Gastbeitrag: Böse Überraschung
Die Haftung des Geschäftsleiters für Steuerverbindlichkeiten nach einem Restrukturierungs- oder Insolvenzplan
von Prof. Dr. Jens Schmittmann, Essen
Böse Überraschung für Geschäftsleiter: Nachhaftung trotz Verzicht!
Die Bereinigung der Passivseite der Bilanz des Unternehmens ist in aller Regel das Ziel eines Restrukturierungs- oder Insolvenzplans. Dabei erfolgt häufig ein teilweiser Forderungsverzicht der Gläubiger. Für den Geschäftsleiter stellt sich nach der Konsolidierung der finanziellen Verhältnisse der haftungsbeschränkten Gesellschaft, also der GmbH oder AG, die Frage, was mit nicht bezahlten Steuerschulden geschieht. Die gerichtliche Bestätigung eines Restrukturierungs- oder Insolvenzplans regelt die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, so dass die Ansprüche der Gläubiger gegen Dritte, also auch Haftungsschuldner, gemäß § 254 Abs. 2 InsO weiterverfolgt werden können. Dies kann nach Planbestätigung zu bösen und teuren Überraschungen für Geschäftsführer und Vorstände führen.
Es droht nämlich der Erlass eines Haftungs- und Nachforderungsbescheids nach Abschluss eines Restrukturierungs- oder Insolvenzplanverfahrens: Die (teilweise) Befreiung des Insolvenzschuldners von seinen Verbindlichkeiten durch den Insolvenzplan berührt nur die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis, weshalb das Finanzamt bei der Festsetzung der Haftungsschuld nicht auf die Insolvenzquote beschränkt ist (so BFH, Urteil vom 8. März 2022 – VI R 33/19, NZI 2022, 752 ff. = ZRI 2022, 652 ff.; BFH, Beschluss vom 15. Mai 2013 – VII R 2/12, ZIP 2013, 1732 ff. = EWiR 2013, 691 f. [Hiebert]).
Der Geschäftsleiter muss daher mit einer persönlichen Inanspruchnahme rechnen. Dabei stellen sich zwei Folgefragen: Wann haftet ein Geschäftsführer oder Vorstand (Geschäftsleiter) überhaupt für Steuerschulden der Gesellschaft? In welcher Höhe haftet ein Geschäftsleiter für Steuerschulden?
Die steuerliche Haftung des Geschäftsleiters nach §§ 34, 69 AO setzt eine Pflichtverletzung voraus: Vorrangig besteht die Pflicht, die fälligen Steuern zu entrichten. Hinzu kommt die Mittelvorsorgepflicht: Die Pflicht eines Geschäftsleiters, finanzielle Mittel zur Entrichtung geschuldeter Steuern bereitzuhalten, besteht auch dann, wenn das Finanzamt Aussetzung der Vollziehung gewährt hat (so BFH, Beschluss vom 29. August 2018 – XI R 57/17, NZI 2019, 89 ff. mit Anm. Engels). Der Vertreter verletzt seine Pflicht, die Steuern aus den von ihm verwalteten Mitteln des Steuerschuldners zu entrichten, auch dann, wenn er sich durch Vorwegbefriedigung oder auf andere Weise vorsätzlich oder grob fahrlässig außerstande setzt, eine bereits fällige Steuerforderung (zumindest anteilig) zu tilgen (so OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluß vom 12. April 2021 – 14 B 2019/20, NZI 2021, 586 ff.). Die Haftung umfasst zudem die infolge der Pflichtverletzung entstandenen Säumniszuschläge.
Bei der Höhe der Haftungsschuld geht die Finanzverwaltung von der zur Insolvenztabelle festgestellten Steuerschuld der Gesellschaft aus. Wird eine Steuerforderung gegenüber einer GmbH widerspruchslos zur Insolvenztabelle festgestellt, ist der als Haftungsschuldner in Anspruch genommene Geschäftsführer der GmbH gemäß § 166 AO mit Einwendungen gegen die Höhe der Steuerforderung ausgeschlossen, wenn er der Forderungsanmeldung hätte widersprechen können, dies aber nicht getan hat (so BFH, Beschluss vom 29. August 2018 – XI R 57/17, NZI 2019, 89 ff. mit Anm. Engels; im Anschluß an: BFH, Urteil vom 16. Mai 2017 – VII R 25/16, ZIP 2017, 1464 ff. = EWiR 2017, 555 f. [Kahlert]). Der Geschäftsleiter sollte daher bereits vom Vorfeld die Forderungsanmeldung beim Insolvenzverwalter oder beim Insolvenzgericht einsehen und prüfen, ob der angemeldete Betrag zu hoch ist. Sofern dies gegeben ist, sollte er der Feststellung der Forderung im Prüfungstermin oder – sofern angeordnet – im schriftlichen Verfahren widersprechen.
