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ZHR 184 (2020), 1-9
Burgi 

Auslaufmodell oder Paradigma rechtsstaatlicher Wirtschaftsordnung? 150 Jahre Gewerbeordnung

Die Gewerbeordnung (GewO) ist am 21. 6. 1869 erlassen worden und damit die älteste noch heute in erheblicher Breite das Rechtsleben der Wirtschaft determinierende Rechtsquelle. Die seit Anbeginn und unverändert in ihrem § 1 kodifizierte Gewerbefreiheit bildete im 19. Jahrhundert die Grundlage der Transformation der ständisch geprägten Wirtschaft zur späteren Industrie- und heutigen Dienstleistungsgesellschaft, viele Jahrzehnte vor Inkrafttreten des Berufsfreiheitsgrundrechts nach Art. 12 Abs. 1 GG.1 Das Reichsgericht hat sich in seiner Grundsatzentscheidung zur Zulässigkeit von Kartellvereinbarungen ausdrücklich auf die GewO berufen.2 Schon diese Umstände dürften das Interesse des primär aus privatrechtlicher Perspektive mit dem Wirtschaftsrecht befassten Juristen wecken. Noch wichtiger ist freilich, dass die GewO bis heute insbesondere für das Wirtschaftsleben in den eher mittelständisch geprägten Bereichen von unveränderter Bedeutung ist, indem sie für nahezu sämtliche wirtschaftliche Aktivitäten in § 14 eine Anzeigepflicht statuiert und diese damit dem überwachenden Zugriff der hierfür zuständigen Verwaltungsbehörde unterwirft.

Gesteigerte Relevanz kommt dem Gesetz gegenüber dem Reisegewerbe (§§ 55 ff.), der Messe- und Märktewirtschaft (§§ 64 ff.) und sodann gegenüber denjenigen Wirtschaftszweigen zu, die nach den §§ 29 ff. genehmigungspflichtig sind. Dies betrifft so unterschiedliche Wirtschaftszweige wie das Bewachungsgewerbe (mit einer bundesweit sechsstelligen Mitarbeiterzahl), erhebliche Teile des Glücksspielgewerbes, das Sachverständigenwesen3 und in neuerer Zeit diejenigen Teile des Bank- und Versicherungswesens, die man nicht als “Finanzindustrie”, sondern als Vermittlungs- und Beratungsaktivität an den Randbereichen des Wirtschaftszweiges ansehen kann. So wurden im Jahr 2017 mit den §§ 34d–34i als Reaktion auf die Finanzkrise verschiedene Tätigkeiten im Finanzvertrieb außerhalb der Banken in (im Vergleich mit den vielfach deutlich weitschweifigeren Vorschriften des Finanzmarktrechts) bündiger Form verschiedenen öffentlich-rechtlichen Anforderungen unterworfen.ZHR 184 (2020) S. 1 (2) Seither ist beispielsweise die erforderliche Erlaubnis für ein Tätigwerden als Versicherungsvermittler gemäß § 34d Abs. 5 GewO nur dann zu erteilen, wenn der Antragsteller nachweist, dass er zuverlässig ist, in geordneten Vermögensverhältnissen lebt, den Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherung erbringt und schließlich seine Sachkunde durch eine vor der IHK abgelegte Prüfung nachweist.

Die Beschäftigung mit diesem Gesetz ist auch wissenschaftlich lohnend,4 wenngleich auf den ersten Blick weniger attraktiv erscheinend als die (mittlerweile hypertrophe) Auseinandersetzung mit Fragen der Regulierung oder der Privatisierung. Nachfolgend wird skizziert, worum es in und mit der GewO ursprünglich ging (I.), welche Bedeutung sie heute noch hat (II.) bzw. weder heute besitzt noch in absehbarer Zukunft wird erlangen können (III.) und schließlich, was sie jedenfalls in der Zukunft sein soll bzw. sein kann (IV.).

