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ZHR 169 (2005), 1-5
Ulmer 

Vom Umgang mit rechtsfortbildenden BGH-Urteilen

I. Zu den zentralen Aufgaben des BGH als Revisionsinstanz gehört neben der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auch die Rechtsfortbildung. Das steht angesichts des in § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO enthaltenen Gesetzesauftrags im Grundsatz außer Zweifel, auch wenn Fragen des Übergangs von der erweiternden, insbes. teleologischen Rechtsanwendung zur Rechtsfortbildung sowie des Grenzverlaufs zwischen zulässiger Fortbildung praeter legem und nach verbreiteter Ansicht unzulässiger Fortbildung contra legem nicht selten den Gegenstand methodologischer Diskussion bilden.

Indessen soll von den Voraussetzungen und Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung hier nicht die Rede sein. Auch geht es im Folgenden nicht um die Gründe, warum der Rechtsfortbildung gerade im Gesellschaftsrecht seit alters eine besonders herausragende Rolle zukommt;1 neben der spezifischen Rechtsmaterie, die sich dank Kautelarjurisprudenz und wirtschaftlicher Entwicklungen in ständigem Fluss befindet, und deren Herausforderungen für die Spruchpraxis des II. Zivilsenats mag hierzu auch die jeweilige Zusammensetzung der Richterbank und die Persönlichkeit des Vorsitzenden nicht unwesentlich beitragen.2 Vielmehr ist anhand eines im November 2003 ergangenen BGH-Urteils3 der Frage nachzugehen, in welcher Weise Rechtswissenschaft und -praxis auf überraschende neue Wege der höchstrichterlichen Rechtsprechung reagieren und was sie dazu beitragen können, dem richterlichen Schritt ins Neuland Ziel und Richtung zu weisen (vgl. unter III). Dazu sind vorab (unter II) kurz die Erfahrungen mit einigen herausragenden Kapiteln der Rechtsfortbildung aus den letzten Jahrzehnten in Erinnerung zu rufen.

II. 1. Führt man sich die Rechtsfortbildung des BGH aus den letzten 30 Jahren im Gesellschaftsrecht vor Augen,4 so fällt es nicht schwer, als eine erste Fallgruppe eine Reihe markanter, der Gesetzgebung entweder vorausgehender oder sie sogar ersetzender Entwicklungen herauszugreifen. Diese Entwicklungen waren jeweils dadurch gekennzeichnet, dass der II. Zivilsenat Gelegen¬ZHR 169 (2005) S. 1 (2)heit hatte, die Reise ins Neuland dank entsprechender Revisionen schrittweise anzutreten und sich dabei des Zuspruchs der Fachwelt zu versichern. Genannt seien einerseits die Entscheidungen zur analogen Anwendung von GmbH-Außenrecht auf die typische GmbH & Co KG5 und die Herausarbeitung von Sonderregeln für eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen,6 andererseits die Rechtsprechung zur Publikums-KG7 und zur Rechtsfähigkeit und Gesellschafterhaftung bei der Außen-GbR.8 Die Einzelheiten sind den ZHR-Lesern bekannt und bedürfen keiner weiteren Erläuterungen.

2. Eine zweite – ungleich schmalere – Fallgruppe bilden solche Schritte der Rechtsfortbildung, deren Weiterungen zunächst nicht hinreichend absehbar waren mit der Folge, dass sie das Schicksal einer nur relativ kurze Zeit währenden Episode erteilte. Es genügt, auf die vieldiskutierte Rechtsprechung zum Verlustausgleich des herrschenden Unternehmens im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern zu verweisen. Nach ihrem bemerkenswerten Beginn mit dem entwicklungsoffenen Autokran-Urteil9 drohte sie durch die Folgeurteile Tiefbau10 und Video11 auszuufern und das Haftungsprivileg des § 13 Abs. 2 GmbHG für das herrschende Unternehmen grundsätzlich in Frage zu stellen, so dass der Senat ihr Ende – offiziell im Wege einer „Klarstellung“ – durch TBB12 einläutete. Da die damit verbundene Grundtendenz, über §§ 30, 64 GmbHG hinaus für Gläubigerschutz in der abhängigen GmbH ohne Minderheitsgesellschafter13 zu sorgen einem unverkennbaren rechtlichen Bedürfnis entsprach, wurde sie inzwischen bekanntlich – wenn auch ohne ausdrücklichen Konzernbezug – durch die mit Bremer Vulkan begonnene Rechtsprechung zur Gesellschafterhaftung wegen existenzgefährdenden Eingriffs ersetzt.14

