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ZHR 167 (2003), 515-519
Kohler 

Ist es mit Regeln getan?

Gedanken zum Verhältnis von Regulierung und Ethik in der Wirtschaft

Seit einigen Jahren werden die Unternehmen immer rasanter mit einschneidenden Veränderungen in ihrem gesamten Umfeld konfrontiert. Globalisierung und die Einwirkung verschiedenartiger Kulturen, Internet und e-Business, Kapitalmarkt mit Shareholder Value und Ratings, IAS/IRSF- und US-GAAP-Bilanzierung sowie, und nicht zuletzt, eine ständig zunehmende Regelungsdichte sind Kennzeichen dieser Entwicklung. Sie bewirkt einen immer höheren Wettbewerbs-, Ergebnis-, Veränderungs- und Zeitdruck in der Wirtschaft. Den daraus resultierenden Herausforderungen begegnen die Unternehmensführungen strategisch und operativ durch Innovation sowie flexible Anpassung ihrer Strukturen und ihrer Produkte. Wir sehen in diesem Umfeld vielfältige Spitzenleistungen auf den verschiedensten Gebieten der Wirtschaft. Zugleich aber begegnen wir in der Wirtschaft immer mehr menschlichem Fehlverhalten, das bis hin zu Betrug und anderen kriminellen Machenschaften geht. Der sich hier so deutlich auftuenden Fehlentwicklung sollen insbesondere eine stetig verfeinerte Corporate Governance1, unternehmensinterne Wertsetzungen und Verhaltensgrundsätze mit „Codes of Ethics“2 sowie ein umfassend wirksames Risikomanagement- und Compliance-System3, ergänzt durch verschiedenartige Sanktions- und Klagemöglichkeiten, begegnen. Wie wenig effektiv und ausreichend derartige Regelungen und Sanktionsmöglichkeiten jedoch sein können, ist uns mit den zahlreichen Skandalen der jüngeren Vergangenheit – Enron und WorldCom sind die Stichworte – überdeutlich vor Augen geführt worden. „Pecunia non olet“, das berühmte Wort Vespasians, hat in den unterschiedlichsten Ausprägungen, darunter nicht zuletzt Bilanz¬ZHR 167 (2003) S. 515 (516)fälschung und Korruption, wieder traurige Aktualität erlangt. Das Vertrauen in die Unternehmen im Allgemeinen und den Kapitalmarkt im Besonderen ist nachhaltig erschüttert. Als Folge ergießt sich nunmehr ein wahrer Strom weiterer neuer Regelungen, Kontrollmechanismen und zusätzlicher Sanktionsdrohungen über die Unternehmen. In den USA ist es vor allem der inhaltlich und geographisch in seinem Geltungsanspruch weitreichende Sarbanes-Oxley-Act of 20024. Auf der Basis des Berichts der von dem Niederländer Joop Winter geleiteten „High Level Group“ arbeitet die EU-Kommission an einem Aktionsplan mit einer Zehn-Punkte-Liste für einschlägige Regelungen. In Deutschland werden über die zahlreichen gesetzlichen Neuregelungen der letzten Jahre und den noch jungen Corporate Governance-Kodex von 2002 deutlich hinausgehende Regelungen angestrebt, z.B. hinsichtlich einer erweiterten Haftung auch der Verwaltungsorgane5. Das soll aber völlig zurecht nicht und wird hoffentlich nicht zur Einführung von Sammelklagen führen6, deren Verbreitung in den USA die dortigen großen Skandale keineswegs verhindert, andererseits aber zu deutlichen Auswüchsen in der Verfolgung angeblicher rechtlicher Ansprüche geführt hat7.

