Genügt EU-Klima- und Naturschutz nach EGMR-Urteil?
EGMR-Urteil erfordert Verabschiedung der EU-RenaturierungsVO
Das EGMR-Urteil gegen die Schweiz vom 9. 4. 2024 (Appl. Nr. 53600/20) ist bahnbrechend: Es etabliert ein Menschenrecht auf Klimaschutz, und zwar nicht nur für die nachfolgenden Generationen, sondern für die Älteren, wenngleich für diese nur der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz klagen konnte (locus standi statt actio popularis). Gerade sie sind besonders von Hitzewellen betroffen. Auch vor den Folgen des Klimawandels müssen die EMRK-Vertragsstaaten wirksam schützen, und zwar erfolgsbezogen und tatsächlich, auch wenn sie traditionell einen weiten Einschätzungsspielraum haben (“margin of appreciation”).
Zum Klimaschutz gehört inzwischen auch ein wirksamer Naturschutz. Gegen Hitzewellen schützt eine verbesserte Natur. Grünflächen und Baumüberhänge in Städten wirken besonders exzessiven Temperaturen in Innenstädten entgegen. Solche Maßnahmen sieht die EU-Renaturierungsverordnung vor (Art. 8). In der vom Parlament am 27. 2. 2024 angenommenen Fassung ist weiter festgelegt, dass die EU-Staaten gestuft Lebensräume, die sich in schlechtem Zustand befinden, wiederherstellen müssen, und zwar bis 2030 mindestens 30 %, bis 2040 60 % und bis 2050 90 % (Art. 4, 5). Diese Pflicht bezieht sich auf sanierungsbedürftige Ökosysteme. Diese Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme trägt dazu bei, die Klima- und Artenschutzziele der EU zu verwirklichen. Indes wurde die Abstimmung im EU-Umweltrat über die EU-Renaturierungsverordnung am 25. 3. 2024 durch die belgische Präsidentschaft von der Tagesordnung genommen, weil Ungarn signalisierte, nicht zuzustimmen. Damit war eine Mehrheit nicht mehr gesichert. Dabei war die EU-Renaturierungsverordnung am 27. 2. 2024 nach langen Diskussionen im Europäischen Parlament und vorheriger Einigung mit den Mitgliedstaaten und der Kommission nach monatelangen Trilogverhandlungen angenommen worden, und zwar mit knapper Mehrheit, nämlich mit 329 Stimmen bei 24 Enthaltungen und 275 Nein-Stimmen.
Dieses Defizit bleibt, auch wenn das EU-Klimapaket “Fit for 55” zahlreiche Maßnahmen nennt und davon viele auf den Weg gebracht wurden (Novelle der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III), der Gebäude-Richtlinie, Reform des Emissionshandels (EU-ETS) und Ausweitung in ETS 2 auf Verkehr und Gebäude etc.). Diese Maßnahmen betreffen die CO2-Reduktion, nicht aber den Schutz vor den Folgen des Klimawandels, der in Art. 5 EU-Klimagesetz gleichgewichtig benannt wird. Gerade die im EGMR-Urteil problematisierten Hitzewellen bleiben in ihren Auswirkungen insbesondere auf ältere Menschen unerfasst. Das EGMR-Urteil legt daher eine Verabschiedung der EU-Renaturierungsverordnung zumindest nahe, wenn sie diese nicht sogar fordert.
Zwar bindet das EGMR-Urteil nach Art. 46 EMRK nur die beklagte Schweiz. Indes gelten die getroffenen Aussagen allgemein: Art. 1 EMRK enthält die Verpflichtung der Vertragsstaaten, die niedergelegten Rechte auch zu gewährleisten; die Reichweite dieser Rechte festzulegen obliegt nach Art. 32 EMRK dem EGMR. Dieser konkretisiert mit seinem Urteil maßgeblich Art. 8 EMRK, welcher schon bislang der Ansatzpunkt für Umweltschutzjudikate des EGMR war. Damit konkretisiert der EGMR den Gehalt eines wesentlichen Artikels der EMRK.
Allerdings ist die EU gerade nicht Vertragspartei der EMRK. Der EuGH stellte hierfür sehr hohe Hürden auf und verhinderte damit den bereits vorgesehenen Beitritt zur EMRK. Indes ist die EMRK wesentliche Grundlage für die Auslegung der EU-Grundrechtecharta, welche nach Art. 6 Abs. 1 EUV die Unionsorgane bindet. Darüber findet daher auch die Rechtsprechung des EGMR Eingang. Art. 52 Abs. 3 EGRC ist dynamisch zu verstehen und bezieht die weitere Rechtsprechungsentwicklung mit ein. Er verlangt auch nicht, dass die jeweils einschlägigen Rechte identische Formulierungen aufweisen; es ist im Einzelnen durch Auslegung zu ermitteln, wann eine Entsprechung von EMRK und EGRC vorliegt. Dafür genügt, dass derselbe Lebensbereich geschützt wird, was hier der Fall ist, selbst wenn ein Klimaschutzgrundrecht in der EU auf Art. 1, 2 oder 3 EGRC und nicht auf Art. 7 EGRC gestützt werden sollte (näher Frenz, Hdb Europarecht 4/I: Europäische Grundrechte: Allgemeine Lehre, personenbezogene und kommunikative Grundrechte, Klimaschutzansprüche, 2. Aufl. 2024, Rn. 48 ff., 985 ff., 1047 ff., 1112 ff., 1424 ff. m. w. N.).
Das EGMR-Urteil gegen die Schweiz schlägt damit auch auf die EU durch, auch wenn der EuGH im Urteil Carvalho vom 25. 3. 2021 – Rs. C-565/19 P Klimaschutzklagen als unzulässig abwies und die EU nicht der EMRK beigetreten ist. Bislang hielt sich der EuGH im Wesentlichen an die Spruchpraxis aus Straßburg. Daher darf gespannt abgewartet werden, wann das erste Klimaschutzurteil aus Luxemburg kommt. Der Unionsgesetzgeber hat sich an das Klimaschutzgrundrecht schon jetzt zu halten und muss hinreichend scharfe Regelungen treffen sowie Erfolge vorweisen – etwa durch eine EU-Renaturierungsverordnung mit einem hinreichenden Schutz vor schon jetzt auftretenden Hitzewellen.
Prof. Dr. Walter Frenz, Maître en Droit Public, RWTH Aachen University