I. Das Inkrafttreten der GewO erfolgte in einer Zeit epochaler Umbrüche, die mit den Stichworten Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit, Entstehung des Deutschen Reiches und Industrialisierung knapp umschrieben werden können. Das Gesetz stellte eine Antwort auf die damit verbundenen Herausforderungen dar und zielte daher (gleichsam spiegelbildlich) auf Rechtssicherheit, Rechtsvereinheitlichung und eine Ordnung der sich infolge des technischen Wandels herausbildenden neuen Qualifikations- und Betriebsstrukturen. Ordnungspolitisch haben sich hierbei die dem liberalen Geist der Zeit entsprechende Forderung nach einer rechtlichen Gewährleistung der Gewerbefreiheit mit dem sozialpolitischen Anliegen des Schutzes der Arbeitnehmer und teilweise auch der Verbraucher verbunden; Pate standen der politische Liberalismus, die Arbeiterbewegung und die katholische Soziallehre.5 Die damaligen Inhalte lassen sich anhand der Grobgliederung des Gesetzes den Schwerpunkten Wirtschaft, Sicherheit und Soziales sowie Umweltschutz zuordnen;6 bekanntlich bildete die GewO insoweit einen Vorläufer des heute im Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) enthaltenen Rechts der Anlagengenehmigung. Arbeitsrechtliche Regelungen7 finden sich bis heute in den §§ 105 ff. (freilich von nur noch geringer Bedeutung), während die ursprünglich enthaltenen ersten sozialen Absicherungen in Gestalt der “Gewerblichen Hülfskassen” mittlerweile durch die weitaus ausgreifenderen Regelungen des Sozialrechts erfasst werden. Als zentraler Inhalt kann neben dem Bekenntnis zur Gewerbefreiheit die Zuweisung der allermeisten gewerblichen Aktivitäten zum Regime der bloßen Anzeigepflicht nebst Statuierung einer Genehmigungspflicht für einzelne, besonders überwachungsbedürftige Tätigkeiten angesehen werden.

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Dieses Gesetz hat eine mehrere Jahrzehnte währende Blütezeit erlebt, die sich auch wissenschaftlich (in den Werken eines Lorenz von Stein,8 Arnold Köttgen9 und schließlich Ernst Rudolf Huber10) niedergeschlagen hat. Eine gleichsam zweite Blütezeit erfolgte (nach der weitgehend faktischen Außerkraftsetzung der Gewerbefreiheit im Nationalsozialismus) in den Jahren nach 1949, auch sie kraftvoll begleitet von wissenschaftlichen Arbeiten so unterschiedlicher Autoren wie Ekkehart Stein,11 Winfried Brohm12 und Rolf Stober.13 Seit längerem begleiten kleinere und große Kommentierungen die Rechtsanwender. Wichtig für den föderal zersplitterten Verwaltungsvollzug sind die im GewArch veröffentlichten Beschlüsse und Verlautbarungen des Bund-Länder-Ausschusses “Gewerberecht”, in dem die Gewerberechtsreferentinnen und -referenten aus Bund und Ländern zusammenkommen.

II. Die GewO war und ist das wichtigste Gesetz für den Zugriff des Staates auf die Wirtschaft in Gestalt der Wirtschaftsüberwachung (teilweise, indes unzutreffenderweise auch als Wirtschaftsaufsicht bezeichnet). Der Vorzug des Begriffs “Wirtschaftsüberwachung” besteht darin, dass er den unstreitig bestehenden Unterschied gegenüber den Maßnahmen der Staatsaufsicht, welche sich auf nachgeordnete Verwaltungseinheiten bezieht, terminologisch deutlicher zum Ausdruck bringt. Er basiert auf dem Dualismus von Freiheit einerseits, gesetzlich festgelegten legitimierten Schutzanliegen andererseits. Die Umsetzung erfolgt durch die Normierung von Zugangs- und Ausübungsvoraussetzungen, durch spezifizierte Organisationsregeln (insbesondere die starke Einbeziehung der Industrie- und Handelskammern) und die Zurverfügungstellung auch repressiver Eingriffsmöglichkeiten,14 wie insbesondere die Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO. In der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts geht es um “Sonderordnungsrecht”.15 Diese Art des Zugriffs unterscheidet sich kategorial von der Wirtschaftslenkung bzw. der Wirtschaftsplanung, der Wirtschaftsförderung16 und auch von der in jüngerer ZeitZHR 184 (2020) S. 1 (4) stark im Aufschwung befindlichen Regulierung, die nicht lediglich auf die Abwehr von Gefahren, sondern auf die rechtliche Gestaltung wettbewerblicher Verhältnisse zielt.17