3. Für die folgenden Überlegungen am interessantesten erweist sich demgegenüber eine dritte Fallgruppe, die man mit „Paukenschlag und verstärkendem Echo“ umschreiben könnte. Es geht um singuläre, nicht in eine sich allmählich entwickelnde Entscheidungskette eingebettete Schritte der Rechtsfortbildung mit potentiell weitreichenden Folgen und deren Aufnahme in der Fachwelt. Zu nennen ist einerseits das Holzmann-Urteil vom April 1982 zu ZHR 169 (2005) S. 1 (3)den Anforderungen an die Ermächtigung des Vorstands zum Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital15 und dessen Überwindung durch das Siemens/Nold-Urteil vom Juni 1997,16 andererseits und vor allem das Holzmüller-Urteil vom Februar 198217 zu den ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen und seine deutliche Eingrenzung durch das Gelatine-Urteil vom April letzten Jahres.18 Vor allem die beiden letztgenannten Urteile und der Zeitabstand von mehr als 20 Jahren zwischen ihnen sind ein spektakuläres Beispiel dafür, zu welcher Verunsicherung des Wirtschaftslebens derartige Paukenschläge zumal bei entsprechendem Echo „vorauseilenden Gehorsams“ seitens der Literatur führen können, wenn der Senat zunächst – aus verständlichen Gründen – auf nähere Eingrenzungen verzichtet, während die Beratungspraxis im Interesse des sichersten Weges und zur Vermeidung von Haftungsrisiken geneigt ist, den höchstrichterlichen Ansatz stark auszudehnen und aus der Mücke schließlich einen Elefanten zu machen.

III. Ein bemerkenswertes Beispiel für die Mutation von der Mücke zum Elefanten bildet auch das im November 2003 ergangene BGH-Urteil zur Anwendung der Kapitalerhaltungsregeln der §§ 30, 31 GmbHG auf Kredite, die die GmbH ihren Gesellschaftern aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen einräumt.19 Im zu entscheidenden Fall ging es um offenbar langfristige oder unbefristete Kredite in Höhe von 1 Mio. DM, die die über ein Stammkapital von nur 50000 DM verfügende GmbH an zwei ihrer Gesellschafter im Herbst 1994 gewährte; sie waren bei Konkurseröffnung im März 1997, also nach rd. zweieinhalb Jahren, noch nicht zurückgezahlt. Vor diesem Hintergrund hob der BGH die Abweisung der u.a. auf § 43 Abs. 3 GmbHG gestützten Schadensersatzklage des Konkursverwalters gegen den für die Kreditvergabe mitverantwortlichen GmbH-Geschäftsführer durch das Berufungsgericht auf und verwies die Sache unter Hinweis auf entsprechende, für das Eingreifen von § 30 GmbHG bei Gesellschafterkrediten plädierende Literaturstimmen20 an die Berufungsinstanz zurück.

Das Urteil hat in Wissenschaft und Praxis zu einem außerordentlich lebhaften,21 überwiegend kritischen Echo wegen der darin aus Sicht der Verfasser liegenden Erschwerung der Konzernfinanzierung geführt. Dem Vernehmen nach hatte es zur Folge, dass in vielen faktischen Konzernen mit GmbH-Töchtern die bisherige Finanzierungspraxis auf den Prüfstand gestellt wurde; dadurch soll eine Welle von Beherrschungsverträgen zur Neutralisierung des § 30 GmbHG durch analoge Anwendung des § 291 Abs. 3 AktG ausgelöst ZHR 169 (2005) S. 1 (4)worden sein. Hauptgegenstand der Sorge war die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen künftig noch am Cash Pooling als einem in GmbH-Konzernen stark verbreiteten, regelmäßig dem wechselseitigen Vorteil aller Beteiligten dienenden Instrument der Konzerninnenfinanzierung22 festgehalten werden könne.

