Neue Regeln für horizontale Kooperationen – freie Fahrt für Nachhaltigkeitsinitiativen?
Die Kommission führt eine neue Kategorie von “collective benefits” als Rechtfertigungselement ein
Wenn Wettbewerber miteinander kooperieren, ist die Grenze zwischen einer erlaubten Zusammenarbeit und einem illegalen Kartell schnell überschritten.
Hilfestellung finden Unternehmen in den EU-Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO). Danach sind Forschungskooperationen und Vereinbarungen über eine gemeinsame Produktion zwischen Wettbewerbern unter gewissen Voraussetzungen vom Kartellverbot freigestellt. Die GVO bieten Unternehmen einen “sicheren Hafen”, denn sie sind in allen EU-Mitgliedstaaten direkt anwendbar und binden Unternehmen, nationale Kartellbehörden und Gerichte.
Ergänzend zu den GVO hat die EU-Kommission Horizontal-Leitlinien verfasst. Diese haben zwar keine Gesetzeskraft, sind aber eine wichtige Richtschnur. Sie geben Hilfestellung bei der Auslegung der GVO und enthalten Hinweise, wie die EU-Kommission bestimmte Arten von Vereinbarungen bewertet, für die es keine eigene GVO gibt (z. B. Einkaufs- und Vermarktungsvereinbarungen oder Regel für den Informationsaustausch).
Die GVO laufen allerdings Ende dieses Jahres aus. Die EU-Kommission hat daher ein Verfahren zur Überarbeitung der kartellrechtlichen Regelwerke auf den Weg gebracht. Die neuen GVO sollen zum 1. 1. 2023 in Kraft treten. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch die überarbeiteten Horizontal-Leitlinien gelten. Entsprechende Entwürfe liegen bereits vor.
Besondere Relevanz kommt dabei einem neuen Kapitel über Nachhaltigkeitskooperationen in den Horizontal-Leitlinien zu. Die EU will mit ihrem “Green Deal” bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität erreichen. Nachhaltigkeitsinitiativen der Industrie können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Besonders effektiv sind solche Initiativen, wenn sie eine möglichst breite Akzeptanz in der jeweiligen Branche finden. Dazu müssen Unternehmen zusammenarbeiten und sich auf einheitliche Standards festlegen. Da sind kartellrechtliche Stolperfallen schon vorprogrammiert. Das ist auch der EU-Kommission bewusst. Das neue Kapitel zu Nachhaltigkeitskooperationen soll Unternehmen daher Hilfestellung geben.
In diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert wird die Frage, ob Nachhaltigkeitsaspekte, z. B. die Einhaltung von Umwelt- oder Sozialstandards, bei der kartellrechtlichen Bewertung von Kooperationen überhaupt berücksichtigt werden dürfen. Als Einfallstor für Nachhaltigkeitserwägungen dient dabei die Rechtfertigung von an sich wettbewerbsbeschränkenden Kooperationen über eine angemessene Beteiligung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Neben den schon heute im Kartellrecht etablierten unmittelbaren Verbrauchervorteilen, wie z. B. einer verbesserten Qualität der Produkte, will die EU-Kommission nun auch indirekte Verbrauchervorteile (“individual non-use value benefits”) als mögliches Rechtfertigungselement anerkennen. Das sei z. B. der Fall, wenn Verbraucher bereit seien, einen höheren Preis für ein nachhaltiges Produkt zu zahlen, damit die Gesellschaft oder künftige Generationen davon profitieren. Als Beleg für solche indirekten Verbrauchervorteile verlangt die EU-Kommission allerdings “stichhaltige” Nachweise, die die tatsächlichen Präferenzen der Verbraucher dokumentieren. Nicht ausreichend ist es außerdem, mit der eigenen Unternehmensphilosophie zu argumentieren und so dem Verbraucher die eigene Präferenz quasi aufzuzwingen. Der Nachweis solcher indirekten Verbrauchervorteile dürfte daher in der Praxis nicht leicht zu führen sein.
Oft führen Nachhaltigkeitsinitiativen allerdings nicht zu messbaren Vorteilen für den Verbraucher, sondern haben eher langfristige Wirkungen (z. B. bei Umweltschutzinitiativen) oder sogar Nachteile für Verbraucher in Form höherer Preise oder einer verringerten Produktauswahl. Viele Kartellbehörden und Wissenschaftler, darunter auch das Bundeskartellamt und die Monopolkommission, stehen daher der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsgesichtspunkten bei der kartellrechtlichen Freistellung skeptisch gegenüber. Dagegen schlägt die EU-Kommission in ihren neuen Horizontal-Leitlinien einen progressiveren Kurs ein. Sie führt eine neue Kategorie von kollektiven Verbrauchervorteilen (“collective benefits”) als Rechtfertigungselement ein. Es handelt sich dabei um Vorteile, die nicht dem individuellen Konsumenten (z. B. in Form günstigerer oder qualitativ hochwertigerer Produkte), sondern einer unbestimmten Gruppe von Verbrauchern zugutekommen können. Dazu gehören nach Auffassung der Kommission z. B. Vorteile in Form von umweltfreundlichen/nachhaltigen Produkten.
Allerdings will die Kommission nur dann “collective benefits” anerkennen, wenn sich diese für die Konsumenten innerhalb der EU unmittelbar positiv auswirken. Mit anderen Worten: Eine Nachhaltigkeitsinitiative, deren Vorteile nicht den Verbrauchern in der EU, sondern fast ausschließlich Menschen in einem Drittland zugutekommen (z. B. in Form eines sozial- und umweltfreundlicheren Abbaus von Ressourcen in Afrika), wird sich nach dem Willen der EU-Kommission nicht auf “collective benefits” berufen können.
Eine vollständige Bereichsausnahme für Nachhaltigkeitsinitiativen vom Kartellrecht wird es daher auch nach dem Willen der EU-Kommission nicht geben. Das ist zu begrüßen. Denn auch wenn nachhaltiges Wirtschaften dringend geboten ist, darf dies nicht zu Lasten des Wettbewerbs gehen. Es sind die Kräfte des Wettbewerbs, die Unternehmen zu Innovationen antreiben. Und Innovationen sind dringend erforderlich, damit wir und unsere Kinder auch in Zukunft in einer lebenswerten Welt verweilen können.
Dr. Daniel Dohrn, Rechtsanwalt, Köln