1.Bemerkenswerterweise dominieren im Bereich der präventiven Überwachung bis heute die klassischen ordnungsrechtlichen Instrumente der Anzeige- und Genehmigungspflicht. Zentrale inhaltliche Voraussetzung für die Genehmigungserteilung bilden in der Regel Nachweise über die berufliche Befähigung, entweder in Gestalt eines Sachkundenachweises (so etwa in der bereits erwähnten Vorschrift über die Versicherungsvermittler oder auch in § 34a Abs. 1 S. 3 Nr. 3 (betreffend den Inhaber eines Bewachungsgewerbeunternehmens) oder in Gestalt eines bloßen Unterrichtungsnachweises, wie etwa nach § 34a Abs. 1a S. 1 Nr. 2 (betreffend das dort beschäftigte Wachpersonal). Entgegen vereinzelten politischen bzw. wissenschaftlichen Bestrebungen, diese Instrumente durch Zertifizierungslösungen, die weniger personen-, dafür mehr dienstleistungsbezogen sind, zu ersetzen, konnten sich nicht in nennenswertem Umfang durchsetzen. Offenbar haben sich die schon früh geäußerten Zweifel daran, ob hiermit der staatlichen Schutzpflicht für die betroffenen Rechtsgüter tatsächlich mit gleicher Intensität entsprochen werden kann, sowie hinsichtlich der Praktikabilität und Leistungsfähigkeit jener Systeme durchgesetzt.18 Allerdings hat sich das System der Genehmigungspflichten und -voraussetzungen im Laufe der Entwicklung seinerseits immer weiter ausdifferenziert. So hat jüngst Kluth zutreffend unterschieden zwischen zulassungsfreien Gewerben, die der allgemeinen Gewerbeüberwachung unterliegen und solchen, bei denen sofort nach Anmeldung eine behördliche Kontrolle der Zuverlässigkeit durchzuführen ist (vgl. § 38 Abs. 1 S. 1 GewO), zulassungspflichtigen Gewerben, bei denen (nur) die Zuverlässigkeit zu prüfen ist, zulassungspflichtigen Gewerben, bei denen ein Sachkundenachweis erforderlich ist, zulassungspflichtigen Gewerben, bei denen regelmäßig eine Weiterbildung nachzuweisen ist19 und zulassungspflichtigen Gewerben, bei denen weitere Nachweise erforderlich sind.20

Eine permanente Herausforderung beim Umgang mit einem so traditionsreichen Gesetz wie der GewO besteht für Verwaltung und zuständige Gerichtsbarkeit ferner darin, bestehende Vollzugsspielräume im Hinblick auf veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Realitäten zu nutzen. So verwundert es beispielsweise, dass in einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft ein Vertriebskonzept, das aus der Durchführung von Informationsveranstal-ZHR 184 (2020) S. 1 (5)tungen über Reisen, bei denen die Teilnehmer von Mitarbeitern des Unternehmens begleitet werden und die von einem festen Firmensitz aus geplant und koordiniert werden, besteht, als anzeigepflichtige Durchführung eines sog. Wanderlagers nach § 56a GewO qualifiziert wird, mit der Konsequenz, dass das betroffene Unternehmen pro Jahr tausende Anzeigen gegenüber mehr als 1.100 verschiedene Ordnungsbehörden erstatten muss und aufgrund der überdies gespaltenen Vollzugspraxis in den einzelnen Bundesländern und Kommunen an nahezu jedem Abend mit erheblichen Rechtsunsicherheiten konfrontiert ist, an deren Ende möglicherweise die Einstellung des Vertriebsmodells, wenn nicht des ganzen Unternehmens stehen könnte. Die Vollzugspraxis orientiert sich dabei nicht an der insoweit unreglementierten Alternative des Internet-Marketing, sondern an der doch in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbaren und ihrerseits teilweise fragwürdig begründeten Vorgehensweise gegenüber sog. Kaffeefahrten.21

