Im Rausch der Freiheit: Die ersten Wochen des DMA
Prof. Dr. Rupprecht Podszun
So viel Freiheit war nie: Wer in den letzten Wochen sein Smartphone updatete, wurde gefragt, welchen Standardbrowser man denn gerne verwenden mag. Im Choice Screen wurde eine eindrucksvolle Zahl von Browser-Apps angezeigt. Die meisten Icons und Namen dürften die Nutzer*innen nie zuvor gesehen haben, von Aloha bis You.
Alphabet und Apple erfüllen mit den Choice Screens ihre Verpflichtungen aus dem Digital Markets Act (DMA, VO (EU) 2022/1925), der seit März 2024 scharf geschaltet ist. Seither müssen die Ge- und Verbote von digitalen Torwächtern (alias Gatekeepern) für ihre zentralen Plattformdienste eingehalten werden. Wer zum erlauchten Kreis gehört, war sechs Monate zuvor von der EU-Kommission in den ersten Designierungsbeschlüssen festgelegt worden. Neben den fünf üblichen Verdächtigen der Internetinfrastruktur (Alphabet, Amazon, Apple, Meta und Microsoft) wurde auch ByteDance als Anbieter von TikTok als Gatekeeper eingestuft. Für jeden Gatekeeper sind die einzelnen Dienste benannt, für die die Verpflichtungen gelten.
Die Benennung knüpft an klare quantitative Vermutungen an, was die Einstufung deutlich beschleunigt. ByteDance ist ein interessanter Fall. Die quantitativen Schwellenwerte werden übersprungen – ein Marktwert von über 75 Mrd. EUR, weit über 45 Mio. monatlich aktive Endnutzer (neuerdings inklusive Bundeskanzler!), über 10 000 gewerbliche Nutzer. Aber ist TikTok ein soziales Netzwerk? Ein Video-Sharing-Portal? Oder eigentlich nur ein Online-Werbedienst? Noch fundamentaler ist die Frage, ob mit TikTok nicht gerade eine große Hoffnung des Internets reguliert wird. Immerhin ist das – in politischer, kultureller und gesellschaftlicher Sicht gruselige – Portal wettbewerblich belebend: TikTok greift die Marktposition von Instagram-Betreiber Meta und Google-Produkt YouTube in relevanter Weise an. In seiner ersten (Eil-)Entscheidung zum DMA hat das Europäische Gericht die Einstufung als Gatekeeper durch die Europäische Kommission gehalten (T-1077/23 R). ByteDance tanzt vorerst nach der Pfeife der Kommission, die die alleinige behördliche Durchsetzungskompetenz für den DMA hat.
Derzeit muss die Kommission vor allem prüfen, ob die Unternehmen die Verpflichtungen brav erfüllen oder ob sie sich eine Non-Compliance-Entscheidung einfangen (die ersten Verfahren sind schon eingeleitet). Das ist keine triviale Aufgabe, nicht nur weil die mächtigen und finanzstarken Superstar-Unternehmen mit einer Armada von Kanzleien dagegenhalten.
Im Vergleich zum Kartellrecht, aus dessen Schwerfälligkeit der DMA gewachsen ist, hat die Kommission allerdings Trümpfe in der Hand. Beispiel Choice Screen: Im Kartellrecht musste das Verbot der Selbstbevorzugung über Jahre hinweg mühsam entwickelt werden. Jetzt greift das Verbot direkt – aus einer kartellrechtlichen Einzelfallregelung wurde mit dem DMA schlagartig eine regulatorische Anforderung für alle Normadressaten. Der Nachweis einer Wettbewerbsschädigung zu Lasten der Verbraucher und der Vortrag von Effizienzen durch die Unternehmen, beides für das Kartellrecht kennzeichnend, entfällt. Im Ergebnis kann das für Verbraucher auch einmal unbequem sein – aber die Herauslösung aus den Abhängigkeiten eines Ökosystems, vulgo: Freiheit, hat eben ihren Preis.
Die Gatekeeper müssen ihr rechtstreues Verhalten nachweisen. In Berichten geben sie darüber Rechenschaft, mal auf 12 Seiten (Apple), mal auf 421 (Microsoft). Diese Compliance-Pflicht ist für den gelernten Kartellrechtler die erstaunlichste Neuerung. Die Gatekeeper müssen nicht nur dem Buchstaben des Gesetzes Genüge tun. Ihre Maßnahmen „müssen dazu führen, dass die Zielsetzungen dieser Verordnung und der jeweiligen Verpflichtungen wirksam erreicht werden“ (Art. 8 Abs. 1 S. 2 DMA). Eine teleologische Wirksamkeitserwartung!
Und, funktioniert’s? Die Browser Choice Screens haben neben dem erwartbaren Murren (aufwändiges Prozedere, abschreckende Darstellung, Abhängigkeit vom vorgeprägten Nutzer) auch erste Jubelmeldungen von Kleinanbietern hervorgebracht. Sie verzeichnen große Sprünge in der Nutzerzahl – in absoluten Zahlen freilich auf Miniaturniveau. Noch gravierender ist, dass zwar die Benutzeroberfläche von einem anderen Anbieter kommen kann, die Browser Engine dahinter bleibt beim iPhone aber vorerst das Apple-Produkt WebKit. Wenn der Rausch der ersten Wochen mit seinen spektakulären Änderungen und Ankündigungen abgeklungen ist, fängt die Arbeit für das DMA-Team der Kommission erst richtig an.
Prof. Dr. Rupprecht Podszun*
* | Prof. Dr. Rupprecht Podszun ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er forscht zu Fragen der digitalen Regulierung im scidaproject.com. |