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WRP 2023, I
Haucap/Podszun 

Nachhaltigkeit und Kartellrecht: Was bringt die 12. GWB-Novelle?

Im Februar 2022 hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck seine wettbewerbspolitische Agenda vorgestellt. „10 Punkte für nachhaltigen Wettbewerb als Grundpfeiler der sozial-ökologischen Marktwirtschaft“, so der programmatische Titel. Auch in der EU steht das Thema Nachhaltigkeit dank „Green Deal“ oben auf der Tagesordnung. Nachhaltigkeit bedeutet – zumindest den siebzehn Zielen der UN für nachhaltige Entwicklung zufolge – nicht nur Klimaneutralität, sondern auch soziale Ziele wie Geschlechtergerechtigkeit oder Zugang zu Bildung zählen dazu. Nachhaltigkeit soll inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit herstellen: Kein Leben und Wirtschaften auf Kosten künftiger Generationen und nicht auf Kosten derjenigen, die an anderen Orten der Welt leben und arbeiten.

Die UWG-Fachwelt kennt die Thematik längst durch die Regeln und Fälle zum „Greenwashing“. In einem Gutachten für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sind wir, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, den Fragen nachgegangen, ob es auch im Kartellrecht Anpassungsbedarf gibt und welche Optionen der Gesetzgeber hat. Das Kartellrecht ist gewiss nicht der primäre Regelungsort, um für Klimaschutz oder die Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen. Es gibt aber vielfältige Wechselwirkungen zwischen Wettbewerb und Nachhaltigkeit. Aus ökonomischer Sicht besteht prinzipiell kein Spannungsverhältnis. Im Gegenteil: Nachhaltigkeitsdefizite können gerade mit fehlendem Wettbewerb und anderen Marktversagenstatbeständen einhergehen und durch solches Marktversagen verschärft werden.

Wir haben vier grundlegende Optionen systematisiert, wie das Kartellrecht weitergedacht werden kann:

Erstens ließe sich das Kartellrecht (ohne größere gesetzgeberische Eingriffe) nachhaltigkeitssensibler anwenden, etwa durch eine dementsprechende Prioritätensetzung.

Zweitens könnte es Klarstellungen und Erleichterungen im Gesetz geben, damit Nachhaltigkeitsziele besser erreicht werden können, soweit diese Ziele mit den kartellrechtlichen Wertungen im Einklang stehen. Diskutiert wird dies vor allem für die Freistellung von sog. Nachhaltigkeitskooperationen. Der Kurs der Europäischen Kommission ist in den vergangenen zwanzig Jahren restriktiver geworden. Die Horizontal-Leitlinien der Europäischen Kommission werden nach dem derzeitigen Stand des Entwurfs den Trend nicht ändern. Wir halten es für vertretbar, den Effizienzbegriff in Art. 101 Abs. 3 AEUV weiter zu interpretieren als von der Kommission vorgesehen. Effizienzen, die „out-of-market“, also bei anderen als den von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbrauchern, realisiert werden, sind – entgegen der Ansicht der Kommission – berücksichtigungsfähig.

Radikaler wäre der dritte Weg, nämlich nachhaltiges Wirtschaften zum inhärenten Teil der Kartellrechtsanwendung zu machen. Geschützt würde dann nur noch der nachhaltige Wettbewerb. Erstes Anschauungsmaterial für die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in klassischen Tatbestandsmerkmalen lieferte der Fall Pkw-Emissionen (Kommission, 08.07.2021 – AT. 40178).

Die vierte Option wäre, das Kartellrecht als solches weiterhin allein der Wettbewerbslogik zu unterstellen, aber außerwettbewerbliche Interessen im Wege von Ausnahmen oder Abwägungen zu berücksichtigen. Die Schaffung neuer, allgemeiner Ausnahmen, z. B. für bestimmte Sektoren, begegnet jedoch zu Recht vielfach Bedenken. Aus unserer Sicht kann die Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen auch nicht zu einer Reduktion des Tatbestands von Art. 101 Abs. 1 AEUV führen.

In der bisherigen Diskussion geht es vor allem um Kooperationen, also Fälle von wettbewerbsbeschränkenden Absprachen. Eine echte „grüne“ Transformation des Kartellrechts würde jedoch weiter greifen: Klimaschutz durch Missbrauchsverfahren? Nachhaltigkeitsaspekte in der Fusionskontrolle? Im Missbrauchsrecht ist eine Berücksichtigung von Nachhaltigkeitswirkungen auf Ebene der Rechtfertigung in einigen Fällen denkbar. In Anlehnung an die Facebook-Entscheidung des Bundeskartellamts wäre unter bestimmten Umständen ein nicht-nachhaltiges Verhalten auch als Marktmachtmissbrauch zu sehen. In der Fusionskontrolle ist eine nachhaltigkeitsorientierte Auslegung des SIEC-Kriteriums bislang nicht erfolgt. Der Fall Bayer/Monsanto (Kommission, 14.12.2018 – M.8084) gibt aber einen Vorgeschmack darauf, wie das aussehen könnte.

Schließlich kann der Trend zur Sustainability auch die Rechtsfolgenseite (z. B. bei Abhilfemaßnahmen oder bei der Höhe der Geldbuße) und das Verfahrensrecht erfassen, etwa wenn Rechte Dritter gestärkt werden, mehr Guidance ergeht oder Sustainability Sandboxes eingerichtet werden.

Für das Gutachten „Wettbewerb und Nachhaltigkeit in Deutschland und in der EU“, das auf der Website des Wirtschaftsministeriums veröffentlicht wurde, haben wir diese Optionen nur skizziert. Die Entscheidung liegt beim Gesetzgeber, der das Thema mit der 12. GWB-Novelle angehen will. Klar scheint uns aber: Die umfassende Transformation der Wirtschaft wird vor dem Wirtschaftsrecht nicht Halt machen.

Abbildung 1

Prof. Dr. Justus Haucap

Abbildung 2

Prof. Dr. Rupprecht Podszun, Düsseldorf

 
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