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RdF 2020, 161
Krahnen 

Wie Europa die Kapitalmarktunion realisieren kann

Die Etablierung einer einheitlichen Marktaufsicht ist für einen echten europäischen Kapitalmarkt unverzichtbar.

Abbildung 1

Seit der Finanz- und anschließenden Wirtschaftskrise von 2008/2009 hat Europa bei der Entwicklung der Bankenunion große Fortschritte gemacht. Dabei spielt die Einrichtung einer einheitlichen Aufsicht (Single Supervisory Mechanism – SSM) verbunden mit einem marktorientierten Haftungs- und Abwicklungsregime (Single Resolution Board – SRB) die entscheidende Rolle. Auch wenn auf beiden Feldern noch erhebliche Implementierungsarbeit zu leisten ist, so kann doch gesagt werden, dass Europa seinen Bankenmarkt ein gutes Stück aus der nationalen Begrenzung befreit hat, und damit nicht nur den europaweiten Wettbewerb, sondern auch die Systemstabilität gestärkt hat.

Wenn Europas Finanzarchitektur nun um ein zweites, gleichwertiges Standbein in der Form eines lebendigen Markts für Eigen- und Fremdkapital erweitert werden soll, so kann man dies nur sehr begrüßen. Indes, damit Kapitalmärkte – ergänzend zu den Banken – zu leistungsfähigen Trägern von Risiken und Verteilern von Kapital werden können, muss ein Weg aus der allzu verbreiteten nationalen Begrenzung der Marktregeln und der Marktaufsicht gefunden werden. Gerade der aktuelle Fall Wirecard verdeutlicht die Risiken einer Marktaufsicht, die ohne klares Mandat, ohne ausreichende Durchgriffsrechte und ohne allzu große Distanz zu den beaufsichtigten Firmen und Marktplätzen agiert. Wirecard könnte daher der Auslöser für eine überfällige öffentliche Debatte sein, in dessen Verlauf eine europäische Marktaufsicht entsteht – eine über nationale Grenzen hinweggehende Aufsicht, die sich weltweit Respekt erwirbt für die Schaffung eines transparenten, leistungsstarken und v. a. integren Marktplatzes. Integrität ist wiederum Voraussetzung dafür, dass sich Investoren (als Kapitalanbieter und Nachfrager nach Wertpapieren) und Firmen (als Kapitalnachfrager und Anbieter von Wertpapieren) vertrauensvoll eines Markts bedienen, um das benötigte Eigen- und Fremdkapital zu handeln bzw. zu emittieren.

Allerdings sollte man auch hier den Tag nicht vor dem Abend loben. Das Ende Juli vom EU-Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis vorgelegte Maßnahmenpaket zur Beförderung der Kapitalmarktunion (etwas missverständlich als “EU Capital Markets Recovery Package” bezeichnet) nennt zwar wichtige Entwicklungshemmnisse, liest sich aber einmal mehr als “Einkaufsliste” wünschenswerter institutioneller Veränderungen. Man kann hier durchaus unterscheiden zwischen “Prio-1”-Themen, die sich auf den ordnungspolitischen Rahmen eines europäischen Kapitalmarkts beziehen, und einer Zahl von “Prio-2”-Themen, die sich auf konkrete Einzelmaßnahmen oder auf einzelne Finanzinstrumente beziehen. Dennoch ist kritisch festzuhalten, dass es erneut an einer Priorisierung der Vorschläge fehlt. Daher steht zu befürchten, dass einmal mehr die “dicken Brocken” auf dem Weg zu einer europäischen Kapitalmarktentwicklung, allen voran die Schaffung einer durchgriffsstarken, einheitlichen Aufsicht, auf der Strecke bleiben können.

Eine Priorisierung der Aufsichtsvereinheitlichung bietet sich nicht nur wegen des gerade bestehenden Lösungsdrucks in Sachen Wirecard an, sondern auch wegen der vielfältigen Denk- und Handlungsanstöße, die von einer starken EU-Marktaufsicht unweigerlich ausgehen würde. Zwei Themen ragen heraus: Die Existenz national unterschiedlicher Insolvenzrechte macht die Nutzung von Sicherheiten im grenzüberschreitenden Kreditverkehr schwierig und ebenso beeinflusst es die Kreditpreise erheblich. Aber auch die Unterschiede der nationalen Pensionssysteme – kapitalgedeckt oder umlagefinanziert – beeinflussen die Kapitalmarktentwicklung. Je mehr Kapitaldeckung der Altersversorgung vorhanden ist, umso größer wird der nationale Kapitalmarkt. Und schließlich ist zu nennen, dass eine internationale Kultur akademischer Forschung zu den Stärken und Schwächen eines europäischen Kapitalmarkts durch eine zentrale Aufsicht und deren Daten- und Transparenzanforderungen geradezu elektrisiert werden kann.

Es wird höchste Zeit, dass gerade von Investorenseite die Forderung nach einer einheitlichen Aufsicht, einem “European Single Market Supervisor”, lautstark vertreten wird. Denn willige Investoren wird Europa benötigen, wenn die gigantischen Schuldenpakete, die die Mitgliedstaaten im Einzelnen und die EU insgesamt angekündigt haben, zu vern_nftigen Preisen einen Käufer finden sollen.

Prof. Dr. Jan Pieter Krahnen ist Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE und Professor an der Goethe-Universität Frankfurt a. M.

 
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