wird zur Bewertung Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 herangezogen, ist schnell festzustellen, dass die analytischen Ergebnisse auf Grundlage der Art und Weise der Probenaufbereitung schlicht keine Aussagekraft besitzen. Die voraussehbare Verwendungsbedingung der Serviette lag im Kontakt mit einer Bratwurst im Brötchen oder einem Stück Kuchen, demnach also im Kontakt mit einem weitestgehend trockenen Lebensmittel. Dass demgegenüber die Probenaufbereitung des „Einlegens“ der Servietten für 24 Stunden in Wasser, die angenommene Verwendungsbedingung nicht widerspiegelt, ist offensichtlich. Auch über die Dauer des vorhersehbaren Kontaktes im Verhältnis zur Dauer des Probenansatzes (24 Stunden) müsste bei der rechtlichen Bewertung nachgedacht werden.

So sinnvoll eine Analyse im Rahmen der Qualitätssicherungsarbeit unter diesen Maßgaben auch sein mag, eine behördliche Beanstandung ließe sich auf derartige Befunde – jedenfalls nicht auf Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 – nicht stützen. Die rechtlichen Voraussetzungen liegen schlichtweg nicht vor.

Im Rahmen der Bewertung behördlicher Beanstandungsvorgänge, aber auch der eigenen Sicherheits- und Risikobewertung, ist darauf zu achten, dass die Analytik den vorhersehbaren Verwendungsbedingungen entspricht und damit eine Aussagekraft im Sinne von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 besitzt. Sicherlich finden gemeinhin harmonisierte Prüfmethoden Anwendung. Die rechtlichen Vorgaben gebieten es allerdings, einen genauen Blick darauf zu verwenden, ob eine bestimmte Analyse und deren Ergebnisse – rein rechtlich – zu einer Beanstandung führen können.

4. Keine Bestandteile auf Lebensmittel in Mengen abgeben

Maßgeblich ist der konkrete Lebensmittelbezug. „Bestandteile“ werden schließlich nur mit dem Lebensmittel verzehrt. Relevant im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 ist erst einmal nicht die Zusammensetzung des Lebensmittelbedarfsgegenstandes. Es kommt nicht darauf an, ob bestimmte Bestandteile in diesem grundsätzlich enthalten sind. Relevant ist nur, welche Bestandteile auf ein konkretes Lebensmittel übergehen beziehungsweise dass es hierzu gerade nicht kommt. Die zusätzliche Einschränkung, dass keine Bestandteile „in Mengen“ abgegeben werden, die weitere Auswirkungen zur Folge haben, trägt dem Umstand Rechnung, dass kein Material inert ist. Eine Wechselwirkung zwischen Lebensmittelbedarfsgegenstand und dem in 44 Kontakt gebrachten Lebensmittel wird es immer geben. Der Gesetzgeber hat durch diese Formulierung also eine Erheblichkeitsschwelle eingezogen.

Fall:

Eine Silikonbackform wird auf flüchtige organische Bestandteile hin analysiert. Die Untersuchung erfolgt gravimetrisch. Vereinfacht gesagt, die Backform wird gewogen, für eine bestimmte Dauer (vier Stunden) bei einer bestimmten Temperatur (+200 °C) aufbewahrt und danach abermals gewogen. Die eingetretene Differenz der Wiegevorgänge wird errechnet. Was fehlt, sind die flüchtigen organischen Bestandteile. Die Analyse läuft ganz ohne ein konkretes Prüflebensmittel oder eine entsprechende Prüfsimulanz ab. Die verwendete Analyse kann somit keine Auskunft darüber geben, ob der in diesen Backformen zubereitete Kuchen anschließend mit flüchtigen organischen Bestandteilen angereichert ist. Der konkrete Gehalt eines Bestandteils in einem Lebensmittel wird nicht ermittelt, da nicht anzunehmen ist, dass „alles, was raus kommt“, auch von einem Lebensmittel aufgenommen wird. Unter diesen Bedingungen ist es sogar recht unwahrscheinlich, dass sich die aus dem Silikonelastomer stammenden flüchtigen organischen Bestandteile sofort im Lebensmittel „lösen“.

Da keine lebensmittelbezogenen Feststellungen getroffen wurden, kommt auch Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 als (Beanstandungs-)Grundlage nicht in Betracht.