2.Nun mag einem schon beim flüchtigen Blick über das Inhaltsverzeichnis die GewO als ein arg gerupftes Huhn erscheinen, sind doch zahlreiche Paragraphen mit der Bezeichnung “weggefallen” versehen, teilweise ganze Abschnitte. In der Tat sind im Laufe einer langen, aber insoweit doch kontinuierlichen Entwicklung immer mehr neue Regelungsbedürfnisse aus der Gewerbeordnung entweder abgewandert oder von vornherein erst gar nicht dort bewältigt worden. Ein Paradebeispiel hierfür bildet der durch Mobilitätsportalanbieter (wie z.B. die Uber-Unternehmen)22 besonders herausgeforderte Taxenverkehr. Fanden sich ursprünglich in den §§ 72–80 hierüber noch einige Bestimmungen in der GewO, so ist heute insbesondere das Personenbeförderungsgesetz maßgeblich.23 Ähnliches geschah mit dem im Jahr 2016 verabschiedeten “Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes”;24 das Bewachungsgewerbe ist bislang einer entsprechenden Entwicklung entgangen, freilich findet sich im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 12. 3. 201825 bereits eine dahingehende Überlegung, bei gleichzeitigem Übergang der Zuständigkeit für diesen Sektor vom Bundeswirtschafts- auf das Bundesinnenministerium.26 Gleichfalls in verschiedenen Etappen aus der Gewerbeordnung herausgewachsen ist das (insoweit treffend) als Gewerbenebenrecht bezeichnete Gaststätten-, Handwerks- und Ladenschlussrecht; die beiden Letzteren sind mit der Föderalismusreform 2006 überdies aus der Gesetzgebungskompetenz des Bundes herausgelöst worden, ebenso das “Recht der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellun-ZHR 184 (2020) S. 1 (6)gen und der Märkte”, die damit auf lange Sicht ebenfalls keine sichere Zukunft als Bestandteil der GewO haben dürften (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). In der Tendenz all dieser Auslagerungsprozesse liegt ein eher intensiverer, stärker auf die Interessen von Verbrauchern, Mitbewerbern etc. (und weniger auf die Gewerbefreiheit des Einzelnen) zielender staatlicher Zugriff.

III.Schreibt man die bisherigen Entwicklungslinien fort, so dürfte sich zeigen, dass die GewO in den kommenden Jahren voraussichtlich nicht zum Nucleus eines breiter gefassten “Gewerbegesetzbuchs” wird, dass sie sich nicht zum verwaltungsrechtlichen Hauptgesetz der Digitalisierungswirtschaft entwickelt, aber auch nicht durch eine “Europäische Gewerbeordnung” abgelöst zu werden droht.

Der Reihe nach: Bestrebungen, in einem “Gewerbegesetzbuch” verschiedene weiterentwickelte Materien der Gewerbeordnung, des Gaststättengesetzes, des Verkehrsgewerberechts und des Ladenschlussgesetzes, aber auch der Handwerksordnung zusammenzuführen, hat es immer wieder einmal gegeben.27 Dass es in absehbarer Zeit zu einer solchen sog. Bereichskodifikation kommen könnte,28 erscheint unrealistisch.29 Neben den bereits angetippten föderalen Argumenten spricht dagegen, dass die typischen Ziele von Kodifikationen, wie Rechtsvereinheitlichung und Deregulierung, mit einem solchen Vorhaben nicht erreicht werden können, zumal sich im Laufe der letzten Jahrzehnte teilweise sehr unterschiedliche Organisationsstrukturen (namentlich zwischen dem Handwerk und dem industriellen Gewerbe) entwickelt haben.

Noch weniger realistisch erscheint der jüngst nicht nur formulierte, sondern sogleich in einem Text mit 30 Artikeln ausgestaltete Vorschlag einer “Europäischen Gewerbeordnung”, die als EU-Verordnung ohne Umsetzungsnotwendigkeit in jedem EU-Mitgliedstaat gelten würde.30 Abgesehen davon, dass die anderen EU-Mitgliedstaaten einem solchen im Kern die wesentlichen Strukturelemente der deutschen Gewerbeordnung fortschreibenden Vorhaben kaum folgen würden, dürfte auch die Kompetenz der EU für eine abschließend das Verhältnis zu den betroffenen Wirtschaftstreibenden regelnde Kodifikation mehr als zweifelhaft sein. Zuzugeben aber ist, dass ein solchermaßen ausgestalteter und verorteter Rechtsrahmen dem gegenwärtigen Rahmen der GewO an Übersichtlichkeit und Geschlossenheit überlegen wäre.

