Die letzte Seite
Birgit Kieschnick
1989 war ein Glücksfall in der Geschichte – Verteidigen wir die Demokratie! Los jetzt!
Wie lebt es sich in einer Region, wo man einerseits für sein Engagement vom Bundespräsidenten eingeladen und andererseits als “Nestbeschmutzer” gesehen wird? Wie lebt es sich in einer Region, in der antisemitische Verschwörungsmythen in Teilen der Gesellschaft fast schon zum guten Ton gehören, die notwendige Brandmauer hingegen als Ausgrenzung missdeutet wird?
Wenn ich über mein Leben in Bautzen in Sachsen erzähle, dann werde ich oft gefragt: Wie hält man denn sowas aus? Seit im Jahr 2014 die sogenannten Friedensmahnwachen auftauchten und ich die Gefahr der antisemitischen Querfrontstrategie erkannte, kläre ich auf. In unserer Stadt wurde Verschwörungsideologie massiv salonfähig gemacht und Politiker hielten sogar Grußworte bei den sogenannten Friedenspreisverleihungen. Unternehmer (hier wird bewusst nur die männliche Form verwendet, um zu betonen, dass es sich dabei vor allem um Männer handelt). finanzierten verschwörungsideologische Zeitungen, die in großer Stückzahl verteilt wurden. Es entstand eine Gegenöffentlichkeit mit erheblichem Einfluss. Viele denken vielleicht, “sowas” gäbe es in ihrer Umgebung nicht. Da muss ich widersprechen. Es genügt oft ein Gang in den Bioladen, um mit Esoterik, Anthroposophie, Impfablehnung, der Anastasia-Bewegung oder Reichsbürger-Gruppierungen in Berührung zu kommen. Alternative Lebensmodelle wirken auf den ersten Blick bunt, können innen drin mitunter aber tiefbraun sein. Zum Sturm auf den Reichstag wurden die Massen aufgehetzt von einer Heilpraktikerin. Als die Querdenken-Bewegung im Zuge von Corona sichtbar wurde, meinten viele, das sei etwas Neues. Nein, war es nicht.
Es gibt allerdings einen sehr wichtigen Unterschied zwischen dem Engagement für Demokratie in einer Metropole und dem Engagement im kleinstädtischen oder ländlichen Bereich. Hier kennt jeder jeden. Mit dem Spielwarenhändler war ich per du, bis er mich für seine Querfront-Bewegung werben wollte. Als Beamtin war ich allerdings schon Reichsbürger-geschult und roch den gefährlichen Braten sofort.
Wenn wir das “Nie wieder ist jetzt!” ernst nehmen wollen, dann können wir bei der massiven Verbreitung von russischer Desinformation und Antisemitismus nicht die Klappe halten, bloß weil wir diese Menschen gut kennen. Entweder haben wir aus der Geschichte gelernt und machen, was gemacht werden muss, oder wir verteidigen Demokratie und Rechtsstaat eben nicht. Wir verlieren, wenn wir uns von der Angst leiten lassen.
Verschwörungsideologien sind ein weltweites Problem. Gibt es ostdeutsche Besonderheiten? Ich kann hier nur von mir berichten. Ich habe meine Kindheit in Ostritz verbracht. Im “Tal der Ahnungslosen” ohne Westfernsehen. Als Schulbeste durfte ich wegen der fehlenden Jugendweihe nicht auf die EOS. Die Zeit in der DDR hat bei mir ein unglaubliches Unrechtsbewusstsein erzeugt. Ich bin so dankbar für die friedliche Revolution und die Freiheit. Ich habe meinen Weg nach der unfreiwilligen Bergbaulehre gemacht, habe Geodäsie studiert und die Beamtenlaufbahnausbildung in Baden-Württemberg absolviert. Ich war anerkannt und wurde geschätzt. Ich erlebte ehrliches Interesse und Neugier im Westen. Ich war immer laut, wenn es um Diskriminierung ging. War immer kämpferisch bei Ungerechtigkeiten. Als die Kinder kamen, engagierte ich mich für Kita- und Schul-Belange, für eine familienfreundliche Stadt. Und ich habe viel erreicht. Ich käme nie auf die Idee, Russland zu glorifizieren. Welche psychologischen Dinge hier greifen, da kann ich nur spekulieren. Es wirken zwei nicht aufgearbeitete Diktaturen, Angst, antisemitische Denkmuster und autoritäre Erziehung. Menschen glauben, dass Unterwerfung sie schützt. Es werden ganz viele menschenfeindliche Dinge von Generation zu Generation weitergegeben, die oft überhaupt nicht als völkisch oder antisemitisch reflektiert werden. Lass das Kind nicht impfen, denn Impfen ist Gift. Das Durchmachen der Krankheit macht das Kind stark. Lass das Kind schreien. Zu viel Liebe verzärtelt es nur. Mach lieber nicht den Mund auf, das bringt dir nur Ärger. War früher so, ist heute so. Und so weiter und so fort.
Warum mache ich weiter? Weil Engagement Selbstwirksamkeit erzeugt. Das macht zufrieden und glücklich. Andere Menschen sehen das und fühlen sich ermutigt. Es entstehen positive Bewegungen. Wenn man Mitstreiter*innen hat, dann bietet das auch Schutz vor Übergriffen. Es muss klar vermittelt werden, dass antisemitische Lügen keine Meinungen sind. Es ist ein Fehler, antisemitische Aussagen als Sorgen durchgehen zu lassen, nur um vermeintlich Wähler*innenstimmen zu bekommen. Das wertet Verschwörungsideologen auf und stärkt die Zerstörer*innen unserer Demokratie.
Birgit Kieschnick wurde 1970 in Görlitz geboren. Nach Bergbaulehre, Studium und Laufbahnausbildung arbeitet sie in der Vermessungsverwaltung und engagiert sich ehrenamtlich in Bautzen für Politische Bildung in der Fraueninitiative sowie bei #B96begradigen.