Wer die Norm setzt, steuert den Markt
Die Strategie der Kommission ist vernünftig, kommt aber reichlich spät
Andere haben am 2. 2. 2022 geheiratet; die EU-Kommission hat an diesem Tag ihre Strategie für die zukünftige internationale Technologienormung vorgestellt (Com[2022] 31 final). Man darf sagen: keinen Tag zu früh!
Lange hatte man den Eindruck, dass die Kommission den Erfolg ihres eigenen new approach schlicht vergessen hatte: 1985 unter dem großen Jaques Delors ins Leben gerufen, entstanden bisher durch CEN, Cenelec und ETSI rund 3600 europäisch harmonisierte Normen als Vermutungshilfen für europäische Rechtsakte, mittlerweile basierend auf der insofern zentralen VO 1025/2012. Der EU-Binnenmarkt hat enorm von dieser Standardisierung profitiert, und doch wurde etwa beim Thema Cybersicherheit zu lange gezögert, diese Arbeitsteilung zwischen Normung und Rechtssetzung neuerlich zu mobilisieren. Das ausgesprochen unglückselige James-Elliott-Urteil des EuGH aus 2016 (Rs. C-613/14) hat dann der Normungseuphorie wahrlich nicht gutgetan, auch weil die Kommission eine fast hysterische Auslegung dieses Urteils zur Grundlage ihres weiteren Handelns gemacht hat: Die Kommission mischt sich etwa seit 2018 massiv in Verfahrensablauf wie Normungsinhalte ein; deren DNA als freiwillige industrielle Standardisierung steht zur Frage, ebenso die urheberrechtliche Kostenpflichtigkeit als Refinanzierung des Normungsaufwands. Wertvolle Jahre für eine strategisch offensive Normung sind mit bürokratischen Abgrenzungsdebatten um Normen als Teil des Unionsrechts verloren gegangen.
Wie gesagt: Keinen Tag zu früh kommt dieses Strategiepapier, mit dem die Kommission den Blick weg vom internen Binnenmarkt hin zur globalen Normung wendet. Es ist ein gutes Papier. Inhaltlich zutreffende Analysen paaren sich mit ambitioniertem Realismus im internationalen Technologie- und Werte-Wettbewerb. Und doch kann ich nicht anders, als zu sagen: Welchen Schlaf habt Ihr die letzten 15 Jahre denn geschlafen? Wirklich jeder in der Szene des internationalen Waren- und Technikrechts kannte seit Ewigkeiten den überwältigenden personellen Einsatz, mit dem China die Normungsorganisationen in ihren Technischen Komitees geradezu flutete – und zwar bei ISO, IEC und ITU gleichermaßen. Jeder konnte sehen, dass dabei gezielt die Normungsarbeit in Zukunftstechnologien wie Lithiumbatterien, Gesichtserkennung und Digital Twins im Mittelpunkt stand, in jenen Bereichen also, die die Kommission 2022 endlich als strategisch wichtig, aber auch als Werte-affin bei geopolitisch anderem Werte-Kodex identifizieren konnte.
Man will dem jetzt mit einem Maßnahmenbündel entgegenwirken. Ein höheres Innovationstempo soll als Herausforderung begriffen werden, Normungsbedarf soll frühzeitig antizipiert werden, die strategische Bedeutung von Normen soll anerkannt werden (ich lache immer noch!), und insbesondere die Bereich Cybersicherheit und KRITIS-Resilienz sollen in den Fokus rücken. Dazu will man Kräfte freisetzen, aber auch bündeln: Ein sog. Hochrangiges Forum soll die epochale Arbeit durchsteuern. Parallel soll ein “EU-Exzellenzzentrum für Normen” Wissen archivieren und Wissensträger miteinander kombinieren. Dieser letztgenannte Punkt rückt ein weiteres Szene-bekanntes Problem in den Blick: Die Normer überaltern! Im Grunde tritt eine ganze Generation von new approach-Normungsexperten der ersten Jahre ab, ohne dass dieses know how rechtzeitig in jüngere Köpfe übertragen wurde. Dieser tausendfache brain drain steht in eklatantem Gegensatz zum Alter insbesondere der chinesischen Normungsexperten. Ob für die notwendige Personalakquisition die von der Kommission geplanten Normungstage an Universitäten helfen werden, steht ziemlich in den Sternen. Denn es fehlen nicht nur normungsfähige Arbeitnehmer, es fehlen immer mehr auch normungswillige Arbeitgeber! Gerade die Technologiekompetenz in der F&E-Abteilungen der KMU bildete das Kompetenz-Rückgrat der Industrienormung. Diese Abordnung und arbeitszeitliche Freistellung der hochspezialisierten Arbeitnehmer werden zunehmend eine Herausforderung. Viele Normungsstellen bleiben schlicht mangels Personen unbesetzt. Ohne gravierende finanzielle Entschädigung wird eine Trendumkehr schwierig; von ihr spricht das Strategiepapier indes nicht. Stattdessen wird – schon wieder, wie nach der Rs. James Elliott – darüber sinniert, die europäischen Normungsorganisationen sollten über einen kostenlosen Zugang zu Normen in Erwägung ziehen. Als wenn dies ein einziges Problem auch nur antippen würde!
Was dem Strategiepapier industriepolitisch zudem zu entnehmen ist, ist das klare Bekenntnis der Kommission zur Tendenz weiterer “Ausweichlösungen”. Schon jetzt gibt es regulierte Sektoren, in denen die Kommission die Befugnis erhalten hat, technische Spezifikationen selbst via Durchführungsrechtsakt zu erlassen. Hier wird nicht mehr genormt, sondern reguliert. Und das soll noch zunehmen: von Düngemitteln und Medizinprodukten soll es weitergehen zu KI, Batterien, Maschinen und dem Wasserstoff- und Gasmarkt. Das staatshaftungsrechtliche Risiko dabei hat die Kommission in meiner Wahrnehmung noch nicht erkannt. Aber als normungspolitische Initiative kann eine solche Normungs-“Entmannung” wahrlich kaum durchgehen.
Professor Dr. Thomas Klindt, , Rechtsanwalt, München