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Was die ihrerseits verschiedenartigen Phänomene und Herausforderungen der Digitalwirtschaft betrifft, fällt zwar auf, dass beispielsweise Internetversteigerungen, Internet-Spielcasinos oder auch die “Schaustellung von Personen” (so die altertümliche Formulierung des § 33a GewO) vergleichbare, wenn nicht größere Gefährdungspotenziale bergen als die Erbringung der entsprechenden Dienstleistungen in der analogen Welt. Teilweise führt der Aufschwung der bislang nur lose reglementierten digitalen Wirtschaftsaktivitäten sogar zu einem Niedergang analoger Angebote und zur “Verödung mancher Geschäftsstraße”, wie etwa im Falle des Online-Versandhandels.31 Ob aber hierfür neue Vorschriften im Kontext der bislang jeweils bestehenden Vorschriften für die analoge Welt erfolgen sollten, oder ob nicht eher in einzelnen Fachgesetzen spezifischer auf die internetbedingten Gefahren reagiert werden kann und ferner durch eine ja bereits in Angriff genommene Weiterentwicklung des Kartellrechts,32 dürfte eher im letztgenannten Sinne zu beantworten sein; hinzu kommt das private Verbraucherschutzrecht.33 Der geeignetste Regelungsort für diese buchstäblich transnationalen Wirtschaftsaktivitäten scheint sowieso auf der europäischen Ebene zu liegen, allerdings könnte die GewO einen effektiveren Beitrag zur repressiven Überwachung illegaler Digitalangebote leisten als bislang. Ansätze, die Überwachungsverfahren für die Herausforderungen der Digitalisierung fit zu machen, gibt es bereits, so in § 150e betreffend die elektronische Antragstellung auf Auskunft aus dem Gewerbezentralregister.34

IV. Blickt man auf das, was geschehen sollte bzw. voraussichtlich geschehen wird, so ist zunächst die Aufnahme neuer, sich aus bestimmten aktuellen Anlässen ergebender Regelungsinhalte zu nennen, und zwar auch jenseits des tradierten Anzeige-/Genehmigungsschemas bzw. des Dualismus der materiellen Voraussetzungen Unterrichtungsnachweis/Sachkundenachweis. Bemerkenswerterweise sind gerade erst in die GewO im Jahr ihres 150. Geburtstags zwei innovative neue Regelungsinhalte aufgenommen worden bzw. in Kraft getreten: Zum ersten die Einführung einer Weiterbildungspflicht für Versicherungsvermittler/-berater in § 34d Abs. 9 GewO, und zwar im Umfang von 15 Zeitstunden je Kalenderjahr. Diese Regelung bildete die Umsetzung der Richtlinie 2016/97 der EU und wird im Einzelnen konkretisiert durch die Versicherungsvermittlungsverordnung vom 17. 12. 2018.35 Die hierfür jeweils zuständige IHK muss Kundenbeschwerden, Hinweisen von Versicherern oderZHR 184 (2020) S. 1 (8) auch von konkurrierenden Vermittlern bzw. Beratern nachgehen, um dafür Sorge zu tragen, dass die entsprechenden Unternehmen jederzeit nur mit angemessen qualifizierten Mitarbeitern agieren; dieses Regelungswerk dürfte aller Voraussicht nach auch für den einen oder anderen gewerberechtlich geregelten Beruf buchstäblich Schule machen. Entsprechendes könnte für das zum 1. 6. 2019 in § 11b GewO eingeführte “Bewacherregister” gelten. Hierbei handelt es sich um eine Vorschrift, die sich in den einschlägigen Textsammlungen über mehrere Seiten erstreckt und die den zuständigen Behörden bei Vor-Ort-Kontrollen die Feststellung der Zuverlässigkeit und fachlichen Eignung der Gewerbetreibenden ermöglichen soll.36 Das Register wird vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle geführt und stellt eine nach Breite und Tiefe bislang einzigartige Form der Nutzung von Daten für Überwachungsaufgaben dar. Selbstverständlich normiert diese Regelung auch die Voraussetzungen für die Löschung dort gespeicherter Daten und es ist davon auszugehen, dass es aus Anlass sowohl der Eintragung als auch der Nicht-Löschung zu Rechtsschutzverfahren kommen wird.

