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K&R 2011, 1
Schwaibold, Matthias 

Schweizer Käse

Die Schweiz sieht sich als freies Land freier Bürger. Den Persönlichkeitsschutz hält sie für ein hohes Gut - er steht bei uns schon viel länger im Gesetz als anderswo. Die Schweiz hat aber auch eine Neigung zum Spitzeltum. Wer den Film "Die Schweizermacher" gesehen hat, welcher die Ausspionierung einer Einbürgerungskandidatin zum Gegenstand hat, weiß, was ich damit meine. Und es gab seit diesem Film, der - was die wenigsten wissen - nicht die Wirklichkeit persiflierte, sondern sie nur unvollständig abbildete, noch einige Anlässe mehr, sich über den Widerspruch zwischen Freiheitsdogma und Schnüffelwirklichkeit Gedanken zu machen: Die sogenannte "Fichenaffäre" aus der Zeit um 1989 deckte die unbegrenzte Sammelwut von Staatsschützern auf - nur war keine 20 Jahre später trotz gesetzlicher Einschränkungen das Phänomen schon wieder da und hieß ISIS-Datenbank. Immerhin erleichterte der Hinweis auf das nun vorhandene Gesetz, dass der Überwachungsstaat die Grenzüberschreitung nicht mehr in Abrede stellte und umgehend für Remedur zu sorgen beschloss.

Im strafrechtlichen Bereich war die Überwachung namentlich der Telekommunikation lange ein schwieriges Geschäft, lag doch die Zuständigkeit dafür bei den Kantonen, die ihre eigenen Strafprozessordnungen hatten. Dem hatte das "Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF)" vom 6. 10. 2000 ein Ende gemacht. Nun wurde auch noch zum 1. 1. 2011 das Strafprozessrecht bundesweit vereinheitlicht, damit die Zuständigkeit für die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen und das Erfordernis richterlicher Bewilligung durch das "Zwangsmaßnahmegericht". Das eidgenössische Justizdepartment (= BJM) sieht jetzt offenbar den Zeitpunkt für günstig an, durch bloße Verordnungsänderung eine praktisch schrankenlose Echtzeit-Überwachung einführen zu wollen.

Die offizielle Medienmitteilung findet salbungsvolle Worte: Es gehe darum, den Katalog der Überwachungsmaßnahmen klarer und transparenter zu formulieren und für alle Beteiligten die nötige Bestimmtheit und Rechtssicherheit zu schaffen. Eigentlich gehe es nur um eine Anpassung an den Stand der Technik.

In der Tat: Man kann technisch heute in Echtzeit den gesamten Internet-Verkehr einer Person überwachen, man kann alle Kommunikationsdaten erfassen, speichern und auswerten, und wer den Computer online und das Mobiltelefon nicht nur als Kamera benützt, lässt sich unbemerkt beobachten.

Die Frage ist nur: Wer zieht die Grenzen? Und unter welchen Voraussetzungen werden Überwachungsmaßnahmen angeordnet? Vor allem aber stellt sich im demokratischen Rechtsstaat die Hauptfrage: Auf welcher Normenstufe darf Echtzeitüberwachung überhaupt vorgesehen werden? Die Antwort ist einfach: Wenn nicht gerade in der Verfassung, dann doch zumindest im Gesetz. Genau davon will das von einer Nichtjuristin (!) geführte Justizdepartement absehen: Statt das BÜPF zu ändern, soll nur die zugehörige Verordnung geändert werden, und außerdem soll gemäß Art. 25 Abs. 5 bei Überwachungsmaßnahmen, die nicht explizit in dieser Verordnung aufgeführt sind, der Internet-Anbieter der zuständigen Dienststelle die Schnittstellen zur Verfügung stellen, von denen aus der Fernmeldeverkehr in Echtzeit übertragen werden kann. Das heißt ausgedeutscht: Was in Zukunft technisch möglich wird, muss nicht einmal mehr in der Verordnung "explizit aufgeführt" werden, sondern kann vom Überwachungsdienst durchgesetzt werden. Mehr noch: Auch das, was überwacht werden soll, wird ausgeweitet - ging es früher um Gespräche, E-Mails und Einwähldaten, soll es neu um sämtliche Daten und in Echtzeit gehen. Die sogenannten "Nutzinformationen" umschreibt das im Anhang zur Verordnung enthaltene Glossar wie folgt: "Der Anteil des zu überwachenden Fernmeldeverkehrs, welcher die zwischen den Benutzenden bzw. zwischen deren Endgeräten ausgetauschten Informationen (z. B. Laute, Telefax, E-Mails und Daten) enthält". Das ist schlicht alles, und wer alles bekommen kann, wird auch alles bekommen wollen. Es ist deshalb zu hoffen, dass der bisher eher zögerliche Widerstand gegen diese handstreichartige Schaffung des totalen Überwachungsstaates noch wächst. Die Erfahrung zeigt, dass man mit der Bereitstellung einer Norm sogleich den Markt ihrer Anwendung schafft. Das Argument der Kriminalitätsbekämpfung - sei es der Terrorismus, sei es die Kinderpornografie, sei es sonst eine der handelsüblichen Gefahren der Moderne - darf nicht dazu führen, dass rechtsstaatliche Grundprinzipien zunehmend ausgehöhlt werden. Wir sind auf dem besten Weg dazu, das Fernmeldegeheimnis und den Persönlichkeitsschutz unserem Käse anzupassen: Voller Löcher. Die soll wenigstens das Parlament beschließen.

Rechtsanwalt Dr. Matthias Schwaibold, Zürich
 
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