EuGH
Aufenthaltsrecht nach dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei
EuGH, Entscheidung vom 16. Dezember 1992 - C-237/91;
EuGH
vom 16.12.1992
- C-237/91
RIW
1993, 247
(Heft 3)
Urteilstenor:1. Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Arbeitnehmer die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung, seit mindestens vier Jahren ordnungsgemäß beschäftigt zu sein, nicht erfüllt, wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeübt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist; dies gilt auch dann, wenn das Aufenthaltsrecht des Betroffenen durch ein Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts, gegen das ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bestätigt worden ist.2. Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.3. Ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, kann sich unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen, um außer der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu erreichen.Aus den Gründen:»(12) [Es] ergibt sich aus dem ... Urteil Sevince1EuGH, 20. 9. 1990, Slg. 1990, I-3461., daß die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraussetzt (Randnr. 30 des Urteils) und daß ein türkischer Arbeitnehmer sich während eines Zeitraums, während dessen er infolge der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine Entscheidung, durch die ihm das Aufenthaltsrecht verweigert worden ist, vorläufig in dem betreffenden Mitgliedstaat bleiben und dort eine Beschäftigung ausüben darf, nicht in einer solchen Position befindet (Randnr. 31).(13) Dies muß auch in einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens gelten, in dem die Klage nicht kraft Gesetzes ohne weiteres aufschiebende Wirkung hat, sondern in dem die aufschiebende Wirkung rückwirkend durch ein Gericht angeordnet wird. Wie der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen in Nr. 30 ausgeführt hat, gilt die Aussetzung in beiden Fällen nur für die Dauer des Rechtsstreits und bewirkt, daß der Kläger sich bis zu einer endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht vorläufig in dem betreffenden Staat aufhalten und dort arbeiten darf.(14) Dem steht auch nicht entgegen, daß der Betroffene wie im Ausgangsverfahren ein erstinstanzliches Urteil erwirkt, durch das sein Aufenthaltsrecht bestätigt wird, das aber aufgrund seiner Anfechtung im Berufungsverfahren noch aufgehoben werden kann und daher die aufenthaltsrechtliche Stellung des Betroffenen nicht endgültig regelt.(15) Der Grund, aus dem der Gerichtshof es in der zitierten Randnummer 31 des Urteils Sevince abgelehnt hat, als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung die Zeiten anzusehen, die der Betroffene zurückgelegt hat, während seine Klage gegen die Entscheidung, durch die ihm das Aufenthaltsrecht verweigert worden ist, aufschiebende Wirkung entfaltete, bestand nämlich darin, zu verhindern, daß ein türkischer Arbeitnehmer sich die Möglichkeit zur Erfüllung dieser Voraussetzung und somit zum Erwerb des Aufenthaltsrechts, das mit dem in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Recht auf freien Zugang zu jeder Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis untrennbar verbunden ist, während eines Zeitraums verschafft, in dem er über ein nur vorläufiges Aufenthaltsrecht bis zum Abschluß des Rechtsstreits verfügte.(16) Dieser Grund gilt so lange weiter, als nicht endgültig feststeht, daß dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht von Rechts wegen zustand; andernfalls würde einer Gerichtsentscheidung, durch die ihm dieses Recht endgültig verweigert wird, jede Bedeutung genommen und ihm damit ermöglicht, für sich die in Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich vorgesehenen Rechte während eines Zeitraums zu begründen, in dem er die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllte.(17) Das Vorbringen des Klägers, die Nichtberücksichtigung eines erstinstanzlichen Urteils, durch das das Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen bestätigt werde, führe dazu, daß eine - auch rechtswidrige - Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis geeignet sei, dem Betroffenen die Rechte zu nehmen, die er aus Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 herleiten könne, ist nicht stichhaltig, denn der Betroffene ist, wird dieses Recht endgültig anerkannt, rückwirkend so zu behandeln, als habe er während des fraglichen Zeitraums ein nicht nur vorläufiges Aufenthaltsrecht und daher eine gesicherte Stellung auf dem Arbeitsmarkt besessen.(21) [Artikel 6 Absatz 1 gilt nach seinem] ... Wortlaut nur für türkische Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören; insbesondere hat ein türkischer Arbeitnehmer nach Artikel 6 Absatz 1 schon dann Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber, wenn er seit mehr als einem Jahr eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt hat. Diese Bestimmung macht also die Zuerkennung dieses Anspruchs von keiner weiteren Voraussetzung und insbesondere nicht von den Voraussetzungen abhängig, unter denen das Recht auf Einreise und Aufenthalt erlangt worden ist.(22) Selbst wenn also die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmung eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts oder sogar, falls erforderlich, den Besitz einer ordnungsgemäßen Aufenthaltserlaubnis voraussetzt, sind die Gründe, aus denen dieses Recht eingeräumt oder aus denen diese Erlaubnis erteilt wird, für die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausschlaggebend.(23) Sobald ein türkischer Arbeitnehmer seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis eine Beschäftigung ausgeübt hat, erfüllt er somit die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, selbst wenn ihm die Aufenthaltserlaubnis, über die er verfügt, ursprünglich zu anderen Zwecken als zur Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis erteilt worden ist.