Hier sollen Bedeutung und Wirksamkeit von Corporate Governance, unternehmensinternen Verhaltensgrundsätzen und Wertsetzungen, von Risikomanagement und Compliance sowie von Sanktions- und Klagemöglichkeiten für die unternehmerische Integrität keineswegs generell in Abrede gestellt werden. Weil sie ihren Wert haben, wird z.B. gemäß einer McKinsey-Studie bei nordamerikanischen und westeuropäischen Unternehmen mit einer guten Corporate Governance von institutionellen Investoren ein Kursaufschlag von 12–14% akzeptiert8. Aber der Befund ist, dass alle derartigen Regelungen und Maßnahmen zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für eine zuverlässige Eindämmung menschlichen Fehlverhaltens in der Wirtschaft sind. Auch ein noch so dicht gesponnenes, die Gefahr der Lähmung beinhaltendes Regel-, Kontroll- und Sanktionsnetz ist – in der heutigen Zeit weniger denn je – für sich allein geeignet, menschlichem Fehlverhalten, das unter Umständen in seiner Schwere ganze Unternehmen und zugleich das Vertrauen der ZHR 167 (2003) S. 515 (517)Anleger in die Märkte erschüttern kann, wirksam zu steuern. Man kann auch nicht hinter jeden Manager oder Mitarbeiter einen menschlichen oder maschinellen Kontrolleur stellen, der die Einhaltung aller Regeln verantwortungsvollen Wirtschaftens in den Unternehmen lückenlos überwachen und – ergänzt durch Sanktionsdrohungen – garantieren würde. Was also fehlt als hinreichende weitere Voraussetzung, um menschlichem Fehlverhalten effektiv zu begegnen und um verantwortungsvolles Handeln in den Unternehmen und das Vertrauen in die Märkte zuverlässig zu sichern?

Wessen es über alle Regeln, Kontrollen und Sanktionen hinaus dringlich bedarf, ist eine ethisch fundierte Grundhaltung aller in der Wirtschaft Verantwortung tragenden Manager und Mitarbeiter, und zwar global9. Gefordert ist eine ethische Grundhaltung zumindest im Sinne des Kantschen hypothetischen, besser natürlich noch im Sinne seines kategorischen Imperativs. Danach muss auf allen Ebenen in den Unternehmen – wieder – gelten, was auch ganz schlicht formuliert werden kann: Gewisse Dinge tut man nicht! Man tut sie nicht, gleichgültig ob sie durch irgendeine Regel ausdrücklich oder inzidenter missbilligt oder gar verboten sind, und unabhängig davon, inwieweit die Einhaltung dieser Regeln kontrolliert wird und ihre Nichteinhaltung sanktionsbewehrt ist. Wir müssen wieder weg von einer gerade in der Wirtschaft aber keineswegs nur dort verbreiteten Einstellung, wonach sich gesellschaftliche Achtung ebenso wie Selbstwert einer Person weitgehend aus der Höhe ihrer mehr oder weniger gerechtfertigten Vergütung ableiten. Wir müssen wieder weg von einer damit in engem Zusammenhang stehenden Beliebigkeit des Tuns und seiner Folgen, wonach entscheidend für das Tun allein ist, ob es sich – letztlich oft nur kurzfristig und scheinbar – materiell lohnt.

Dass die Erfüllung dieser Forderungen in einer globalisierten Welt mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Wertvorstellungen nicht leichter geworden ist, ist offensichtlich. Aber es gibt ja durchaus allgemein und global anerkannte Werte10. Aus westlicher Sicht sind solche Werte zum Beispiel im Dekalog verkörpert. Danach betrügt man eben nicht, und man achtet die Interessen seiner Mitmenschen. Aus derartigen Werten lässt sich bei gegenseitiger Achtung der Kulturen im Sinne eines globalen „Culture Value“ eine global tragfähige ethische Grundhaltung ableiten11, die in allen wesentlichen Konfliktsituationen ZHR 167 (2003) S. 515 (518)globale Leitschnur für ethisch fundierte und nicht in erster Linie oder ausschließlich egoistisch orientierte Prioritätsetzungen, Grenzziehungen und Lösungen sein kann, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob einschlägige Regelungen existieren. Allgemein und global gültige Wertvorstellungen, die eine solche ethische Grundhaltung ermöglichen, sind z.B. über die schon genannte Achtung des anderen und seiner Interessen hinaus, Zuverlässigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit, sind Fairness, Rechtschaffenheit sowie Integrität und damit gegenseitiges Vertrauen begründendes und rechtfertigendes verantwortungsvolles Verhalten. Es handelt sich also, um es neudeutsch zu sagen, um ein „common understanding“ im Sinne einer, um nun das scheinbar altmodische deutsche Wort zu gebrauchen, Grundanständigkeit – mag man die sie ausmachenden Wertvorstellungen nun im Einzelnen als Primär- oder als Sekundärtugenden definieren. Mit einer solchen, an einem global gültigen Wertekanon orientierten ethischen Grundhaltung wird dem obersten Ziel der Unternehmensführung, den Unternehmenswert zu steigern, langfristig und nachhaltig zum Vorteil aller Stakeholder gedient. Für das Vertrauen in die Märkte wird wieder eine solide Grundlage geschaffen.

