Irrungen und Wirrungen im Nachhaltigkeitsrecht
Regulatorik als Nachhaltigkeitsrisiko: die sukzessive Erhöhung der Messlatte
Der Finanzmarkt sucht weiter nach marktgängigen Formen nachhaltiger Finanzinstrumente. Dies zeigt eine im Dezember 2022 von der European Securities and Markets Authority (ESMA) veröffentlichte empirische Untersuchung zur Marktentwicklung im Fondsbereich sehr anschaulich: Die Analyse differenziert anhand der Produktkategorien der Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR). So wird dort u. a. zwischen Fonds, die lediglich mit ökologischen oder sozialen Merkmalen beworben werden (sog. Artikel 8-Fonds), und solchen Fonds unterschieden, die eine nachhaltige Investition darstellen (sog. Artikel 9-Fonds).
Unmittelbar mit Anwendung der SFDR wuchs zunächst die Zahl der Artikel 8-Fonds überproportional. Mitte 2022 drehte sich das Bild temporär: Artikel 8-Fonds verloren stark Marktanteile. Gleichzeitig stieg die Gesamtsumme der von Artikel 9-Fonds verwalteten Vermögenswerten bis Ende 2022 stetig, wenn auch langsam. Ende 2022 änderte sich auch dieses Bild: Im vierten Quartal 2022 nahmen mehrere große Asset Manager die Einstufung ihrer Fonds als Artikel 9-Produkte zurück. Assets im Gesamtwert von 130 Mrd. Euro verloren damit quasi über Nacht ihre Einstufung als nachhaltige Investition. Seitdem ist die Zahl der Artikel 9-Fonds im Markt verschwindend gering. Hintergrund der Entwicklung war eine Stellungnahme der Europäischen Kommission, die klarstellte, dass ein Fonds für Artikel 9 vorbehaltlich technischer Ausnahmen zu 100 % aus nachhaltigen Investitionen bestehen muss. Viele zuvor als Artikel 9-Produkte eingestufte Fonds erfüllten die Voraussetzung nicht; sie wurden zu Artikel 8-Produkten “herabgestuft”.
Artikel 8 ist (damit) ein “Auffangbecken” für Produkte unterschiedlichster Ambitionsniveaus: von Produkten mit nur wenig ausgeprägten Nachhaltigkeitsmerkmalen bis zu Produkten, die nur knapp die Anforderungen des Artikel 9 verfehlen. Die damit verbundene Heterogenität erschwert Anlegern, innerhalb der Gruppe Unterscheidungen zu treffen, ohne die Details der (vorvertraglichen) Offenlegung im Detail zu studieren.
Artikel 8 erfasst so als Sammelbecken alle Fonds, die nachhaltige Zwecke irgendwie fördern oder zu fördern behaupten – ohne weitergehende Qualitätsanforderungen. Ziel ist es, diese Produkte zur Offenlegung bezüglich ihres Ambitionsniveaus und ihrer tatsächlichen Zielerreichung im Bereich Nachhaltigkeit zu zwingen. Damit trifft die Produkte das sich möglicherweise (noch) als sehr scharf herausstellende Schwert der Offenlegung: Wer mit Nachhaltigkeitsmerkmalen wirbt, soll auch darüber berichten müssen. Zwingend müssen diese Fonds u. a. daher messbare Nachhaltigkeitsindikatoren und zugehörige Ziellevel bestimmen, damit sie regelmäßig über die tatsächliche Erreichung des angestrebten Zielniveaus berichten können.
Gerade bei Produkten mit geringen Ambitionsniveaus oder Produkten, die die Zielerreichung letztlich nicht beweisen können, kann die Einstufung als Artikel 8-Produkt daher zu Schwierigkeiten führen. Soweit Investoren zur Investition in Artikel 8-Produkte geraten wird, sollte daher auch darüber aufgeklärt werden, dass Artikel 8-Produkte gerade keine nachhaltige Investition darstellen (auch, wenn sie partiell nachhaltige Investitionen enthalten können) und es ggf. geboten ist, sich detailliert mit den beworbenen Nachhaltigkeitsmerkmalen zu beschäftigen. Bei einigen Produkten bestehen ggf. erhöhte Risiken, dass die Zielerreichung nicht nachgewiesen wird. Investoren sollten für diesen Fall Vorkehrungen treffen und ggf. erhöhte Folgekosten einpreisen.
Dies gilt auch für Artikel 8-Produkte, die ihre Einstufung aufgrund des Umstands erlangen, dass sie (lediglich) nachteilige Nachhaltigkeitsauswirkungen berücksichtigen (sog. Pricipal-Adverse-Impact-[PAI-]Produkte). Auch hier ist zunächst entscheidend, dass das Produkt die Beseitigung nachteiliger Auswirkungen messbar “fördert”. So kann z. B. das unbereinigte geschlechtsspezifische Verdienstgefälle als ein Indikator zur Messung einer nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkung verwendet werden, wenn (messbar) festgelegt wird, wie (durch das Produkt) dieses Verdienstgefälle künftig verringert werden soll.
Stellungnahmen der Kommission, der Aufsichtsbehörden und die Regulatorik an sich haben die Messlatte der Nachhaltigkeit in den letzten Monaten stark angehoben. Dadurch entsteht ein neues Nachhaltigkeitsrisiko: das Risiko, dass Strukturierungs- und Produktkosten sich so negativ auf die Rendite auswirken, dass die Nachfrage wegbricht und damit regulatorische Ziele ggf. gar nicht erreicht werden.
Prof. Dr. Bernd Geier, LL.M. (Cambridge), RA/Solicitor (England & Wales), ist Partner bei Rîmon Falkenfort in Frankfurt a. M. und Inhaber der Professur für Wirtschaftsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Regulierung an der SRH Hochschule Heidelberg.