In diesem Editorial geht es nicht darum, in das kritische Konzert einzustimmen oder die Zahl der Reparaturvorschläge um einen weiteren zu erhöhen. Vielmehr ist zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass das BGH-Urteil trotz seines Bezugs auf langfristige oder unbefristete, ein Vielfaches des Stammkapitals erreichende Kredite der GmbH an Gesellschafter quasi unbesehen und nahezu einhellig23 auf das Cash Pooling übertragen wurde. Auch wenn man dem Umstand Rechnung trägt, dass Rechtsanwälte gehalten sind, im Interesse ihrer Mandanten und zur Vermeidung eigener Haftungsrisiken den sichersten Weg zu empfehlen, und dass sich diese ihre Grundhaltung auch auf Urteilsrezensionen aus ihrer Feder erstrecken mag, die aus ihrer Beratungstätigkeit resultieren, bleibt doch zumindest die Frage an die kommentierenden Wissenschaftler, ob die Übertragung der Urteilsgrundsätze auf typische Cash Pools24 wirklich geboten oder auch nur naheliegend war.

Dabei sei nicht in Frage gestellt, dass es Erscheinungsformen des Cash Pooling gibt, die der Sache nach auf eine mittel- oder langfristige Finanzierung des kapitalschwachen herrschenden Unternehmens zu Lasten der beteiligten Tochter- oder Enkelgesellschaften hinauslaufen – Bremer Vulkan bot hierfür ein besonders markantes Beispiel. Auch sprechen zweifellos gute Gründe dafür, die neue BGH-Rechtsprechung als zusätzlichen, neben die Haftung wegen existenzgefährdenden Eingriffs tretenden Schutz der Gläubiger der Tochter-GmbH vor liquiditätsschmälernden Ausleihungen an ihre Gesellschafter heranzuziehen. Indessen müssen schlechte Beispiele nicht notwendig gute Sitten verderben, und es hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten, wollte man in das im Schrifttum verbreitete Lied vom Ende des typischen Cash Pooling einstimmen. Dieses beruht zivilrechtlich bekanntlich nicht auf einer kollektiven Darlehensvereinbarung, sondern lässt sich angesichts der grundsätzlich jederzeitigen Verfügbarkeit des jeweiligen Pool-Guthabens für die beteiligten Unternehmen als unregelmäßige Verwahrung (§ 700 BGB) qualifizie¬ZHR 169 (2005) S. 1 (5)ren.25 Auch wirtschaftlich betrachtet handelt es sich typischerweise nicht um einen aufsteigenden Kredit, sondern um ein gewöhnliches, auf laufenden Saldoausgleich zwischen den beteiligten Unternehmen gerichtetes Kontokorrentverhältnis, das für die Deckung des täglichen Liquiditätsbedarfs der Konzernunternehmen sorgt, nicht aber der Konzernmutter oder bestimmten Konzernunternehmen einen vorrangigen Liquiditätszugriff zu Lasten der übrigen nach Art einer Kreditlinie einräumen soll.

Die Moral von der Geschichte: es steht zu wünschen, dass der Praxis der Konzerninnenfinanzierung eine jahrzehntelange Verunsicherung nach Art der Holzmüller-Doktrin erspart bleibt. Am sichersten ließe sich das dadurch erreichen, dass der II. Zivilsenat bald Gelegenheit bekäme, selbst für Klarstellung zu sorgen. Hätte er mit dem das Cash Pooling breitflächig in Frage stellenden Literaturecho gerechnet, so hätte er vermutlich – an Stelle des oder zusätzlich zu dem für diese Finanzierungsart uninteressanten Ausnahmevorbehalt als obiter dictum26 – eine entsprechende Klarstellung schon in die Urteilsgründe selbst aufgenommen.27 Vor allem aber sei den Urteilsrezensenten empfohlen, bei der Analyse derartiger Paukenschlag-Urteile nicht vorschnell von deren möglicher Tragweite als Rechtstatsache auszugehen, um sich sodann (je nach Temperament oder background) mehr oder weniger kritisch damit auseinanderzusetzen, sondern sich im konstruktiven Dialog mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung um die sinnvolle, sachlich gebotene Konkretisierung und Eingrenzung der Rechtsfortbildung zu bemühen.

