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CNL 2024, 8
Jüttner 

Kolumne: Spielräume erkennen

Wie bereits in den vorherigen Kolumnen ausführlich skizziert, ist ein sogenanntes Compliance-Management-System (CMS) vielfach erwarteter und inzwischen auch etablierter Standard in Unternehmen. Das CMS ist dabei idealiter in das Unternehmen, das heißt in die jeweilige Organisation, eingebettet, die wiederum ein soziales, komplexes, emergentes System darstellt. Dies hat zur Konsequenz, dass ein Compliance-Beauftragter, nicht nur Kenntnisse über die Ausgestaltung des planerischen, standardisierten CMS vorzuweisen hat, sondern auch, wie dieses CMS in seiner/ihrer mitunter chaotischen, nicht immer vorhersehbaren Organisation zu implementieren ist.

Abbildung 11

Spielräume erkennen: Compliance Management zu managen bedeutet, verschiedene Ebenen im Griff zu haben.

Die Implementierung eines CMS ist in der Praxis nicht einfach zu bewerkstelligen, wie die vielen Compliance-Skandale trotz Existenz eines zum Teil sogar zertifizierten, auditierten CMS zeigen. Die Schwierigkeit liegt insbesondere darin begründet, dass ein CMS sogleich auf drei Ebenen (was öfters aber übersehen wird) der Organisation Einfluss nimmt: erstens auf der sogenannten formalen Seite, weil das CMS beispielsweise neue Regeln aufstellt, zweistens auf der sogenannten informalen Seite, also der tatsächlichen Ebene, des „so machen wir es hier wirklich“ und schließlich drittens auf der sogenannten Schauseite. So haben Organisation den Hang, sich nach Außen in Sachen Compliance, Integrität etc. sehr heldenhaft zu positionieren. Aber auch interne Abteilungen der sogenannten „first line“ lassen die Compliance-Funktion nicht gern hinter die Fassade schauen.

Die Herausforderung besteht dementsprechend darin, beim Vorhalten des CMS alle drei Seiten im Blick zu haben. Denn es besteht immer bei Compliance – aber nicht nur hier – die Gefahr einer Diskrepanz zwischen offizieller Darstellung, formalem System und praktizierter Wirklichkeit, zwischen „talk“, „decision“ und „action“. Sind die Diskrepanzen, das heißt die Entkopplungen der drei Ebenen, zu groß, haben Unternehmen früher oder später mit einer Legitimationskrise zu kämpfen, mit all den negativen Konsequenzen eines Compliance-Skandals. Wie man dies letztlich vermeidet, was man letztlich benötigt, damit ein CMS tatsächlich in der Organisation verfängt? Ganz einfach: Managementkenntnisse und -fähigkeiten. Insofern sollte der Fokus der Aufgabenstellung nicht nur im „Compliance Management“ liegen, sondern vielmehr auch im „Management des Compliance Managements“ (vgl. auch Kette/Barnutz 2019, 40).

Dies impliziert eine Auseinandersetzung mit bzw. ein Verständnis darüber, was organisationssensibles Management bedeutet und was es im Kern ausmacht:

Zunächst ist zu empfehlen, zwischen „manege“ und „menage“ zu unterscheiden, denn es impliziert die Art und Weise, nach welcher (inzidenten) Vorstellung man Compliance in einer Organisation managed. Nach Williams (1983) wurde das englische Verb „to manage“ ursprünglich vom italienischen „maneggiare“ abgeleitet, was soviel wie Pferde hüten und trainieren bedeutet. In dieser Bedeutung liegt der Schwerpunkt auf dem Lernen mit, dem Einhalten von, der Anpassung an, dem Respekt vor und der Arbeit mit einer anderen komplexen Einheit: dem Pferd. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschmolz diese ursprüngliche Bedeutung mit dem französischen Begriff „menage“ (Haushalt), was letztlich zu dem kombinierten Begriff „manage“ führte. Durch die zunehmende Entfernung vom ursprünglichen italienischen Begriff und der Orientierung, einen Haushalt zu managen, erhielt die aus der industriellen Revolution gängige Vorstellung von der Organisation als maschinenähnlich, prognostizierbar und geordnet Eingang in den Managementalltag. Dies ist aber auch für das Management von Organisationen wenig ratsam, wie Kurtz/Snowden darlegen: „Common perceptions of the work world as machine-like and ordered, and thus subject to the rules of order, are cultural legacies of the industrial revolution that still blind us to the fact that organisations are in fact complex adaptive systems. […] The naturalistic approach we have advocated, in effect a return to manege rather than menage, is the most effective way to achieve results in organisations made up of real people. […] it simply requires us to unlearn the practices that arise from a menage directorial tradition of management theory and relearn what we already know to be true of the manege multiplex world we live in.“

Desweiteren bedeutet organisationssensibles Management, wie bereits dargelegt, ein Grundverständnis über die sogenannten drei Seiten bzw. darüber, was eine Organisation im institutionellen Sinne ist, was sie ausmacht, wie die Akteure in ihr Entscheidungen treffen usw. – gerade vor dem Hintergrund von Compliance: J. A. Waters, der sich schon recht früh mit großen Wirtschaftsskandalen auseinandergesetzt hat, hat die organisatorischen und kontextuellen Wurzeln der Probleme klar benannt. Er schreibt plastisch: „Statt zu fragen: ‚Was geht in den Leuten vor, dass sie auf diese Weise handeln‘, sollten wir fragen: ‚Was geht in der Organisation vor, dass sie Menschen veranlasst, in dieser Weise zu handeln?‘“ (Noll 2014, 10).

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Compliance nicht nur eine „kritische Managementfunktion“ (Rick 2018, 5) darstellt, sondern auch organisationsklug bzw. organisationssensibel zu managen ist. Letzteres ist eine dynamische Tätigkeit, keine statische Wissenschaft. Folgt man dem bekannten Organisationsforscher Mintzberg spielt sich managen im Dreieck zwischen Kunst, Handwerk und der Anwendung von Wissenschaft ab. „In diesem Dreieck zwischen Kunst, Handwerk und Wissenschaft gilt es, Widersprüche und Dilemmata auszuhalten, sich in Labyrinthen zu bewähren, Balanceakte zu wagen. Der Managementpionier Chester Barnard sah schon im Jahre 1938 die Managementfunktion darin, widerstreitende Kräfte, Interessen, Bedingungen, Positionen und Ideale miteinander zu versöhnen. „Wer versucht, ihnen zu entkommen“, schließt sich Mintzberg an, „verfällt einem Management-Dogma, von denen wir schon mehr als genug hatten.“ (Stahl, FAZ 2011). Wirksames, mithin erfolgreiches Compliance Management ist somit eine praktische, situationsgebundene Tätigkeit, die vorrangig von der Erfahrung lebt.

Markus Jüttner

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Markus Jüttner ist Rechtsanwalt und Partner des Fachbereichs Forensic & Integrity Services, Ernst & Young GmbH. Er berät Unternehmen in Fragen der Compliance, der Kultur und der Integrität. markus.juettner@de.ey.com

 
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