Bei der Lohnsteuer greift die Haftung in voller Höhe, da es sich um Arbeitsentgelt handelt, das der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer einbehalten hat und damit für ihn fremd ist. Bei allen anderen Steuerarten greift der Grundsatz der anteiligen Tilgung: Bei unzureichenden Zahlungsmitteln ist der gesetzliche Vertreter des Steuerschuldners nur verpflichtet, die fälligen Steuern in etwa gleicher Höhe zu tilgen wie die fälligen Forderungen anderer Gläubiger. Werden während eines längeren Zeitraums mit mehreren Fälligkeitszeitpunkten die Steuern nicht oder nicht vollständig entrichtet, so ist für die Feststellung, ob und inwieweit der gesetzliche Vertreter des Steuerschuldners seine Verpflichtung zur in etwa gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger gegenüber dem Finanzamt verletzt hat, auf die Summen der fälligen Steuern, der fälligen Verbindlichkeiten und der hierauf erfolgten Zahlungen im gesamten Haftungszeitraum abzustellen. Dasselbe gilt, wenn zu Beginn des Haftungszeitraums bereits fällige Steuerschulden bestehen und während des Haftungszeitraums weitere Steuerschulden fällig werden (so OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluß vom 12. April 2021 – 14 B 2019/20, NZI 2021, 586 ff.).
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH endete die Geschäftsleiterverantwortlichkeit erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht schon mit Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters. Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH beantragt und ein vorläufiger Insolvenzverwalter unter Anordnung eines allgemeinen Zustimmungsvorbehalts bestellt, verbleibt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis beim gesetzlichen Vertreter der GmbH. Der Geschäftsführer kann sich nicht allein mit der Behauptung entlasten, er habe angenommen, der vorläufige Insolvenzverwalter werde seine Zustimmung zur Abgabentilgung verweigern; hypothetische Kausalverläufe sind nicht zu berücksichtigen. Wegen der erhöhten Anforderungen an den Geschäftsführer in der Krise der GmbH ist im Regelfall eine solche Anfrage an den vorläufigen Insolvenzverwalter erforderlich, deren Nachweis dem Geschäftsführer obliegt. Nur bei konkreten und eindeutigen objektiven Anhaltspunkten für die Sinnlosigkeit dieser Anfrage kann auf diese verzichtet werden (so BFH, Urteil vom 22. Oktober 2019 – VII R 30/18, NZI 2020, 585 ff. mit Anm. Schmittmann = ZIP 2020, 911 ff. = DStRE 2020, 154 ff. mit Anm. Haverkamp/Meinert).
Diese strengen Anforderungen erschienen dem Gesetzgeber zu hart, so dass durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz ab 2021 eine Sonderregelung eingeführt worden ist. Diese hat ihren Platz aber nicht in der Abgabenordnung gefunden, sondern in der Insolvenzordnung. Keine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten liegt zwischen rechtzeitiger Antragstellung und Entscheidung des Insolvenzgerichts vor (§ 15b Abs. 8 InsO). Gemeint ist der Zeitraum zwischen Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und Überschuldung (§ 19 InsO) und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag. Sachlich ist die Nichterfüllung oder nicht rechtzeitige Erfüllung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis umfasst. Voraussetzung ist die rechtzeitige Antragstellung. Bei nicht rechtzeitiger Antragstellung gilt: es liegt keine Verletzung steuerlicher Zahlungspflichten hinsichtlich nach Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung fällig werdender Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis vor. Der damit einhergehenden Haftungsbeschränkung des Geschäftsleiters geht allerdings die Erstarkung der ab Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder eines vorläufigen Sachwalters entstehenden Steuerschulden gemäß § 55 Abs. 4 InsO zu Masseverbindlichkeiten einher. Bei Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund Pflichtverletzung des Geschäftsleiters gilt diese Regelung nicht.
Zudem ist Verschulden erforderlich. Der Geschäftsführer einer GmbH haftet als deren gesetzlicher Vertreter für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die, infolge einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verletzung, der ihm als Geschäftsführer auferlegten Pflicht nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. In aller Regel liegt zumindest grobe Fahrlässigkeit vor, da ein Geschäftsleiter seine Pflichten kennen und einhalten muss.
Die Geltendmachung von Haftungsansprüchen setzt schließlich eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung voraus. Das Finanzamt hat zunächst, auf der ersten Stufe, zu prüfen, ob in der Person, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm erfüllt sind. Diese Entscheidung ist keine Ermessensentscheidung, sondern eine vom Finanzgericht in vollem Umfang zu überprüfende rechtlich gebundene Entscheidung. Sodann ist auf der zweiten Stufe die Ermessensentscheidung zu treffen, ob und wer in Anspruch genommen werden soll. Diese Entscheidung ist nur in den Grenzen des § 102 S. 1 FGO überprüfbar (so FG Münster, Urteil vom 17. Februar 2021 – 7 K 63/19, StB 2021, 115 ff.).
Nach alledem läuft der Geschäftsleiter einer GmbH oder der Vorstand einer AG Gefahr, auch nach einem bestätigten Restrukturierungs- oder Insolvenzplan noch persönlich in Haftung genommen zu werden. Dies kann nur dadurch verhindert werden, dass der Plan – mit Zustimmung der betroffenen Gläubiger – vorsieht, dass mögliche Haftungsansprüche gegen die Geschäftsleiter nicht geltend gemacht werden.
Prof. Dr. Jens M. Schmittmann, RA/FAHaGesR/FAInsSanR/FAStR/StB, lehrt an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management Essen Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Wirtschafts- und Steuerrecht und ist Mitglied des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofs. Er forscht an den Schnittstellen von Insolvenz- und Steuerrecht und ist u.a. Mitverfasser im Kommentar von Karsten Schmidt zur Insolvenzordnung und Mitherausgeber des Handbuchs „Praxis der Insolvenzanfechtung“. In der vierten Auflage (2022) liegt seine Monographie „Haftung der Organe in Krise, Restrukturierung und Insolvenz“ vor.