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NUR 2019, 193
Richter 

Das Urteil des BGH zum Eigenkapitalzins für Strom- und Gasnetzbetreiber: Quo vadis Rechts- und Investitionssicherheit?

Dr. Stefan K. Richter*

Der 9. Juli 2019 war kein guter Tag für die deutschen Strom- und Gasnetzbetreiber – allerdings noch weniger für Vertrauen in die Rechts- und Investitionssicherheit und die Akzeptanz von BGH-Entscheidungen. Kein guter Tag war es damit am Ende auch für die deutschen Verbraucher: Denn ohne ein Umfeld, das schnelle und mutige Investitionen anregt, kann die Energiewende jedenfalls nicht gelingen. Denn am 9. Juli 2019 griff der BGH (u. a. in den Verfahren zu den Az. EnVR 41/18 und EnVR 52/18) mit der Bestätigung der Eigenkapitalzinsfestlegung Strom und Gas für die dritte Regulierungsperiode zu erzieherischen Maßnahmen: Massenklagen (rund 1100 Beschwerden) lassen den BGH unbeeindruckt, er schützt die Instanzgerichte (auch gegen deren Willen) vor Überforderung und natürlich: Was der BGH einmal entschieden hat, müsse eben auch in historischen Sondersituationen gelten. Nein, dies ist kein „Nachtreten“ der Branche. Warum auch? Kein Netzbetreiber war so „naiv“ und hätte in seine Planung Mehrerlöse aus einer gerichtlich veranlassten Eigenkapitalzinserhöhung eingestellt. Denn auch das hochqualifizierte Urteil des OLG Düsseldorf in der Vorinstanz hätte natürlich nur die fachlichen Streitpunkte lösen können. Die erneute Zinsbestimmung hätte die Bundesnetzagentur vorgenommen. Eigenkapitalzinsfestlegungen haben aber längst die Sachebene verlassen. Sie werden öffentlichkeits- und politikwirksam diskutiert. Deshalb hätte auch eine nachträgliche Neufestlegung erhebliches Konfliktpotential aufgewiesen, z. B. im Falle des Versuchs, aufgrund des zeitlichen Versatzes von rund drei Jahren seit der Ursprungsfestlegung (2016) veränderte Inputdaten zu berücksichtigen.

Vielleicht hatte auch der BGH erkannt, dass hier eine weitere Runde von Massenklagen gedroht hätte. Dies rechtfertigt aber nicht, dass die hochqualitative Auseinandersetzung des OLG Düsseldorf mit den komplexen Fragen einer Zinsfestlegung in einer historischen Niedrigzinsphase höchstrichterlich eher ignoriert wurde. Zumal der BGH einen beachtlichen Spagat machen musste: Er hat die historische (Zins-)Sondersituation ausdrücklich anerkannt. Daran ging wohl auch kein Weg vorbei! Er verweigerte aber trotzdem sehenden Auges jede Abhilfe. Akzeptanz für diesen Spagat wird der BGH nicht erfahren. (Zu) hohe Verantwortung hat er sich damit aufgeladen, (zu) große Sorgen für Rechts- und Investitionsunsicherheit ausgelöst. Sorgen darüber, wie die stetig wachsenden energiewendebedingten Investitionsstaus im Lichte der BGH-Entscheidung überhaupt noch bewältigt werden können. Das juristische Damoklesschwert und mittlerweile leider zum Standard avancierende Argument des BGH lautet: Anerkennung eines im Wesentlichen kontrollfreien „Beurteilungsspielraums“. Dieser ausufernde, Regel und Ausnahme rechtsdogmatisch verkehrende und damit außerordentlich bedenkliche Ansatz des BGH treibt die Schweißperlen auf die Stirn deutscher Juristen. Dies gilt erst recht, wenn Beurteilungsspielräume auf der Tatbestandsseite mit Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite dogmatisch unvertretbar sprachlich und inhaltlich miteinander vermengt werden.

