Es ist wie im echten Leben: Im Beihilfenrecht kommt es entscheidend auf den Zeitpunkt an
Für die Zuständigkeit der Kommission ist die Gewährung der Beihilfe entscheidend
Auch über 15 Jahre nach dem Beitritt Rumäniens zur EU sind die Unionsgerichte immer noch mit offenen Fragen im Zusammenhang mit so genannten “Intra-EU-BITs” befasst. Dies verdeutlicht ein am 25. 1. 2022 in der Rechtssache C-638/19 P, European Food ergangenes Urteil des EuGH. Dieses Urteil festigt die bisherige Spruchpraxis zur Frage des Zeitpunkts der Gewährung einer Beihilfe und hat daher auch über den Anwendungsbereich der bilateralen Investitionsschutzabkommen Bedeutung für das EU-Beihilfenrecht.
Intra-EU-BITs sind bilaterale Investitionsschutzabkommen, die überwiegend vor den EU-Erweiterungen von 2004, 2007 und 2013 zwischen Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten mit dem Ziel abgeschlossen wurden, privaten Investitionsentscheidungen mehr Rechtssicherheit zu gewähren. Zu diesem Zweck sahen diese Abkommen u. a. Entschädigungsregelungen bei Enteignungen vor und regelten die Zuständigkeit von Schiedsgerichten für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Unterzeichnerländern.
Mit seinem Urteil in der Rechtssache Achmea (EuGH, 6. 3. 2018 – C-284/16, Slowakische Republik/Achmea BV) stufte der EuGH derartige Abkommen als unionsrechtswidrig ein. Einen Verstoß gegen Art. 267 und Art. 344 AEUV sieht der EuGH in der Tatsache, dass sich Schiedsgerichte zwar mit der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts befassen, aber nicht befugt sind, im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren den EuGH anzurufen. Bei solchen Schiedsgerichten handelt es sich nicht um Gerichte im Sinne des Art. 267 AEUV. Hierdurch werden solche Rechtsstreitigkeiten der Zuständigkeit der nationalen Gerichte und damit dem System gerichtlicher Rechtsbehelfe im Anwendungsbereich des Unionsrechts entzogen.
Die Kommission sieht darüber hinaus einen weiteren Verstoß der Intra-EU-BITs gegen das Unionsrecht, da die Schadensersatzleistungen auf Grundlage eines Schiedsspruchs eine rechtswidrige staatliche Beihilfe gem. Art. 107 Abs. 1 AEUV zugunsten des Investors enthalten.
Mit dieser Frage hatten sich die europäischen Gerichte in dem Verfahren European Food zu beschäftigen. Dabei ging es insbesondere um die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Kommission für die beihilferechtliche Überprüfung einer Maßnahme zuständig ist.
Im Jahr 2002 hatten Schweden und Rumänien ein BIT geschlossen, das im Kern die bereits beschriebenen Regelungen enthielt. Zu diesem Zeitpunkt galt in Rumänien eine Verordnung, die durch Steuerermäßigungen Investitionsanreize zugunsten ausländischer Investoren schaffen sollte. Im Rahmen der Gespräche zu seinem EU-Beitritt hob Rumänien im Jahr 2005 die Verordnung auf.
Eine Reihe schwedischer Investoren war der Auffassung, die Aufhebung der Steuerermäßigungen verstoße gegen die in dem BIT geregelte Verpflichtung Rumäniens. Mit Schiedsspruch vom 11. 12. 2013 verurteilte das eingesetzte Schiedsgericht Rumänien dazu, den Investoren eine Entschädigung zu zahlen, die Rumänien trotz Aussetzungsanordnung der Kommission gem. Art. 11 Abs. 1 VO 659/1999 auszahlte. Mit Beschluss (EU) 2015/1470 vom 30. 3. 2015 (SA. 38517 (2014/C) (ex 2014/NN)) stufte die Kommission die Entschädigungszahlung als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe ein. Aufgrund einer Nichtigkeitsklage mehrerer Investoren hob das EuG 2019 diesen Beschluss mit der Begründung auf, die Kommission sei für die Beurteilung eines Sachverhalts, der vor Beitritt eines Mitgliedstaates zur EU stattgefunden habe, nicht zuständig (EuG, 18. 6. 2019 – T-624/15, T-694/15 und T-704-15, Kommission/European Food u. a.).
Der nunmehr mit dem Rechtsmittel befasste EuGH entschied, dass es für die Frage der Zuständigkeit der Kommission gemäß Art. 108 AEUV auf den Zeitpunkt der Gewährung einer Beihilfe ankomme und bestätigte damit seine bisherige Spruchpraxis (EuGH, 21. 3. 2013 – C-129/12, Magdeburger Mühlenwerke, Rn. 40 ff.).
Entscheidend kommt es für die Bestimmung des Zeitpunkts der Gewährung darauf an, wann der Empfänger nach geltendem nationalen Recht einen sicheren Rechtsanspruch auf die Beihilfe erhält. Der Anspruch auf Schadensersatz beruht hier zwar auf Ereignissen vor dem EU-Beitritt Rumäniens. Das Bestehen und die Höhe des Anspruchs sind jedoch erst durch den Schiedsspruch am 11. 12. 2013 konkretisiert worden und damit der Anspruch auf Gewährung der Beihilfe erst nach dem Beitritt Rumäniens entstanden. Als Konsequenz über den Anwendungsbereich der Intra-EU-BITs hinaus ist damit auch festzustellen, dass ein Verstoß gegen das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 AEUV erst vorliegt, wenn eine Beihilfe gewährt wurde, d. h. der Beihilfenempfänger einen tatsächlichen Anspruch erworben hat.
Auch wenn der EuGH damit den Ansatz der Kommission bestätigt, hat nun das EuG nach Zurückverweisung durch den EuGH über die materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses, insbesondere über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu entscheiden. Der Ausgang dieses Verfahren ist immer noch von größtem Interesse, da auch nach Abschluss der meisten Intra-EU-Bits vor über zehn Jahren derzeit noch zahlreiche Intra-EU-Klagen beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) anhängig sind.
Christopher Hanke, Rechtsanwalt, und
Gabriele Quardt, Rechtsanwältin, Berlin