(24) In der mündlichen Verhandlung hat die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend gemacht, diese Auffassung könne sich dahin auswirken, daß türkische Staatsangehörige je nachdem unterschiedlich behandelt würden, ob sie, wenn der ursprüngliche Grund ihres Aufenthalts nicht darin bestanden habe, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, nach dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats, in dem sie sich aufhielten, arbeiten dürften oder nicht.(25) Es ist jedoch festzustellen, daß eine solche Situation nur die Folge des Umstands wäre, daß der Beschluß Nr. 1/80 die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt läßt, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, und lediglich, insbesondere in Artikel 6, die Stellung türkischer Arbeitnehmer regelt, die bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten eingegliedert sind. Sie kann es daher nicht rechtfertigen, türkischen Arbeitnehmern, die nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats bereits eine Arbeitserlaubnis und, falls ein solches erforderlich ist, ein Aufenthaltsrecht besitzen, die in Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Rechte zu entziehen.(26) [Es] ist daher [festzustellen] ..., daß Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.(27) ... (28) ... Der Gerichtshof [hat] in dem bereits angeführten Urteil Sevince für Recht erkannt, daß Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung hat (Nr. 2 des Urteilstenors).(29) In diesem Urteil hat der Gerichtshof zu Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 festgestellt, daß diese Bestimmung zwar lediglich die beschäftigungsrechtliche und nicht die aufenthaltsrechtliche Stellung der türkischen Arbeitnehmer regelt, daß diese beiden Aspekte der persönlichen Situation türkischer Arbeitnehmer jedoch eng miteinander verknüpft sind und daß die fraglichen Bestimmungen, indem sie diesen Arbeitnehmern nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemäßer Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gewähren, zwangsläufig implizieren, daß den türkischen Arbeitnehmern zumindest zu diesem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil anderenfalls das Recht, das sie diesen Arbeitnehmern zuerkennen, völlig wirkungslos wäre (Randnr. 29 des Urteils).(30) Diese Feststellung gilt auch für Artikel 6 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, denn ohne Aufenthaltsrecht wäre für den türkischen Arbeitnehmer die Einräumung eines Anspruchs auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung ebenso wirkungslos.(31) Dem steht nicht entgegen, daß die Einzelheiten der Durchführung des Artikels 6 Absatz 1 nach Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt werden. Wie der Gerichtshof im Urteil Sevince (a. a. O., Randnr. 22) bereits ausgeführt hat, wird durch Artikel 6 Absatz 3 des Beschlusses Nr. 1/80 die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung zum Erlaß derjenigen Verwaltungsmaßnahmen, die zur Durchführung dieser Bestimmung gegebenenfalls erforderlich sind, nämlich nur konkretisiert, ohne daß die Mitgliedstaaten dadurch ermächtigt würden, die Ausübung des genau bestimmten und nicht an Bedingungen geknüpften Rechts, das den türkischen Arbeitnehmern aufgrund dieser Bestimmung zusteht, an Bedingungen zu binden oder einzuschränken.(32) In ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen bestreitet die deutsche Regierung ausdrücklich, daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Aufenthaltsrecht bestehe, und macht geltend, daß sich selbst hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Fallgestaltungen ergeben könnten, in denen diese beiden Aspekte nicht notwendig zusammenfielen. Beispiele hierfür seien zum einen Artikel 3 Absatz 2 und Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. Nr. 56, S. 850), wonach das Aufenthaltsrecht wegen bestimmter Straftaten oder bestimmter Krankheiten entzogen oder verweigert werden könne, und zum anderen das Urteil vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-292/82 (Antonissen, Slg. 1991, I-745), aus dem sich ergebe, daß das Aufenthaltsrecht eines Gemeinschaftsangehörigen, der ohne Erfolg Arbeit gesucht habe, zeitlich beschränkt werden könne, ohne daß er deshalb sein unbeschränktes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt verliere.(33) Keines dieser Beispiele ist jedoch einschlägig. Sie zeigen nämlich keineswegs, daß ein einzelner das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen kann, sondern unterstreichen vielmehr, daß das Aufenthaltsrecht für den Zugang zum Arbeitsmarkt und für die Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unerläßlich ist.(34) Zum einen sieht die Richtlinie 64/221, um zu verhindern, daß ein so grundlegendes Recht wie das der Freizügigkeit der Arbeitnehmer übermäßig eingeschränkt wird, in Artikel 3 Absatz 2 vor, daß strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht ohne weiteres begründen können, und bestimmt in Artikel 4 Absatz 1, daß bestimmte Krankheiten, die überdies im Anhang abschließend aufgeführt sind, nur eine Verweigerung der Einreise oder der ersten Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen können. Im übrigen läßt auch der Beschluß Nr. 1/80 - ebenso wie Artikel 48 Absatz 3 EWG-Vertrag und die Richtlinie 64/221/EWG - in Artikel 14 Absatz 1 Beschränkungen der in ihm vorgesehenen Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu.(35) Zum anderen hat der Gerichtshof in dem angeführten Urteil Antonissen den Gemeinschaftsangehörigen auf der Grundlage der Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht nur zur Bewerbung um tatsächlich angebotene Stellen, sondern auch zur Suche nach einer solchen Stelle eingeräumt.(36) [Es] ... ist daher [festzustellen] ..., daß sich ein türkischer Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erster oder dritter Gedankenstrich des BeschlussesNr. 1/80, unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen kann, um außer der Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu erreichen.«
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