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RIW 2022, I
Knöfel 

Videokonferenztechnologie im grenzüberschreitenden Zivilprozess

Abbildung 1

Plädoyer für die Abkehr vom Rechtshilfeerfordernis bei grenzüberschreitenden Beweisaufnahmen im Zivilprozess

Im Internationalen Zivilprozessrecht erwartet man von den Verwaltungsgerichten gemeinhin keine Sensationen. Umso bemerkenswerter ist der Beschluss des VG Freiburg vom 11. 3. 2022 (RIW 2022, 476), eine Partei per Videokonferenz von der Schweiz aus verhandeln zu lassen:

“Zwar wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass zur Wahrung territorialer Souveränität Videokonferenzen mit dem Ausland in Ausübung von Staatsgewalt (hier der Judikative) grundsätzlich nur im Wege der Rechtshilfe zulässig sind (. . .). Indem den Klägerinnen bzw. ihren Vertretern auf ihren Antrag gestattet wird, an der in der Bundesrepublik Deutschland stattfindenden mündlichen Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen, übt das Gericht aber keine Hoheitsgewalt in der Schweiz aus. Durch die Teilnahme (. . .) im Wege der Bild- und Tonübertragung ändert sich am Ort der Gerichtsverhandlung nichts. (. . .) Es kann auch nicht davon gesprochen werden, dass von der Bild- und Tonübertragung (mittelbar) hoheitliche Wirkungen in der Schweiz ausgingen.”

Das Gericht beschloss nach § 102a VwGO, der Parallelnorm zu § 128a ZPO. Das Judikat könnte Bewegung in die festgefahrene Debatte um das Rechtshilfeerfordernis für internationale Video-Links bringen. Der Beschluss bezieht sich strenggenommen “nur” auf die Videoverhandlung (§ 128a Abs. 1 ZPO), nicht auf die Videovernehmung (§ 128a Abs. 2 ZPO), ist aber die wohl erste bekannt gewordene Entscheidung eines deutschen Gerichts, die eine Souveränitätsverletzung durch Bild- und Tonübertragungen in das bzw. aus dem Ausland explizit ausschließt.

Die Corona-Pandemie hat § 128a ZPO aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Vielerorts sind Videokonferenzen im innerstaatlichen Prozess pragmatisch bewerkstelligt worden – weil man musste und auch konnte, denn technisch genügt dafür heute fast jedes digitale Endgerät.

Bisher erreichte der von Corona und der Technik befeuerte Pragmatismus das Internationale Zivilverfahrensrecht nicht. Der BGH mahnt nur Ermessensgebrauch an: Ein Auslandszeuge ist erst unerreichbar, wenn § 128a ZPO geprüft wurde (zuletzt BGH, 22. 7. 2021, BeckRS 2021, 30572). Die Neufassung der Europäischen Beweisaufnahmeverordnung (EuBewVO), die ab 1. 7. 2022 angewandt wird, soll eigentlich den Einsatz von Videokonferenztechnik fördern, wirkt aber regelrecht kontraproduktiv. Art. 20 EuBewVO n. F. normiert zwar erstmals die “Unmittelbare Beweisaufnahme per Videokonferenz (. . .)”, macht den Technologieeinsatz aber zum Unterfall der passiven Rechtshilfe auf Ersuchen und verlangt daher immer eine Genehmigung der Zentralstelle im Zielstaat ohne Blick darauf, ob die Beweisperson mitwirkungsbereit ist. Freier Video-Beweistransfer ohne Rechtshilfe ist selbst bei kooperativen Auslandszeugen nicht mehr möglich. Damit ist die EuBewVO n. F. leider der tradierten Ansicht gefolgt, die sich stark von den Souveränitätsvorstellungen des Völkerrechts und der Rechtshilfe in Strafsachen leiten lässt. Dabei droht überhaupt keine Souveränitätsverletzung: Der Völkerrechtssatz, dass Hoheitsträger nicht im Ausland handeln dürfen, soll die Staaten davon abhalten, fremde Befugnisse zu usurpieren. Freilich wird nichts usurpiert, wenn sich ein Gericht eigene Wahrnehmungen aus einem anderen Hoheitsgebiet erschließt, ohne sich selbst auf fremdem Boden zu befinden und ohne sich durch dortiges Auftreten fremde Befugnisse sichtbar anzumaßen. Das Prozessgericht agiert nur am digitalen Endgerät im Inland. Es benutzt nur technische Mittel, um Sinneseindrücke von entfernten Orten zu erhalten – bildlich gesprochen kaum anders, als würde es mit einem Fernglas über die Grenze spähen. Dabei bleibt die Kompetenzordnung des Beweismittelstaates völlig intakt.

Der deutsche Gesetzgeber beschloss am 19. 5. 2022 ein Ausführungsgesetz zur EuBewVO n. F. (Regierungsentwurf: BT-Drs. 20/1110), konnte die Fehlentwicklung der EuBewVO aber natürlich nicht korrigieren. Das Gesetz hätte wenigstens § 128a ZPO explizit für den “Auslandseinsatz” erweitern können und damit den Gerichten, die die Norm durch Corona “entdeckt” haben, deren grenzüberschreitende Nutzbarkeit nahelegen können, tut aber auch das nicht. Nur § 1072 Nr. 2 ZPO n. F. weist jetzt auch auf Art. 20 EuBewVO n. F. hin – in der “Hoffnung” und “Erwartung”, dass “Gerichte künftig (. . .) öfter von der Möglichkeit einer Videobeweisaufnahme Gebrauch machen” (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 20/1888, S. 37). Wie realistisch ist das aber, wenn man EU-intern an der Rechtshilfe eines anderen Staates beim Videoeinsatz nicht mehr vorbeikommt?

Daher wird schon lange gefordert, in Zivilsachen auf ein Rechtshilfeerfordernis für Video-Links zu verzichten (Knöfel, RIW 2006, 302, 304. Dies entspricht der Praxis in der angelsächsischen Welt, vom UK über die USA und Kanada bis Australien (Knöfel, RIW 2021, 247, 249. Bleibt der Justizstandort Europa dahinter zurück, bedeutet das einen Nachteil im Wettbewerb der Rechtsordnungen. Die battle of the brochures gewinnen andere, wenn man in der EU darauf beharrt, technologiegestützte Maßnahmen in das Korsett der Rechtshilfe hineinzupressen.

Fazit: Kein Rechtshilfeerfordernis für grenzüberschreitenden Videoeinsatz – nicht für Beweisaufnahmen, erst recht nicht für die Teilnahme an Verhandlungen! Die frisch geänderte EuBewVO muss so geändert werden, dass wieder autonomer Beweistransfer mit digitalen Mitteln möglich wird. Pragmatische Entscheidungen wie die des VG Freiburg zeigen den Weg.

Professor Dr. Oliver L. Knöfel, Frankfurt (Oder)

 
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