Ein Risiko ließe sich bereits durch eigene lebensmittelbezogene Untersuchungen ausschließen. Die Sicherheits- und Risikobewertung ist an dieser Stelle beendet. Gerade die eigenständige Bewertung von (behördlichen) Beanstandungsvorgängen erfordert eine lebensnahe Betrachtung. Die analytischen Rahmenbedingungen sind einer rechtlichen „Filtration“ zu unterziehen, da die Beanstandungsgrundlage eine rechtliche Vorgabe ist.

5. Gefahr für die menschliche Gesundheit

Was genau mit einer Gefahr für die menschliche Gesundheit im Sinne der Verordnung gemeint ist, wird nicht näher konkretisiert beziehungsweise definiert. Da es allerdings um eine Gefahr geht, die durch den Konsum von betroffenen Lebensmitteln ausgelöst wird, müssen die lebensmittelrechtlichen Grundsätze zumindest sinngemäß Anwendung finden. „Gefahr“ gemäß Art. 3 Nr. 14 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ist ein biologisches, chemisches oder physikalisches Agens in einem Lebensmittel oder ein Zustand eines Lebensmittels, der eine Gesundheitsbeeinträchtigung verursachen kann. Zur Sicherheits- und Risikobewertung von Lebensmitteln, insbesondere was die Gesundheitsschädlichkeit anbelangt, wird auf Kapitel B. III. verwiesen.

Grundsätzlich sind physikalische, biologische und chemische Gefahren für die menschliche Gesundheit denkbar. Ein klarer Fokus im Produktbereich der Le 45 bensmittelbedarfsgegenstände liegt aber wegen der komplexen Strukturen auf den „chemischen Bestandteilen“. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Kapitel „Risikobewertung und Bedeutung chemischer Grenzwerte“ verwiesen.

Biologische Gefahren, die originär vom Lebensmittelbedarfsgegenstand ausgehen, sind nur eingeschränkt denkbar. Werden Fertigerzeugnisse wie Küchenhelfer und so weiter an den Verbraucher abgegeben, besteht wegen der haushaltsüblichen Reinigung vor Verwendung ein nur eingeschränkter Anwendungsbereich.

Die verpackungsherstellende Industrie von „aus der Verpackung heraus“ anwendungsfertigen Produkten hat an dieser Stelle schon eher ein Thema. Ein mögliches, wenn auch praktisch unwahrscheinliches, Szenario ist die Kontamination der Lebensmittelbedarfsgegenstände im Herstellungsbetrieb, zum Beispiel durch einen erkrankten Mitarbeiter. Da auch hier die Belehrungspflichten nach dem Infektionsschutzgesetz (§ 43 in Verbindung mit § 41 IfSG) greifen dürften, ist jedenfalls das Übertragungsrisiko gewisser gesetzlich relevanter Krankheitsbilder deutlich reduziert. Eine sinnvolle Lösung wird in der allgemeinen Produkt-, Umfeld- und Personalhygiene zu finden sein. Deshalb soll der Bereich der biologischen Gefahren, ausgehend von Lebensmittelbedarfsgegenständen, nicht näher vertieft werden.

Auch physikalische Gefahren, die ihren Ursprung in einem Lebensmittelbedarfsgegenstand finden, sind möglich. Fremdkörpereinträge als physikalische Gefahren sind nicht unüblich. Gerade durch Materialermüdungen oder -beschädigungen kann es zu einem Eintrag in das Lebensmittel kommen. Werden Schraubgläser zur Befüllung mit zum Beispiel Obst vertrieben, müssen diese so beschaffen sein, dass keine Glassplitter entstehen und letztlich im Lebensmittel vorhanden sind. Gemeint ist nicht der Glasbruch, der beim Transport oder im Lebensmittel abfüllenden Unternehmen zum Beispiel durch ein Missgeschick auftritt; Glas kann nun einmal zerbrechen. Dafür wäre allerdings primär der Logistiker beziehungsweise der Verwender zuständig. In den Pflichtenkreis des Herstellers des Lebensmittelbedarfsgegenstandes fiele dies nicht. Gemeint ist vielmehr der produktimmanente Fehler, der auch bei einem sachgerechten Umgang durch den Verwender auftritt. Der Fehler liegt also im Produkt selbst und damit auch in der Verantwortungssphäre des produzierenden Unternehmens.

