Dostojewski und das Internet
Das Internet ist ein Informationsturbo. Gibt man diesem Netzwerk von Netzen ein interessantes Häppchen Information, verteilt es sich rasant weiter. Die Zahl der Multiplikatoren ist enorm. Es gibt Foren, zahllose Blogs, Micro-Blogdienste wie Twitter, zahllose Blogger und schließlich die klassischen Nachrichtenseiten, die Inhalte weiterverbreiten, von Server zu Server, auf die Bildschirme von Tausenden binnen kürzester Zeit. Mit am schnellsten verbreiten sich dabei leider Gerüchte.
Damit verhält sich das Internet wie das Netzwerk von Menschen, das hinter den Blogs und Mikronachrichten steht: Es tratscht. Das Netz verbreitet lustvoll ungeprüfte Gerüchte, verletzt damit die Betroffenen und deren Angehörige und Freunde. In Turbo-Geschwindigkeit wird ein Ruf ruiniert, zumindest im Digitalen. Dazu tragen auch Suchmaschinen bei und deren verbreitete Funktion, Suchanfragen zu ergänzen - damit man besonders "heiße" Themen besonders leicht findet. Mancher ruft deshalb nach dem Gesetzgeber: Kann denn das legal sein?
Bewusst etwas Falsches über andere zu verbreiten ist natürlich nicht legal - dasselbe gilt für digitale Beleidigungen. Das Strafrecht und das Persönlichkeitsrecht gelten im Internet genauso wie in der realen Welt. Zugleich aber ist die Kommunikationsfreiheit ein hohes Gut.
Die Suchmaschinen sehen sich nicht als Anbieter beleidigender Inhalte. Sie speichern nur, heißt es. Sie errechnen aus den Anfragen der Nutzer, worauf eine aktuelle Suchanfrage wohl hinausläuft. Wenn jemand eine ähnliche Suche eintippt, ergänzen sie entsprechend - manchmal führt das gezielt zu üblen Gerüchten. Die Suchmaschinen berufen sich auf die im Europarecht und auf nationaler Ebene gewährten Haftungsprivilegien für bestimmte Diensteanbieter. Grundsätzlich ist es gut, dass diese Haftungsprivilegien eingerichtet wurden.
Aber manche Anbieter messen offenbar mit zweierlei Maß: Denn Begriffe, die gegen das Urheberrecht verstoßen, wurden gelegentlich durchaus aus der Auto-Ergänzung entfernt. Verantwortungsbewusstsein ist also in Bezug auf die "auto complete"-Funktion durchaus vorhanden. Es sollte aber nicht selektiv, nur für bestimmte Rechtsbereiche die Schere angesetzt werden. Die Diensteanbieter tragen immer mehr Verantwortung, denn für die junge Generation sind Internetquellen oft wichtiger als das Fernsehen.
Einige Gerichte haben sich bereits mit der automatischen Ergänzungsfunktion der Suchmaschinen beschäftigt. Auch aktuell wird ein Verfahren gegen Google angestrengt, in dem es um die Ergänzungsfunktion in Bezug auf die Ehefrau des früheren Bundespräsidenten geht. Es ist ein schwieriges Feld, das von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden muss. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Wie wäre etwa zu entscheiden, wenn Dostojewski im Internetzeitalter leben und nun klagen würde? Gibt man seinen Namen bei Google ein, schlägt die Suchmaschine "der Idiot" vor. Man darf allerdings mutmaßen, dass sich der russische Schriftsteller durch den Suchvorschlag "Dostojewski der Idiot" nicht beleidigt gefühlt hätte. Doch bei einem anderen Namen sähe das wohl anders aus. Wer "Stefan Raab" eingibt, dem wird "Kiffen" vorgeschlagen - ein Vorwurf ist das wohl nicht, denn es bezieht sich auf das Lied "Wir kiffen". Und was hat es wohl zu bedeuten, dass nach meinem Namen "Beschneidung" vorgeschlagen wird?
Schematisch-abstrakte Lösungen sind hier also nicht denkbar. Wie auch in anderen Bereichen der Netzpolitik liegt die Antwort nicht in Extrempositionen: Die Freiheit im Netz ist kein Freibrief. Aber ein Generalverdacht gegen das Internet und Internetdienste hilft ebenfalls nicht weiter. Es sind im konkreten Fall daher die unabhängigen Gerichte gefordert, nicht die Politik. Eine allgemeine gesetzliche Regelung gegen die Verbreitung von Gerüchten ist schlicht nicht denkbar - weder in der virtuellen noch in der realen Welt.
Ich sehe auch keinen Anlass, einem generellen Verbot der Anonymität im Internet das Wort zu reden. Anonymität erleichtert das Verbreiten von Gerüchten, aber ebenso erleichtert sie das Verbreiten jeder Art von Informationen, die zu Repressalien gegen den Absender führen können. Die Möglichkeit, sich zu äußern, ohne zugleich den Ausweis zu zücken, ist wichtig für eine freiheitliche Demokratie - im Internet wie auf der Straße oder im Stammlokal. Zahlreiche demokratische Prozesse vom Diskurs bis zur Wahl funktionieren anonym. Daher halte ich es nicht für richtig, im Netz eine Pseudonymisierung zu erzwingen, die im Einzelfall zu einer Identifizierung der Nutzer führen kann.
Die Nutzer tragen selbst eine Mitverantwortung daran, welche Informationen das Internet prominent transportiert. Inhalte werden im Internet zu weiten Teilen von Nutzern generiert; das liegt im Wesen des Web 2.0. Hier ist eine deutliche Verbesserung der Medienkompetenz nötig. Das gilt besonders für die junge Generation, denn in sozialen Netzwerken werden Gerüchte schnell zum Alptraum für Teenager und deren Eltern. Es würde bereits helfen, wenn nicht jeder, der von einem Gerücht hört, reflexhaft den Informationsturbo anwirft - sondern stattdessen lieber einen Gang zurück schaltet.