Wie kann die hier eingeforderte ethische Grundhaltung in der Wirtschaft gelebt werden? Zum Beispiel, indem man trotz allen Wettbewerbs-, Ergebnis- und Veränderungsdrucks nicht an die äußersten Grenzen des vielleicht gerade noch Erlaubten und Vertretbaren geht, wenn und weil der Wertekanon dagegen steht – auch wenn der (ergebnisabhängige) verführerische Bonus noch so lockt. Man erkennt ethisch begründete Grenzziehungen an. Die ethische Grundhaltung wird auch gelebt, wenn man bei seinem geschäftlichen Handeln – das als solches korrekt sein mag – zugleich auf die Vertretbarkeit des Zwecks schaut, der mit dem geschäftlichen Handeln, sei es vom eigenen Unternehmen, sei es vom Kunden, verfolgt wird. Ist der Zweck nicht mit dem Wertekanon vereinbar, so ist eben unabhängig davon, ob der Zweck, wie etwa bei der Geldwäsche, ausdrücklich verboten ist, von einem ihn fördernden Handeln bzw. von einem ihm dienenden Geschäft, mag dieses auch für sich genommen keine Regeln verletzen, abzusehen – ungeachtet des Gewinns und des Bonus, den das Geschäft hätte bringen können.

Eine ethische Grundhaltung in der Wirtschaft leben bedeutet auch ehrliche Transparenz – nicht nur in der Rechnungslegung. Und wenn schon keine völlige Transparenz möglich erscheint, dann aber bitte Transparenz im Sinne des soliden „mehr sein als scheinen“ und nicht umgekehrt – zugegebenermaßen ZHR 167 (2003) S. 515 (519)ein nicht ganz leichtes Unterfangen angesichts bestimmter Bilanzierungsregeln und angesichts unserer Mediengesellschaft, in der es im Wesentlichen darauf anzukommen scheint, wie sich Sachverhalte und Personen in den Medien darstellen. Wiederzubeleben ist des Weiteren das spürbar beschädigte, wechselseitige Loyalitätsband zwischen Unternehmen einerseits sowie Management und Mitarbeitern andererseits12, ein Schaden, der ethisches Grundverhalten unterminiert und das Risiko von Fehlverhalten im Unternehmen bedeutsam erhöht hat. Loyalität besteht – vielleicht etwas überspitzt formuliert – zu häufig nur noch zwischen einzelnen Mitarbeitern und ihrem über die Höhe ihres Bonus und über ihr Fortkommen oder ihr Bleiben im Unternehmen entscheidenden Chef. Das Stichwort „Seilschaft“ liegt nicht fern. Für ethisches und loyales Verhalten spielen, wie schon angeklungen, die Vergütungsgrundsätze eine kaum zu unterschätzende Rolle. Sie müssen so gestaltet sein, dass sich die Vergütungshöhe nicht nur am momentanen Gewinnbeitrag des Managers bzw. Mitarbeiters und anderen in Zahlen meßbaren betriebswirtschaftlichen Größen orientiert. Vielmehr muss sich die Vergütungshöhe – in der richtigen Mischung – wesentlich auch an nur mittelbar oder erst langfristig wirksamen Ergebnisfaktoren ausrichten, wie eben an den „soft factors“ einer ethischen Grundhaltung und der Loyalität des einzelnen Managers und Mitarbeiters zum Unternehmen.

Damit die ethische Grundhaltung gelebt wird, bedarf es schließlich und zuvörderst der Bildung. Die Vermittlung von Wissen und Können ist unverzichtbar, aber reicht nicht. Gefordert ist Bildung u.a. im Sinne der Vermittlung des globalen Wertekanons und damit jener Grundhaltung, die dem Einzelnen ethisch fundiertes Verhalten ermöglicht. Hier sind alle relevanten gesellschaftlichen Institutionen gefordert – Familie, Schule, Universität, religiöse Gemeinschaften, Vereine und nicht zuletzt die Unternehmen selbst13. Der globale Wertekanon muss im Unternehmen von der Unternehmensführung anerkannt und kommuniziert werden. Vor allem aber muss die Unternehmensführung auf seiner Basis selbst ethisches Verhalten vorleben – das Beispiel bildet.

Die hier eingeforderte, auf einem globalen Wertekanon basierende ethische Grundhaltung lässt sich nicht von heute auf morgen erreichen. Aber sie lohnt als hinreichende, ein vernünftiges Regelwerk ergänzende Bedingung für verantwortungsvolles Handeln in der Wirtschaft den vollen Einsatz. Demgegenüber sind lähmende, kostenträchtige und letztlich doch allenfalls beschränkt wirksame Überregulierung und Superkontrolle des „big brother is watching you“ zu vermeiden – vor beidem wird zu recht gewarnt14.

