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K&R 2010, 1
Gutjahr, Richard 

Transparenz ist die neue Objektivität

Warum das Netz uns zwingt umzudenken

Ich muss Sie warnen. Ich habe zwei Identitäten: eine als Journalist, eine als Privatmann. Wenn Sie mich am Telefon haben, beten Sie, dass ich als Journalist anrufe. Denn in meiner Rolle als einfacher Bürger bin ich gnadenlos. Meine gefährlichste Waffe: Handy und Laptop. Beispiel: Deutsche Post. Mit der Einführung des ePostbriefs versucht das ehemalige Staatsunternehmen seine Verluste durch das schrumpfende Briefpost-Geschäft auszugleichen. Intern gilt der ePostbrief als eines der wichtigsten Post-Projekte überhaupt. Der Marketing-Aufwand für Plakate, Anzeigen und TV-Spots wird auf rund 80 Millionen Euro geschätzt.

Vor wenigen Wochen sind Deutsche Post und ich aneinander geraten. High Noon im Internet, wenn man so will. Eine Begegnung, die die Post ziemlich viel Geld gekostet haben dürfte. Was war geschehen? Als ePost-Kunde der ersten Stunde habe ich etwas getan, was ich sonst nie mache: ich habe mir die AGB durchgelesen. Darin enthalten einige Passagen, die mir glatt die Schuhe auszogen: So unterliegt der ePostbrief beispielsweise nicht etwa, wie die Werbung suggeriert, dem Brief- sondern lediglich dem Fernmeldegeheimnis. Daten aus dem ePost-Adressbuch dürfen an Geschäftskunden weitergegeben (verkauft?) werden, die Dauer der Speicherung von Briefen, selbst nach deren Löschung durch den Kunden, nebulös.

Nachdem mir die Post ein Interview verweigerte und mich trotz mehrfacher Anfragen immer wieder abwimmelte, begann ich nach anderen Wegen zu suchen, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Juristischen Beistand habe ich mir von zwei Blogger-Kollegen geholt, Udo Vetter (lawblog.de) und Thomas Stadler (internet-law.de). Das Ergebnis war ein Blogpost, der im Netz einschlug wie eine Bombe (sprichwörtlich: Aufgrund zigtausender Abrufe ging der Server wenige Stunden nach Veröffentlichung in die Knie). Heise, Zeit und Spiegel Online griffen das Thema auf. Twitter, Facebook und Google taten ihr Übriges. "Wir sind auf den Blogeintrag von Herrn Gutjahr aufmerksam geworden und werden in Kürze darauf eingehen" twitterte die Deutsche Post in alle Richtungen. Der Gelbe Riese brauchte Tage, bis er seine Sprache wieder fand.

Stell dir vor, es ist Revolution, und keiner merkt es. Sie durchdringt alles und jeden, ob wir das wollen oder nicht. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2010 sind 70 Prozent der Deutschen online. Und die reden miteinander, Tag und Nacht. Facebook hat es verstanden, einen weltweiten Marktplatz zu etablieren, der auch ohne die klassischen Gatekeeper auskommt. Die Massenmedien werden zu Medien der Massen. Ein Problem nicht nur für Verleger, die um ihr Anzeigengeschäft bangen, sondern auch für Institutionen wie Parteien, Konzerne oder Kirchen, die zunehmend an Einfluss und Deutungshoheit in der Gesellschaft verlieren.

Beispiel: Erzbistum Regensburg. Hier liefert sich die Katholische Kirche einen Rechtsstreit mit Stefan Aigner, einem ortsansässigen Blogger (regensburg-digital.de). Der zitierte eine im Spiegel aufgestellte Behauptung und kassierte eine Einstweilige Verfügung über eine Münchner Anwaltskanzlei. Früher wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen. Der Journalist hätte eine Unterlassungserklärung unterschrieben, die Anwälte bezahlt und sich wieder brav in Reih' und Glied eingefügt. Wer kann sich schon einen Rechtsstreit gegen die mächtige Katholische Kirche leisten? Doch Aigner wagte die Flucht nach vorn, veröffentlichte den Vorgang in seinem Blog und bat die Netzgemeinde um Spenden. Binnen weniger Tage kamen über zehntausend Euro zusammen. Wichtiger noch: der Fall fand Einzug in die Massenmedien und wurde dadurch auch außerhalb des Webs bundesweit bekannt.

Die digitale-, eine unsichtbare Revolution. Von der analogen (realen) Wirklichkeit völlig unbemerkt hat sich im Netz eine digitale Parallelwelt etabliert. Vor allem große, klassische Organisationen wissen oft gar nicht, wie ihnen geschieht. Die üblichen Verteidigungsringe aus Callcenter, PR- oder Rechtsabteilung werden im Netz schlicht unterlaufen. Bis die Verantwortlichen begreifen, was überhaupt los ist, bricht der Shitstorm (sorry, das ist ein Fachbegriff) bereits über sie herein. Wer viel zu verlieren hat und es sich leisten kann, heuert eine Agentur an, die rechtzeitig Alarm schlägt, bevor ein solcher Sturm aufzieht. Auch die Deutsche Post hat sich mit Pixelpark eine solche Netz-Agentur geleistet. Das Problem: Was nützt der beste Social Media Berater, wenn das Unternehmen dahinter in seinen alten Strukturen steckengeblieben ist?

Auch wir Journalisten müssen umdenken. Die guten und sicherlich auch heute noch gültigen Grundsätze von Haudegen wie Dagobert Lindlau, Peter Scholl-Latour, oder auch Hans-Joachim Friedrichs ("Mache Dich niemals gemein mit einer Sache, auch nicht mit einer guten") greifen zu kurz. Denn auch das Publikum hat sich emanzipiert und weiß: Objektivität existiert nicht. Schon die Wahl eines Themas durch den Redakteur ist eine Verzerrung von Realität. Dank Internet verstehen unsere Leser, Hörer und Zuschauer heute sehr viel besser die Zwänge und Mechanismen, wie Nachrichten entstehen. Fehler versenden sich nicht mehr so schnell, Kritik an der Berichterstattung findet neuerdings auch außerhalb der (redaktionell bearbeiteten) Leserbriefseiten statt.

Was bedeutet das für die Kommunikation der Zukunft? Ob Journalismus oder Öffentlichkeitsarbeit: Wir müssen lernen, loszulassen, zu akzeptieren dass es immer jemanden da draußen geben wird, der schlauer ist als wir selbst. Objektivität im Journalismus oder Perfektion im Unternehmen sind gar nicht so entscheidend. Was zählt ist das Streben nach größtmöglicher Transparenz. Nur wer diese bietet, erntet Respekt - im Web wie im wahren Leben.

Übrigens: Die Deutsche Post hat sich mittlerweile in einer eigens für Blogger einberufenen Pressekonferenz den Fragen der Kunden gestellt und ihren AGB im Netz eine Erläuterung beigefügt, die auch für Nicht-Juristen verständlich ist.

Richard Gutjahr, München
 
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