Gewürzmühlen, die bei normalem Umgang aufgrund ihrer Konstruktion beziehungsweise Materialbeschaffenheit des Mahlwerkes dazu neigen, Glassplitter oder Hartplastikteile bei dem Mahlvorgang entstehen zu lassen, können ein Thema der physikalischen Gefahr sein. Selbstredend kommt es dann aber noch auf den konkret entstandenen Fremdkörper an. Maßgeblich für die Sicherheits- und Risikobewertung sind Parameter wie die Größe des Fremdkörpers, seine 46 Sichtbarkeit und ob dieser zum Beispiel scharfkantig ist und dadurch Verletzungen im Mundinnenraum oder dem Magen- und Darmtrakt verursachen kann.

6. Unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung der Lebensmittel

Gibt ein Lebensmittelbedarfsgegenstand Bestandteile in einer Menge ab, die eine unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung der Lebensmittel zur Folge hat, ist er nicht verkehrsfähig, Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004.

Betroffen ist die technische Verkehrsfähigkeit. Die Sicherheit des Lebensmittelbedarfsgegenstandes ist hingegen nicht berührt. Dies ergibt sich unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004, der bereits das Sicherheitsthema der „Gesundheitsgefahr“ abschließend regelt. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber hier eine redundante Regelung hätte schaffen wollen. Es liegt auf der Hand, dass Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 etwas anderes regelt, nämlich die reine Produktqualität. Da aber lediglich die Produktqualität im Fokus steht, lassen sich aus einer entsprechenden Verletzungshandlung folgerichtig keine marktbezogenen Maßnahmen herleiten. Marktbezogene Maßnahmen kommen, da sie sehr einschneidende Mittel sind, nur bei „echten“ Sicherheitsbeeinträchtigungen in Betracht. Ebenso wenig ist eine Abweichung gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 in das RASFF-Schnellwarnsystem zu melden. Die rein qualitative Abweichung stellt offensichtlich kein ernstes Risiko für die menschliche Gesundheit dar. Läge doch ein solches Risiko vor, wäre Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a) und nicht Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 einschlägig.

Für den behördlichen Umgang mit dem RASFF-Schnellwarnsystem gibt es die sogenannte „Allgemeine Verwaltungsvorschrift Schnellwarnsystem“ (AVV SWS). Dabei handelt es sich nicht um ein Gesetz. Die AVV SWS ist rechtlich nicht bindend. Allgemeine Verwaltungsvorschriften sollen eine Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzuges sicherstellen. In § 7 Buchstabe a) AVV SWS sind die Kriterien für Meldungen zu Lebensmittelbedarfsgegenständen geregelt. Diese stellt noch einmal klar, dass eine RASFF-Schnellwarnmeldung ausschließlich bei dem Vorliegen eines ernsten Risikos für die menschliche Gesundheit abzusetzen ist. Dies kann nicht oft genug betont werden, da in der Praxis eine Vielzahl an RASFF-Schnellwarnmeldungen unter dem Deckmantel der „reinen Informationsmeldung“ existieren, die kein ernstes Risiko zum Gegenstand haben und somit eindeutig nicht dem Gesetz entsprechen.

§ 7a Abs. 2 AVV SWS enthält eine beispielhafte Aufzählung von Fällen, die das Vorliegen eines ernsten Risikos nahelegen. Die Aufzählung ersetzt aber nicht die Risikobewertung im Einzelfall, sondern liefert allenfalls ein erstes Kriterium zur behördlichen Vorsortierung bestimmter Fallkonstellationen.

47 § 7a Abs. 3 AVV SWS gibt an, in welchen Konstellationen eine behördliche Prüfung angezeigt ist. Soweit in Abs. 3 Nr. 4 exemplarisch auf eine unvertretbare Zusammensetzung der Lebensmittel nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 verwiesen wird, ist dies nicht misszuverstehen. Die AVV SWS vermutet nicht, dass bei Abweichungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 ein ernstes Risiko für die menschliche Gesundheit besteht, sondern verlangt lediglich eine behördliche Prüfung. Anderenfalls würde die AVV SWS nicht nur gegen Art. 50ff. der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, sondern auch gegen Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 verstoßen.

Die unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung der Lebensmittel ist für sich genommen kein Meldekriterium für eine RASFF-Schnellwarnmeldung.

Was aber wollte der europäische Gesetzgeber begrenzen, wenn er die unvertretbare Veränderung der Zusammensetzung der Lebensmittel verbietet? Eine klare Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Eine gesetzliche Definition fehlt. Fakt ist, es muss ein verbindlicher und gleichzeitig objektivierbarer Bewertungsmaßstab herangezogen werden. Ein und dieselbe Abgabe von Bestandteilen kann nicht auf der einen Seite zu einer Beanstandung führen und auf der anderen Seite unbeanstandet bleiben. Etwas anderes ist dem Recht fremd.

