Vertragsverletzung durch Verfassungsgerichtsurteil?
Das Urteil des BVerfG vom 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15 u. a. zum Public Sector Purchase Programme (PSPP) hätte den seit Draghi's Ausspruch “Whatever it takes” schwelenden Konflikt um die unkonventionelle Geldpolitik der EZB beenden können. Stattdessen droht durch das Ultra-vires-Votum des Zweiten Senats die multipolare Spannungslage im Geflecht zwischen BVerfG, Bundesbank, Bundesregierung, Bundestag, EuGH, EZB und Europäischer Kommission zu eskalieren. Es erscheint als einmaliger Vorgang, dass unmittelbar nach einer Urteilsverkündung des BVerfG von Politikern (faz.net v. 9. 5. 2020 zu Giegold) und aus der Wissenschaft (F. C. Mayer, VerfBlog v. 7. 5. 2020) die Forderung nach Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens erhoben wurde. Kommissionspräsidentin von der Leyen bezeichnete diesen Schritt mit Erklärung vom 10. 5. 2020 (STATEMENT/20/846) explizit als Option.
Nun lässt sich über das Für und Wider eines solchen Vorgehens trefflich streiten (vgl. Pernice vs. Möllers, VerfBlog v. 16. 5. 2020). In jedem Fall wäre die Bundesregierung gut beraten, schon jetzt eine unionsrechtlich fundierte Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Dabei ließen sich die im Folgenden entfalteten drei Argumentationslinien den Stufen des Vertragsverletzungsverfahrens entsprechend ausdifferenzieren.
Bereits in einem etwaigen Vorverfahren gilt es der Kommission in Erinnerung zu rufen, dass sich in jüngerer Zeit sowohl der dänische Oberste Gerichtshof in Ajos (H\ojesteret, 6. 12. 2016 – 15/2014 nach EuGH Rs. C-441/14, DI, ECLI:EU:C:2016:278) als auch das tschechische Verfassungsgericht in Landtová (Ústavní soud, 31. 1. 2012 – Pl. ÚS 5/12 nach EuGH Rs. C-399/09, Landtová, ECLI:EU:C: 2011:415) über Luxemburger Urteile hinweggesetzt haben. In beiden Fällen kam es nicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Dieser Umstand könnte nunmehr als Einwand gegen die Zulässigkeit einer Aufsichtsklage operationalisierbar sein und der Kommission zumindest eine tragfähige Replik abverlangen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass es sich bei dem durch Art. 258 AEUV eingeräumten doppelten Spielraum zur Verfahrenseinleitung und Klageerhebung (Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 52016, Art. 258 AEUV Rn. 40 ff.) überhaupt um ein rechtlich gebundenes Ermessen handelt. Zwar hat Möllers (a. a. O.) argumentiert, dass die Kommission “keine Gerechtigkeit” walten lassen müsse, sondern “frei” sei. In einer Rechtsgemeinschaft kommt der Gerechtigkeit jedoch ein ermessensleitender Wert zu. Von einer rechtlichen Gebundenheit des Einleitungsermessens geht auch der Gerichtshof aus, wenn er die Frage nach dessen vertragswidrigen Gebrauch stellt (EuGH Rs. 324/82, Kommission/Belgien, ECLI:EU:C:1984:152, Rn. 12; kryptisch EuGH Rs. C-70/99, Kommission/Portugal, ECLI:EU:C:2001:355, Rn. 17 f.). Die “Hüterin der Verträge” ist mithin gehalten, die Gleichheit der Mitgliedstaaten zu wahren (Stotz, in: Rengeling, EUDUR I, 22003, § 45 Rn. 31a).
Sollte es dennoch zur Klageerhebung durch die Kommission (oder einen anderen Mitgliedstaat) kommen, erscheint ein genuin unionsrechtliches Verteidigungsvorbringen am aussichtsreichsten. In partieller Emanzipation von der Begründung des Verfassungsgerichtsurteils könnte das Demokratieprinzip gem. Art. 10 Abs. 1 EUV als Fundament dienen, welches dem EuGH einen deeskalierenden Brückenbau zum BVerfG hin ermöglicht. Beide Ultra-vires-Verdikte des Zweiten Senats – der Vorwurf eines Abwägungs- bzw. Darlegungsausfalls der EZB sowie die Feststellung der defizitären Kontrolle durch den EuGH – lassen sich als ultimative Aufforderung zur demokratierechtlich gebotenen Kompensation von Notenbankunabhängigkeit durch erweiterte Darlegungspflichten und erhöhte Kontrolldichte begreifen (vgl. Ludwigs/Pascher/Sikora, EWS 2020, 1, , 4 f.). Nachdem der Gerichtshof in den Verfahren zu OMT sowie PSPP auf eine präzise Austarierung von geldpolitischer Unabhängigkeit und demokratischer Legitimation verzichtet hat (Sikora, EWS 2019, 139, , 149), könnte er hierzu nunmehr konstruktiv Stellung beziehen. In der Folge bestünde die Möglichkeit, zum einen durch (unausgesprochene) Berücksichtigung Karlsruher Postulate Konzilianz zu signalisieren und zum anderen das Unterlassen einer erneuten Vorlage in den Fokus zu rücken. Bei rechtsförmiger Darlegung ihrer Verhältnismäßigkeitsprüfung zum PSPP durch die EZB (in loyaler Zusammenarbeit gem. Art. 4 Abs. 3 EUV) erscheint der skizzierte multipolare Konflikt der Bundes- und Unionsorgane auf ein Missverständnis im Dialog der Gerichte reduzierbar.
Für den Fall des Unterliegens wäre zu betonen, dass eine Verurteilung wegen Vertragsverletzung durch ein Verfassungsgerichtsurteil tief in die durch Art. 4 Abs. 2 EUV geschützte nationale Identität eingreifen würde. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich daraus eine sanktionierbare Verpflichtung der deutschen Staatsorgane zur – wie immer gearteten – Infragestellung des BVerfG und seines Urteils vom 5. 5. 2020 ableiten sollte. Ein Ausweg könnte darin bestehen, dass der EuGH die Feststellung eines etwaigen Vertragsverstoßes (Art. 260 Abs. 1 AEUV) mit dem Hinweis verknüpft, wonach zu dessen Behebung eine angepasste Rechtsprechungspraxis genüge, in deren Rahmen das BVerfG künftig zur Ausräumung vergleichbarer “Missverständnisse” wiederholt (!) vorlegt.
Jede Prognose zum erwarteten Vertragsverletzungsverfahren bleibt letztlich ungewiss. Doch könnte die Bundesregierung durch unionsrechtlich anschlussfähigen und mithin deeskalierenden Vortrag einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Rekonstruktion des europäischen Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbunds leisten.
Prof. Dr. Markus Ludwigs und Patrick Sikora, LL.M. (Kraków), Julius-Maximilians-Universität Würzburg