Peter Ulmer

1

Vgl. dazu insbes. Robert Fischer, Gesammelte Schriften, 1985, S. 23; ähnlich Ulmer, ZGR 1999, 751, 772 ff.

2

So stammt das erste höchstrichterliche Urteil zur offenen AGB-Inhaltskontrolle (BGHZ 22, 90, 97 betr. einen Möbelkauf) bemerkenswerter Weise vom II. Zivilsenat; vgl. dazu Robert Fischer, BB 1957, 481ff.

3

BGH NJW 2004, 1111 (für die Amtl. Sammlung bestimmt).

4

Vgl. dazu etwa Ulmer, 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 2, S. 273ff. betr. das Recht der GmbH und der GmbH & Co KG.

5

BGHZ 60, 324, 328 f.; 64, 11, 17; 67, 171, 174ff.; 69, 274, 279; 110, 342, 346.

6

So erstmals schon BGHZ 31, 258, 273 (1959); sodann BGHZ 75, 334, 337; 76, 326, 329f.; 81, 252, 255; 90, 370, 380 u.a. (st. Rspr.).

7

Vgl. statt aller die Zusammenstellung von A. Krieger, FS Stimpel, 1985, S. 307, 311ff.

8

Vgl. insbes. BGHZ 146, 341, 344 ff. und zuvor schon BGHZ 142, 315, 319ff.

9

BGHZ 95, 330, 341 ff.

10

BGHZ 107, 7, 18.

11

BGHZ 115. 187, 194.

12

BGHZ 122, 123, 129ff.

13

Zu den Treupflichtschranken für den Mehrheitsgesellschafter als herrschendes Unternehmen vgl. nur BGHZ 65, 15, 19 (ITT).

14

BGHZ 149, 10, 16f.; so dann auch BGHZ 151, 181, 186 (KBV); BGH ZIP 2002, 848, 850.

15

BGHZ 83, 319, 325f.

16

BGHZ 136, 133, 139f.

17

BGHZ 83, 122, 131.

18

BGH ZIP 2004, 993, 995 ff.

19

BGH a.a.O. (Fn. 3).

20

Insbes. Stimpel, FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 335, 352 und Schön, ZHR 159 (1995), 351, , 361.

21

Verf. hat bis Herbst 2004 rd. 15 Beiträge und Urteilsrezensionen registriert.

22

Vgl. dazu statt aller Wehlen, in: Lutter/Scheffler/U. H. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung, 1998, § 23 Rdn. 28ff. und U. H. Schneider, a.a.O., § 25 Rdn. 29ff.

23

Die (soweit ersichtlich) einzige bisherige Ausnahme ist Volker Hahn (Der Konzern 2004, 641, 643) zu verdanken. So demnächst eingehend auch C. Schäfer, GmbHR 2005 (Heft 3).

24

Zum nicht von der Rechtsfortbildung erfassten Sonderfall des „Notional Pooling“ mit nur simulierter Saldenzusammenführung auf dem Zielkonto vgl. Faßbender, Cash Pooling und Kapitalersatzrecht im Konzern, 2004, S. 28; Reidenbach, WM 2004, 1421, 1423.

25

Vgl. dazu näher C. Schäfer a.a.O. (Fn. 23) unter II 3; a.A. Hommelhoff, WM 1984, 1105, 1106; Faßbender (Fn. 24) S. 31f.

26

A.a.O. (Fn. 3) S. 1112.

27

Nach Auskunft des Vorsitzenden Volker Röhricht habe der Senat zum Cash Pooling weder etwas sagen noch auch nur andeuten wollen (zitiert nach C. Schäfer, a.a.O. Fn. 23, unter I 1).

 
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