Im Übrigen zählt auch hier wie immer das Gesamtbild: Die Netzwirtschaft droht immer deutlicher, zwischen den Anforderungen der EU-Kommission und des BGH „zermahlen“ zu werden. Die Kommission fordert mit immensem Druck immer größere Entscheidungsspielräume für die nationalen Regulierungsbehörden. Vertragsverletzungsverfahren laufen deshalb gegen Deutschland und viele weitere Mitgliedstaaten. Der deutsche Verordnungs- und Gesetzgeber reflektiert dies zugunsten der Bundesnetzagentur bereits bei Rechtssetzungsverfahren. Freiheit von Vorgaben und Freiheit von Kontrolle kann gleichzeitig nicht funktionieren. Mit immer größeren gesetzlich eröffneten Entscheidungsspielräumen korrespondiert daher eben auch eine striktere und intensivere Kontrolle von behördlichen Entscheidungen durch die Gerichte. Ansonsten entstehen faktisch kontrollfreie Rechtsbereiche, deren Zulässigkeit im Lichte der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG sicherlich kurzfristig zu hinterfragen ist.

Die besonders durch Digitalisierung, Dezentralisierung und die voranschreitende Energiewende herausgeforderten Verteilnetzbetreiber stehen vor einem Investitionsvolumen von bis zu 250 Milliarden Euro bis 2050 (DENA-Leitstudie „Integrierte Energiewende“). Investitionen haben dabei oft Nutzungsdauern von 40 bis 50 Jahren. Solche Volumina und Zeiträume brauchen Investitionssicherheit und Erlössicherheit. Diese werden von der aktuellen BGH-Rechtsprechung gerade nicht vermittelt: Es reicht den Netzbetreibern angesichts der historisch einmaligen Herausforderungen und Investitionslast nicht aus, wenn eine behördliche Methode („als solche“, damit also nur theoretisch) geeignet sein muss, historischen Besonderheiten am Kapitalmarkt angemessen Rechnung zu tragen. Auch die theoretische Eignung, Plausibilisierungen von nach „Standardverfahren“ ermittelten Zinssätzen vornehmen zu können, hat keinen belastbaren Charakter bei Milliardeninvestitionen. Nein, die Unternehmen müssen erwarten können, dass ein Zinssatz, der maßgeblich das Gelingen der Energiewende beeinflusst, auch tatsächlich einer Plausibilitätsprüfung unterzogen wird. Plausible Entscheidungen werden den Netzbetreibern auch von der Bundesnetzagentur abverlangt, jeden Tag. Hier dürfen keine asymmetrischen Anforderungen gelten. Und wo sollen denn die Grenzen des Beurteilungsspielraums nach Auffassung des BGH liegen: Erst bei schwersten Verfahrensfehlern und Verstößen gegen Denkgesetze oder deutlich früher?

Der BGH hat „nur“ für die dritte Regulierungsperiode entschieden. Welche Ausstrahlungswirkung die BGH-Entscheidung auf Folgeperioden hat, ist offen. Fest steht aber, dass die historische Niedrigzinsphase zukünftig noch deutlicher spürbar sein wird. Sind aus der BGH-Entscheidung im engen Dialog von Bundesnetzagentur und Branche zukunftstragende, akzeptanzverschaffende und verlässliche Regeln ableitbar? Oder bedarf es eines Einschreitens des Verordnungsgebers? Hierzu bleibt die Detailanalyse der BGH-Entscheidung abzuwarten. Eins steht jedenfalls fest: Der Erfolg der Energiewende setzt das Zusammenwirken aller Beteiligten voraus. Und dazu gehören neben dem Verordnungsgeber und den Netzbetreibern eben auch die Bundesnetzagentur und die sie kontrollierenden Gerichte. Wesentliche Verantwortung trägt spätestens ab jetzt damit auch der BGH. Wichtig bleibt auch das Vertrauen in die Bundesnetzagentur: Unabhängig vom BGH ist sie ja nicht gehindert, im Eigenantrieb eine Würdigung von historischen Sondersituationen und die Plausibilisierung von Zinssätzen vorzunehmen. Das wäre ein akzeptanzverschaffendes Signal an die Branche. Denn Kehrseite von Entscheidungsspielraum ist in diesem Sinne dann eben auch gesteigerte Behördenverantwortung – dies wäre bisher wenigstens ein positiver Schluss aus der BGH-Entscheidung.

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Bereichsleiter Regulierung und Netzwirtschaft der innogy SE.

 
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