Beispiel:

Die Untersuchung von Holzkochlöffeln zeigt, dass es bei einem Kochtest mit klarem Wasser zu einem deutlichen Übergang von Bestandteilen in die Prüfsimulanz kommt. Diese ist auch optisch durch eine Verfärbung sichtbar. Ist diese Abgabe aus dem Naturprodukt Holz als eine unvertretbare Beeinträchtigung der Zusammensetzung der Lebensmittel zu werten?

Die Beantwortung dieser Frage soll zunächst zurückgestellt werden.

Weiteres Beispiel:

Ein Premium-Winzer stellt einen exklusiven Bordeaux her. Der Rotwein wird in einem Barriquefass ausgebaut. Gegenüber den anderen in Edelstahltanks gelagerten Weinen kommt es bei der Verkostung zu einem deutlich wahrnehmbaren Unterschied. Der im Barriquefass gelagerte Wein zeigt deutliche „Abweichungen“ gegenüber den weiteren Verkostungen (Wein, der in Edelstahltanks gereift ist). Hat das Barriquefass eine unvertretbare Beeinträchtigung der Zusammensetzung des Lebensmittels bewirkt?

Der Kochlöffel ist ebenso wie das Barriquefass ein Lebensmittelbedarfsgegenstand. Auch das Material ist identisch. Beide Produkte sind in Wechselwirkung mit den Lebensmitteln getreten, die jedenfalls eine Veränderung der Zusammensetzung zur Folge hatte.

Kann es also möglich sein, dass ein und dieselbe Veränderung einmal eine unvertretbare Beeinträchtigung der Zusammensetzung des Lebensmittels darstellt 48 und ein anderes Mal nicht? In diesem Zusammenhang wird die „Beeinträchtigung“ als etwas Negatives und Unerwünschtes beschrieben, weshalb der Barriqueausbau keine Beanstandung nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) beziehungsweise auch c) Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 rechtfertigt (zu den organoleptischen Beeinträchtigungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe c) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 siehe auch Kapitel C. II. 7.). Der Barriqueausbau findet ja gerade gewollt und zur Veredlung statt. Wo aber verläuft die Grenze? Weshalb sollte man einen Holzkochlöffel genau aus diesem Grund beanstanden können? Wäre eine Beanstandung des Holzkochlöffels auch dann noch richtig, wenn auf ihm die werbliche Auslobung „Sorgt für ein unverkennbares Holzaroma“ zu finden ist?

Im Wesentlichen gleichgelagerte Sachverhalte sind schon nach dem Grundgesetz und den europäischen Grundrechten gleich zu behandeln.

Da es eine lange Tradition ist, Wein und Spirituosen durch Barriqueausbau zu veredeln, kann die Wechselwirkung zwischen Holz und Lebensmittel nicht per se beanstandet werden, wollte man nicht mit allgemeinen rechtstaatlichen Grundsätzen brechen. Allein diese Beispielsfälle zeigen die praktischen Anwendungsprobleme der Vorschrift recht deutlich auf und lassen sich so auch eins zu eins auf die Beeinträchtigungen der organoleptischen Eigenschaften eines Lebensmittels im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe c) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 übertragen. Es ist nicht immer ganz leicht, die Beeinträchtigung der Zusammensetzung des Lebensmittels von der reinen organoleptischen Beeinträchtigung abzugrenzen. Das „Holzkochlöffel-/Barriquefass-Beispiel“ kann also sinngemäß für beide gesetzlichen Alternativen dienen.

Die Schwierigkeiten der praktischen Anwendung gehen von der Begrifflichkeit „unvertretbare Beeinträchtigung“ aus. Der Gesetzgeber macht deutlich, dass nicht jede Beeinträchtigung, also negative Abweichungen, bereits für eine Beanstandung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 ausreicht. Diese muss vielmehr unvertretbar, das heißt unannehmbar oder untragbar, sein. Es wird eine sehr hohe Erheblichkeits- und Relevanzgrenze statuiert. Diese wird in der Praxis nur allzu oft vernachlässigt. Die nachvollziehbare Begründung, weshalb im Einzelfall eine unvertretbare Beeinträchtigung angenommen wird, ist unerlässlich und kann nicht durch Pauschalaussagen oder die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlautes ersetzt werden.