Neben der Offenheit für solche neuen Regelungselemente sollte im Hinblick auf die GewO aber auch die notwendige Kraft zur Systematisierung im Sinne der Herausbildung eines Allgemeinen Teils des Gesetzes aufgebracht werden. Das gilt für die repressiven Befugnisse, vor allem aber für die präventiven Befugnisse, die ausdrücklich auf jeweils bestimmte Schutzzwecke (Arbeitnehmer, Verbraucher etc.) ausgerichtet, besser untereinander und teilweise auch mit den Verwaltungsverfahrensgesetzen abgestimmt werden sollten.37

Setzen sowohl die Aufnahme neuer, innovativer Elemente als auch die skizzierte Systematisierung einen entsprechenden politischen Gestaltungswillen voraus, so dürften sich die beiden abschließend beschriebenen Entwicklungsperspektiven ohne politisches Dazutun realisieren. Beide betreffen den konstitutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich die GewO bewegt. Auf der Ebene des EU-Rechts sind mit der Dienstleistungsrichtlinie im Jahr 2006 und kurz zuvor mit der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen im Jahre 2008 zweimal kurz hintereinander europäische Vorgaben von bereichsübergreifender Bedeutung in der GewO umgesetzt worden. Während die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG38 erstmals das sog. Herkunftslandprinzip kodifiziert hat, zielte die Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG39 auf die Vereinheitlichung des Zugangs selbstständiger bzw. abhängig Beschäftigter zu bestimmten “reglementierten Berufen”. Nach der Dienstleistungsrichtlinie sind den Mitgliedstaaten zwar weiterhin Überwachungsmaßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, Sicherheit und Ordnung sowie desZHR 184 (2020) S. 1 (9) Verbraucher- und Umweltschutzes gestattet, diese müssen aber jeweils im Einzelfall gerechtfertigt sein, und zwar nach neuerer Rechtsprechung des EuGH nicht nur bei grenzüberschreitenden, sondern teilweise auch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten.40 In beiden Fällen ist es der Gewerbeordnung gelungen, ihren Platz als Allgemeiner Teil des Wirtschaftsüberwachungsrechts zu behaupten, an den dann spezifische Regeln in den jeweiligen Fachgesetzen anknüpfen. Man kann sie daher durchaus als eine Art Erstrezeptor des EU-Wirtschaftsordnungsrechts bezeichnen. Last but not least dürfte die GewO auch im nationalen Verfassungsrahmen ihre angestammte Rolle als eine Art Erfahrungsspeicher und “Grund-Gesetz” eines konsequent rechtsstaatlich konditionierten Zugriffs auf das Wirtschaftsleben und als dasjenige Regelwerk, das der durch die Verfassung vorgegebenen Balance zwischen Freiheitsausübung und verhältnismäßiger Wahrung des Gemeinwohls am nächsten kommt, unverändert ausfüllen können; sie ist mithin keinesfalls ein Auslaufmodell.

Martin Burgi

1

Vgl. zu diesem das Editorial des Verf., ZHR 181 (2017), 1; als historischer Abriss der Entwicklung von 1869 bis 2019: Schönleiter, GewArch 2019, 260 ff.

2

RGZ 38, 155, 158 ff.

3

Dazu den aktuellen Rechtsprechungsüberblick bei Bleutge, GewArch 2019, 169.

4

Dazu ausführlich Burgi, GS Tettinger, 2007, S. 11 ff.

5

Dazu Di Fabio, GewArch 2019, 257 f.

6

In Anlehnung an Kluth, GewArch 2019, 278, 279.

7

Zur diesbezüglichen Entwicklung Neumann, GewArch 2019, 264.

