Einsicht in kartellbehördliche Akten – das Ende der Kronzeugenregelungen oder viel Lärm um Nichts?
Die Diskussion um den Umfang des Rechts von Schadensersatzklägern, Einsicht in Kronzeugenunterlagen (d. h. in Anträge auf den Erlass bzw. die Reduktion von Geldbußen und die dazu übermittelten Beweismittel) zu nehmen, reißt nicht ab. Sie wird befeuert durch eine Reihe neuerer Entscheidungen auf mitgliedstaatlicher und EU-Ebene.
Gut ein Jahr ist vergangen, seit der Gerichtshof in seinem vielbeachteten Urteil Pfleiderer (EuGH, RIW 2011, 543) klargestellt hat, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte ist, über den Zugang zu Kronzeugenunterlagen zu entscheiden und insoweit eine einzelfallbezogene Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen vorzunehmen. Bei den widerstreitenden Interessen handelt es sich namentlich um die wirksame öffentliche Kartellverfolgung, welcher durch Kronzeugenregelungen unstreitig Vorschub geleistet wird, sowie um eine effektive private Kartellrechtsdurchsetzung im Wege zivilrechtlicher Schadensersatzklagen.
Das AG Bonn, welches die Vorlagefrage in Sachen Pfleiderer an den Gerichtshof gerichtet hatte, lehnte ein Einsichtsrecht in die Kronzeugenunterlagen ab. Es befürchtete, dass andernfalls Kartellbeteiligte davon abgehalten werden könnten, von der Bonusregelung Gebrauch zu machen, und sah daher den Untersuchungszweck künftiger Kartellverfahren gefährdet i. S. d. § 406 e StPO. Trotz des Einzelfallcharakters der Entscheidung lässt sie eine Prognose auch für zukünftige Verfahren betreffend den Zugang zu Akten des Bundeskartellamts zu. Diese “Rechtssicherheit” könnte durch einen Wechsel des zuständigen Einzelrichters jedoch schnell wegfallen. Es ist daher umso weniger verständlich, dass im laufenden Gesetzgebungsverfahren zur 8. GWB-Novelle die ursprünglich vorgesehene Regelung zum Ausschluss der Akteneinsicht in Kronzeugenunterlagen gestrichen wurde.
Die Problematik ist jedoch nicht auf Deutschland beschränkt. Eine Reihe von Gerichten in anderen Mitgliedstaaten sieht sich mit ähnlichen Anträgen konfrontiert. Dabei tritt zuweilen die zentrale Fragestellung in den Hintergrund, nämlich welchen inhaltlichen Mehrwert Kronzeugenunterlagen für die Vorbereitung einer Schadensersatzklage liefern können. Naturgemäß befassen sich Kronzeugenanträge in erster Linie mit dem kartellrechtlich relevanten Sachverhalt. Aufgrund der Bindungswirkung der Bußgeldentscheidungen der Kommission steht die Tatbestandsmäßigkeit jedoch ohnehin häufig fest. Die größte Schwierigkeit der Kläger liegt vielmehr im Nachweis der Kausalität und der Schadenshöhe. Hierzu werden sich in Kronzeugenunterlagen jedoch nur ganz ausnahmsweise brauchbare Informationen finden.
Erfreulicherweise setzte sich der britische High Court of Justice in Sachen National Grid – unterstützt von einem Amicus Curiae-Schreiben der EU-Kommission – im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dezidiert mit diesem Aspekt auseinander. Justice Roth stellte zunächst klar, dass Kronzeugen mit Blick auf spätere Schadensersatzforderungen nicht schlechtergestellt werden dürfen als andere Kartellbeteiligte. Insbesondere sei zu hinterfragen, ob sich die begehrten Informationen nicht aus anderen – frei zugänglichen – Dokumenten ergäben oder ob die Akteneinsicht auf bestimmte Auszüge aus umfangreicheren Unterlagen beschränkt werden könne. Justice Roth kam zu dem Schluss, dass das Gericht die Dokumente im Einzelnen auf ihre Relevanz für das Klägerbegehren zu sichten und zu beurteilen habe.
Zu einem ähnlichen Ergebnis, wenngleich mit entgegengesetzter Stoßrichtung, gelangte jüngst das Gericht der Europäischen Union in seiner Entscheidung EnBW (T-344/08). Das Gericht entschied, dass eine Einsichtnahme in die Kommissionsakte einschließlich der Kronzeugenunterlagen nach der sog. Transparenzverordnung (VO 1049/2001) regelmäßig nur nach einer Einzelprüfung der betreffenden Dokumente durch die EU-Kommission verweigert werden dürfe. Anders als das AG Bonn ließ das Gericht eine Gefährdung zukünftiger Verfahren nicht als Rechtfertigung ausreichen, sondern stellte allein auf das konkrete, mit der Bußgeldentscheidung – wenn auch noch nicht rechtskräftig – abgeschlossene Verwaltungsverfahren ab. Ob diese Rechtsprechung Bestand haben wird, erscheint jedoch im Lichte der Urteile des Gerichtshofs in Sachen Éditions Odile Jacob (C-404/10 P) und Agrofert (C-477/10 P) fraglich. Diese Entscheidungen rügten einen entsprechenden Ansatz des Gerichts hinsichtlich des Zugangs zu Unterlagen in Fusionskontrollverfahren und gaben der EU-Kommission zumindest im Bereich der Fusionskontrolle einen größeren Spielraum, die Akteneinsicht nach der Transparenzverordnung zu verweigern.
Auch wenn es die erklärte Absicht der europäischen Kartellbehörden ist, Kronzeugenunterlagen weitgehend zu schützen, ist die Schaffung eines EU-weiten Rechtsrahmens unumgänglich, um ein Mindestmaß an Rechtssicherheit herzustellen. Die diesbezüglichen Bestrebungen der Kommission sind daher zu begrüßen. Dabei sollte eine Privilegierung von Kronzeugen in Schadensersatzprozessen nach US-amerikanischem Vorbild ernsthaft erwogen werden, um die Attraktivität der Kronzeugenregelungen auch angesichts der steigenden Zahl von Schadensersatzprozessen zu erhalten.
Dr. Stephanie Birmanns, Rechtsanwältin, Brüssel