Unvertretbare Beeinträchtigungen werden zudem aus Leitlinien (zum Beispiel: Metals and alloys used in food contact materials and articles des Europarates) oder aber Empfehlungen (zum Beispiel: BfR-Empfehlungen zu Materialien für den Lebensmittelkontakt – ehemals „Kunststoffempfehlungen“) abgeleitet. Es handelt sich nicht um Rechtsnormen. Aus diesem Grund können diese Dokumente eine sinnvolle Ergänzung der rechtlich-verbindlichen Vorgaben sein. Eine unmittelbare (rechtliche) Wirkung kann damit aber nicht verbunden wer 49 den. Es liegt allein in der Zuständigkeit des nationalen beziehungsweise europäischen Gesetzgebers verbindliche Grenzwerte festzulegen. Werden Empfehlungswerte zur fachlichen Beurteilung von Einzelbefunden herangezogen, können diese nicht gleich einem gesetzlichen Grenzwert behandelt werden. Die Annahme, dass die Überschreitung eines Empfehlungswertes des BfR automatisch eine unvertretbare Beeinträchtigung der Zusammensetzung der Lebensmittel zur Folge hat, kann vor diesem Hintergrund nicht richtig sein.

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 ist harmonisiertes Europarecht:

„Zweck der Verordnung ist es, das wirksame Funktionieren des Binnenmarktes in Bezug auf das Inverkehrbringen von Materialien und Gegenständen in der Gemeinschaft sicherzustellen, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, und gleichzeitig die Grundlage für ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Verbraucherinteressen zu schaffen“, Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004.

Dieser Zweck kann nicht erreicht werden, wenn die zwingende Anwendung von Verordnungsvorgaben insbesondere nationalen Empfehlungen und Leitlinien überlassen bleibt. Insofern ist auch – und dies soll in keiner Weise die Bedeutsamkeit von Leitlinien und Empfehlungen schmälern – weiterhin eine eigenständige rechtliche Prüfung angezeigt, jedenfalls dann, wenn eine Beanstandung gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 ausgesprochen werden soll.

7. Beeinträchtigung der organoleptischen Eigenschaften der Lebensmittel

Lebensmittelbedarfsgegenstände dürfen keine negativ sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen der in Kontakt gebrachten Lebensmittel bewirken. Die Ära, dass das bei einer Fahrradtour mitgeführte Erfrischungsgetränk so riecht und schmeckt wie die Sportflasche selbst, geht zu Ende. Der Qualitätsanspruch ist stark gestiegen. Die Sensorik von Lebensmittelbedarfsgegenständen ist kein Sicherheitsthema. Eine geruchliche oder geschmackliche Auswirkung auf Lebensmittel ist einfach nicht erwünscht. Die Forderung nach marktbezogenen Maßnahmen (zum Beispiel einem öffentlichen Rückruf) oder die Absicht der Einstellung in das RASFF-Schnellwarnsystem ist deplatziert. Die Sensorik ist eine eigenständige gesetzliche Anforderung. Eine Art „Beweislastumkehr“ würde diesem Umstand nicht hinreichend Rechnung tragen und die Sensorik zu Unrecht begrenzen. Gemeint ist, dass die Feststellung einer sensorischen Beeinträchtigung keinesfalls die Pflicht des Unternehmers auslöst, nachzuweisen, dass von den sensorisch auffälligen Komponenten keine Gesundheitsgefahr ausgeht. Soll eine Beanstandung über die Sensorik hinaus auch wegen einer Gesundheitsgefahr 50 ausgesprochen werden, ist diese behördlich zu ermitteln und nicht vom jeweiligen Unternehmer zu widerlegen.

Da die Sensorik eine stark subjektiv geprägte Methode ist, erfolgt eine Objektivierung über die strikte Einhaltung der methodischen und statistischen Rahmenbedingungen. Nur so kann ein statistisch vertretbares Ergebnis erzielt und eine Beanstandung überhaupt darauf gestützt werden. Eine ausreichende Anzahl fachlich geschulter und geeigneter Prüfpersonen ist unerlässlich. Die sensorischen Prüfungen werden weitestgehend in DIN-Normen („harmonisierte Normen“) beschrieben, die zu einer Vergleichbarkeit und Verobjektivierung führen sollen. Die genaue Einhaltung ist nicht nur geboten, sondern auch im Rahmen des Untersuchungsverfahrens zu dokumentieren.

 
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