Industrie 4.0 erfordert keine juristische Revolution
Unter Industrie 4.0 wird der nächste Evolutionsschritt der Industrie bezeichnet. Im Fokus stehen nun die intelligenten Objekte, also Maschinen bis hin zu Alltagsgegenständen, die sich selbst steuern und über das Internet eigenständig Informationen austauschen können, um dann entsprechende Aktionen auszulösen. Ermöglicht wird dies durch die Integration von Prozessoren, Kommunikationsmodulen und Sensoren in zahlreichen Gegenständen bis hin zu ganzen Maschinenanlagen.
Die zurzeit viel diskutierte Frage ist, ob das Recht mit der neuen Entwicklung auch Schritt halten kann. Das Meinungsspektrum ist erwartungsgemäß vielfältig. Manche Ansichten sind derart revolutionär, dass sie schon den Entwicklungsstand der neuen Techniken überholen. Zumindest für die lernfähigen Rechner – die haben auch schon einen neuen Namen erhalten, sie werden als electronic persons bezeichnet – sei deren Rechtsfähigkeit anzuerkennen und für diese neuen Rechtssubjekte müsse dann ein Roboterrecht (kritisch zur Roboterhaftung in diesem Heft, Kluge/Müller, S. 24) entwickelt werden. Die Maschinen selbst sollen die Verantwortung für Fehlinformationen bzw. Fehlentscheidungen übernehmen. Warum eigentlich nicht, könnte geantwortet werden. Warum sollte die intelligente Maschine nicht als Rechtssubjekt anerkannt werden? Selbstverständlich müsste sie dann mit Haftkapital oder zumindest mit einem hinreichenden Versicherungsschutz ausgestattet werden. Dann wäre es schon im Interesse der Kapitalgeber und Versicherer auch erforderlich, der electronic person das Recht zu geben, Regressansprüche gegen ihre Programmierer zu verfolgen. Die Frage, wem ein solcher Homunculus letztlich nützt, würde dann schon schwierig zu beantworten sein.
Fruchtbarer ist wohl die Erkenntnis, das sehr bedeutsame, vielleicht doch schon revolutionäre Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik nicht unbedingt ebensolche der Rechtswissenschaft erfordern. Wie in den meisten Fällen neue Technologien ihre Grundlagen in dem Vorbekannten haben und vielfach aus dem alten Wissensstand heraus weiterentwickelt werden, so gilt auch für die Jurisprudenz, erst einmal darüber nachzudenken, welche rechtlichen Institutionen die mit den neuen Technologien verbundenen Problembereiche zumindest berühren, um mit dem bestehenden Erfahrungswissen dann an das Neue heranzutreten. Einige Beispiele können für das letztgenannte Vorgehen angeführt werden.
Das bürgerliche Recht kennt nicht nur selbstverantwortliches Handeln, es kennt auch den Boten, der einen fremden Willen nur übermittelt und für dessen Fehlverhalten der Auftraggeber verantwortlich ist bzw. falsch übermittelte Erklärungen anfechten, um dann aber auch für den entstandenen Schaden aufkommen muss. Der Bote ist, wenn man so will, auch schon ein gehöriges Stück „versachlicht“. Verantwortung für sein Handeln tragen die ihn Beauftragenden oder wenn man so will steuernden Personen. Vergleiche zur electronic person drängen sich auf.
Sehr viele Diskussionen gibt es im Zusammenhang mit Industrie 4.0 bei der Frage nach der Datenhoheit. Daten werden durch die Benutzung von Maschinen generiert und vielfach sind die Nutzer nicht diejenigen, die die Vorkehrungen für die Generierung geschaffen haben. Zu denken ist z. B. an den Traktorfahrer dessen Fahrten aufgezeichnet und an das Herstellerwerk übermittelt werden. Wem gehören nun die zumindest für das herstellende Unternehmen wichtigen Daten? Auch hier kann mit etwas Phantasie auf altbewährte Lösungen zurückgegriffen werden. Eine analoge Anwendung der im Sachenrecht vorhandenen Bearbeitungsregel (§ 950 BGB) wird eine interessengerechte Antwort auf die Fragen geben können.
Fragen zur Datensicherheit werden wohl von juristischer Seite nur damit gelöst werden können, dass für die Unternehmen eine neue Verkehrssicherungspflicht für dieses Gebiet anerkannt wird, die die Unternehmen zumindest in die Pflicht nehmen das technisch und evtl. auch wissenschaftlich Mögliche in ihr Sicherheitssystem einzubringen; hier hilft die behutsame Weiterentwicklung des Deliktsrechts.
Die wohl meisten der neuen technischen Phänomene treffen auf bewährte Rechtsinstitute. Es verhält sich dabei so, dass diese Rechtsinstitute wesentlich durch die ihnen entsprechenden Sachverhalte entwickelt worden und auch geprägt sind. Damit ist aber nicht verbunden, dass aus dieser Jurisprudenz heraus die neue Technik nicht beurteilt werden kann. Es ist wohl erforderlich, hier wieder einmal rechtsdogmatisch einzutauchen und auf einer höheren Abstraktionsstufe die vorhandenen Regelungsbereiche zu bewerten, damit sie dann für das Neue tauglich werden können. Ein weiteres kommt in diesem Zusammenhang hinzu. Rechtsinstitute ergänzen sich, dort wo ein Rechtsinstitut nicht mehr hinreichend regeln kann, wird häufig die Anwendbarkeit eines anderen erkennbar. Dafür gibt es viele Beispiele. Wenn im Zusammenhang mit Industrie 4.0 zutreffend die Ansicht vertreten wird, das man auf Grund des Zusammenwirkens zahlreicher Algorithmen, der Hardwarekomponenten, der Zuführung der Daten aus verschiedenen Quellen heraus, nicht mehr den Verantwortlichen für einen bestimmten Fehler herausfinden kann, so wird man zur Lösung vom Deliktsrecht zum Gesellschaftsrecht, zur haftungsrechtlichen Rechtegemeinschaft wechseln, wie dies bereits von Gerichten in den USA für solche Situationen anerkannt wurde. Das Erkennen der Zusammenhänge verschiedener Rechtsinstitute ist der Sache häufig förderlicher als ein neues Rechtsinstitut zu initiieren.
Prof. Dr. Dr. Jürgen Ensthaler