Recht und Wirtschaft
Seit der Finanzkrise 2008 gelten in Recht und Wirtschaft nicht mehr die alten Regeln. Ökonomische Grundgesetze scheinen zu verfallen. Böhm v. Bawerk schrieb, was 1921 fast eine Trivialität war: “Nehmen wir an, es wäre . . . der Zins aus der Volkswirtschaft völlig verschwunden. . . . Dann wäre die unausbleibliche Folge eine jede Grenze überschreitende Steigerung der Nachfrage.” Nachfrageeinbrüche trotz jahrelanger Nullzinspolitik widerlegen das. Ähnlich im Recht der Wirtschaft. Fundamentalsätze wie Vertragsfreiheit und Vertragstreue werden umgewertet. Das Insolvenzrecht verliert seine marktbereinigende Funktion.
Verbunden mit der Klimadiskussion hat die Corona-Epidemie zu einer Art Wetterfühligkeit geführt. Wir ahnen grundlegende Änderungen unseres Bedürfnishorizonts. Die Nachfrage nach manchen Wirtschaftsgütern, welche die Wirtschaft unter dem Zauber der Stetigkeitsillusion (was gestern gut war, ist es heute auch!) fortfährt, uns anzubieten, lässt nach. Verschwindet sie bald ganz? Schleiermacher (1768–1834) sagte einmal: “Der Glaube an die Güte Gottes ist der Glaube an die Entbehrlichkeit des Angenehmens zu den höchsten Endzwecken des Menschen.” Auf uns gemünzt: Der Glaube an ein sinnerfülltes Leben ist der Glaube an die Entbehrlichkeit vieler heutiger Wirtschaftsgüter.
Wirtschaftsgüter verlieren ihren Wert nicht nur durch Marktsättigung, was in der Diskussion viel zu kurz kommt, sondern auch, weil die Stetigkeit sich als Illusion erweist. Das kommt periodisch vor. Zwei Beispiele: Die Reformation von 1517 hatte den Nebeneffekt, dass Reliquien, ein wesentlicher Vermögensstock vieler Klöster, Bistümer und Privater, jählings wertlos wurden wie eine außer Kraft gesetzte Banknote. Luther lehrte, dass sie dem Seelenheil eher schaden als nützen. Oder: Um 1750 war ein afrikanischer Sklave in Westindien ein Wirtschaftsgut, dessen Wert vom Preis für karibischen Zucker abhing. Der in Preußen um 1800 entdeckte Rübenzucker ließ den Preis des Zuckers und damit auch der Sklaven einbrechen. Bei abnehmendem wirtschaftlichen Wert eines Sklaven überwogen nun die gegen die Sklaverei bestehenden sittlichen Werte. Die Nachfrage nach Sklaven nahm ab, sodass ein Verbot des Sklavenhandels durchsetzbar wurde. Ein ähnlicher Verlauf zeigt sich, wenn heute der sittliche Wert des Tierschutzes gegen den niedrigen Preis für Schweinefleisch oder der kostentreibende Umweltschutz gegen den an sich wirtschaftlichen Dieselmotor ausgespielt wird.
Endzweck aller menschlichen Betätigung ist, dem Leben einen Sinn zu geben. Das wird durch den Erwerb materieller Wirtschaftsgüter erstrebt, aber nicht wirklich erreicht. Ein Umdenken zeigt sich, wenn ALDI mit Markenminimalismus wirbt und DACIA Kunden anspricht, die ein Auto, jedoch kein Statussymbol brauchen. Noch ist unsicher, welche immateriellen Wirtschaftsgüter neben vielen gewiss weiterhin nötigen materiellen Wirtschaftsgütern künftig nachgefragt werden. Sicherlich werden aber dazu gehören Leben in “der Freiheit heiligem Schutz” (Schiller), Geborgenheit im Rechtstaat und Teilhabe an Gemeinschaftsgütern wie Bildung. In den wohlhabenden Volkswirtschaften des Westens reichert sich der Bedürfnishorizont stetig wachsend mit immateriellen Werten an. Die Teilhabediskussion ist in vollem Gange. Eine Rückkehr zu alten Regeln und zu einer Wirtschaft auf Vor-Corona-Niveau ist daher nicht zu erwarten. Damit wandeln sich auch die Begriffe Recht und Wirtschaft.
Stichwort Wirtschaft: Wirtschaftswissenschaftliche Theorien beruhen auf dem Axiom der Knappheit von nachgefragten Wirtschaftsgütern. Vielleicht aber gilt dieses Axiom nur für den Grenzfall einer noch im Aufbau begriffenen Volkswirtschaft. In reifen, durch globale Lieferketten versorgungssicheren Volkswirtschaften hat es offenbar stetig abnehmende Bedeutung. Die meisten von uns haben, jedenfalls im Bereich des lebenswichtigen, nicht elastischen Bedarfes genug. Die vierte Bitte im Vaterunser (“Unser täglich Brot gib uns heute”) läuft bei vielen wegen Sättigung ins Leere. Unter dem Gold- oder Silberstandard waren die Staaten von Geldknappheit bedroht. Georg Knapp (1842–1926) hat in “Staatliche Theorie des Geldes” (1905) erkannt: “Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung”. Staaten schaffen und vernichten Geld: Fiat Geld, und zwar nach Belieben! Was Zentralbanken tun, beruht auf dieser Erkenntnis. Vielleicht gelten unsere herkömmlichen Vorstellungen von Geld und Zinsen nur für den Grenzfall einer noch nicht ausgereiften Volkswirtschaft.
Stichwort Recht: Das Recht ist nach der “Reinen Rechtslehre” (Kelsen) ein System von Zwangsnormen. Auch der Zwangscharakter des Rechts könnte aber ein Axiom wie das Knappheitsaxiom sein. Zwang ist nur in dem Grenzfall nötig, dass Ansprüche kollidieren, die nicht alle erfüllt werden können. Das ist im Streit um materielle Wirtschaftsgüter oft der Fall. Es ist aber fraglich, ob und wie das für immateriellen Wirtschaftsgüter gilt. Die hier nur angedeuteten immateriellen Wirtschaftsgüter dürften als elastischer Bedarf wegen ihrer Substituierbarkeit rechtlich freier gestaltbar sein. Überdies wird auch das ius strictum immer häufiger von einem unverbindlichen Schwachrecht (Softlaw) aus Kulanz, Courtoisie usw. überlagert. Neue oder wieder entdeckte Streitschlichtungsmechanismen wie die Mediation weisen insgesamt wohl in eine Richtung, wo das Recht zwar lenkt, aber nicht zwängt.
Schiller (Wilhelm Tell, IV/2) sagt: “Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit . . .”. Wir stehen vor einer grundlegenden Neubewertung unserer Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Wenn wir das verantwortungsvoll betreiben, wird sich auch der zweite Teil des Zitats erfüllen: “. . . und neues Leben blüht aus den Ruinen.”
Dr. Menno Aden, Essen