8

Von Stein, Die Verwaltungslehre, 7. Theil: Innere Verwaltungslehre, 3. Hauptgebiet, 1868, S. 15.

9

In: Elster/Weber/von Wieser/Köttgen, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. IV, 4. Aufl. 1927, S. 1000 (Art. Gewerbegesetzgebung).

10

Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932.

11

Stein, Wirtschaftsaufsicht, 1967.

12

Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 1969.

13

Vor allem mit seinem Lehrbuch “Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht”, 16. Aufl. 2008, zuletzt Stand der 19. Aufl. 2019 (zusammen mit Korte); zur Historie vgl. ferner Ziekow, Freiheit und Bindung des Gewerbes, 1992; Zacher, Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland, 2002, S. 79 ff., 188 ff., 258 ff. und Stolleis in: Bauer et al., Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 1 ff.

14

Insoweit zuletzt auch aus europarechtlicher Sicht legitimierend EuGH v. 8. 5. 2019, Rs. C-230/18, GewArch 2019, 433.

15

BVerfGE 41, 344, 355.

16

Zu beiden vgl. nur Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2. Aufl. 2005, Rdn. 173 ff.

17

Hierzu ausführlich Burgi, FS Battis, 2014, S. 329 ff.

18

Eingehend analysiert für den Bereich des Gerätesicherheitsrechts durch Pünder, ZHR 170 (2006), 567; monographisch Reimer, Qualitätssicherung, 2010; vgl. ferner Sarvan, Reduktion staatlicher Wirtschaftsüberwachung durch Managementsysteme, 2010.

19

So zuletzt nach § 34c Abs. 2 und § 34d Abs. 9 GewO; kritisch dazu Drasdo, NVwZ 2018, 31.

20

Kluth, GewArch 2019, 280.

21

Ausführlich geschildert und rechtlich gewürdigt bei Burgi, GewArch 2019, 266.

22

Vgl. hierzu BGH CR 2019, 326 m. Anm. Wimmer; europarechtlich EuGH v. 30. 10. 2017, Rs. C-371/17.

23

Stellv. für die zahlreichen sich im Hinblick auf neue Verkehrsangebote stellenden Rechtsfragen nur Ludwigs, NVwZ 2017, 1646.

24

BGBl. I (2016), S. 2372.

25

S. 127.

26

Hierüber berichtet Pielow, WiVerw 2019, 154, 155 f.

27

Vgl. Kahl in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 67, 108; zumindest eine “Gewerbeordnung 21” wurde erwogen bei Stober, NVwZ 2003, 1249, und der DIHT hatte bereits im Jahre 1991 vergleichbare Überlegungen angestellt (siehe NVwZ 1991, 1063).

28

Zu den Termini und Voraussetzungen der Schaffung von Kodifikationen vgl. Kahl in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Fn. 26), S. 86 ff.; Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle/Burgi, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 18 Rdn. 96 ff.

29

Ebenso Fehling, JZ 2016, 540, 547.

30

Eisenmenger, GewArch 2019, 281 ff.

31

Dieses Beispiel nennt Di Fabio, GewArch 2019, 258.

32

Siehe Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Ein neuer Wettbewerbsrahmen für die Digitalwirtschaft. Bericht der Kommission Wettbewerbsrecht 4.0, Stand: September 2019, http//www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/bericht-der-kommission-wettbewerbsrecht-4–0.pdf?_blob=publicationFile&v=12.

33

Darauf machen Ennuschat/Plogmann, GewArch 2019, 273, 277 f. aufmerksam.

34

Näher hierzu wiederum Ennuschat/Plogmann, GewArch 2019, 275 f.

35

BGBl. I (2018), S. 2483; hierzu Augustin u.a., GewArch 2019, 131.

36

So die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 19/3829, S. 15.

37

Aktuelle Ansätze hierzu bei Kluth, GewArch 2019, 280 f.

38

ABl. EU Nr. L 376/36.

39

ABl. EU Nr. L 255/22, zuletzt geändert durch RL 2013/55/EU (ABl. EU Nr. L 354/132).

40

EuGH v. 30. 1. 2018, Rs. C-360/15, EuZW 2018, 244.

 
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