Klaus Kohler

1

Vgl. u.a. Hommelhoff/Lutter/Schmidt/Schön/Ulmer (Hrsg.), Corporate Governance, Gemeinschaftssymposion der Zeitschriften ZHR/ZGR, Beiheft 71 der ZHR 2002; Corporate Governance als Teil unseres Selbstverständnisses, Konzerngeschäftsbericht 2002 der Deutsche Bank AG, S. 15ff.

2

Vgl. z.B. Unsere Identität, Konzerngeschäftsbericht 2002 der Deutsche Bank AG, S. 2 und zu Verhaltensregeln im Finanzdienstleistungssektor Kohler, Relazione per la Germania in: Franco Riolo (Herausgeber), Etica nei servizi bancari e finanziari e nelle professioni de avvocato e commercialista, 1996.

3

Vgl. u.a. den Risikobericht im Konzerngeschäftsbericht 2002 der Deutsche Bank AG, S. 196ff.; Lösler, Compliance im Wertpapierdienstleistungskonzern, 2003; U. H. Schneider, Compliance als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZIP 2003, 645ff.; Turing, General Principles of Risk Control, Butterworths Journal of International Banking and Financial Law, February 2000, 38ff.

4

Vgl. u. a. Donald, Die Entwicklung der US-amerikanischen Corporate Governance nach Enron, WM 2003, 705ff.

5

Vgl. u.a. die Beschlüsse des 64. Deutschen Juristentages 2002, Abteilung E Nr. 1.11ff. und Abschnitt 1 und 2 in dem „Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes“ vom 25. 2. 2003.

6

Zu Sammelklagen vgl. u.a. Heß, Sammelklagen im Kapitalmarktrecht, AktG 2003, 113ff.

7

Vgl. z.B. Gelinsky, Im Land der Unfreien und der Ängstlichen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. 12. 2002; Mülbert/U. H. Schneider, Kampf der Klage-Industrie, Handelsblatt vom 14. 11. 2002.

8

Zitiert in Ackermann, Corporate Governance – nun sind Taten gefragt, Neue Züricher Zeitung vom 18. 1. 2003; Vgl. auch Strenger, Mittelstand entdeckt Corporate Governance, Börsen-Zeitung vom 9. 4. 2003: Gute Corporate Governance bringt auch dem Mittelstand niedrigere Kapitalkosten und eine bessere Mittelversorgung.

9

Vgl. z.B. Breuer, Corporate Governance, zfo 2003,42,43ff. und „Die richtigen Aktionäre aussuchen“ a.E., Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 3. 2003; Dahrendorf, Die Europäer sind neidisch, Interview in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. 7. 2002; Graf Henckel von Donnersmark, Wirtschaft und Ethik, in: Mr. Finanzplatz/Business is Movement, 2002, 243, 249ff., 254f.

10

Vgl. noch ablehnend zu globalen Werten Tobler, Ethik und Banken, Wolfsbergschriften Bd. 9 (1984), 12ff.

11

Vgl. Ackermann, Culture Value als integraler Bestandteil des Shareholder Value in einer globalisierten Welt. Einige theoretische Überlegungen, in: Mr. Finanzplatz/Business is Movement, 2002, 467, 478f.; Jeske, Erneuerung und Stabilität – Anmerkungen zur Unternehmenskultur, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 5. 2002; Graf Henckel von Donnersmarck (Fn. 9), S. 252ff.; Ulsamer, Soziale Marktwirtschaft – ein Auslaufmodell?, „Information“ Nr. 112 der Internationalen Treuhand AG, Basel 2002, S. 10, 17; vgl. auch die kürzlich erfolgte Gründung des internationalen Institute for Corporate Cultural Affairs (ICCA) in Frankfurt am Main, dessen Kernstück der World Corporate Ethics’ Council ist; hier verfolgen weltweit agierende Unternehmen das Ziel, eine gemeinsame Informations- und Kommunikationsplattform zu schaffen, um neben dem Shareholder Value System ein globales Cultural Value System zu formulieren.

12

Vgl. Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber steht nicht mehr hoch im Kurs, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 12. 2002.

13

Vgl. die in Fn. 11 erwähnte Gründung des Institute for Corporate Cultural Affairs.

14

Vgl. z.B. die Warnung des European Shadow Financial Regulatory Committee in Sanfter Weg bei Corporate Governance, Börsen-Zeitung vom 4. 12. 2002.

 
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