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ZLR 2021, 731
Mettke 

“Die Ernährungsumgebung” – ein Schritt in die richtige Richtung

Staatliche Ernährungspolitik und Verfassung – so lautet eine Stellungnahme von Prof. Di Fabio zu einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.1 Es ist im Auftrag des Lebensmittelverbandes Deutschland erstellt worden; im Ergebnis eine vernichtende Kritik.

Es gehe, so schreibt Di Fabio in dem Gutachten des WBAE nicht nur um die menschliche Gesundheit, sondern auch um Klimaschutz, ökologische Nachhaltigkeit und um das Tierwohl und um soziale Intervention, ja es gehe für einige Akteure um nichts weniger als den planvollen Umbau des gesamten Bereichs von Lebensmittelangebot und Ernährung. Um diese Ziele zu erreichen, sollen nach den Vorschlägen des WBAE nicht nur bereits bestehende staatliche Maßnahmen besser aufeinander abgestimmt, sondern deutlich eingriffstiefere Maßnahmen als bisher ergriffen werden.

Di Fabio bemängelt, dass das Menschenbild wie es in dem Gutachten dargestellt werde, der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung widerspreche. Sowohl das für die Ernährungswirtschaft wichtige Verbraucherschutzrecht als auch das Wettbewerbsrecht legten das Leitbild des mündigen Verbrauchers zugrunde. Es gehe hier um einige verfassungsrechtliche Grundsätze, die jeder in der Ernährungspolitik zu beachten habe und die im WBAE-Gutachten nur teilweise angesprochen seien. Es sei indes nicht zu übersehen, dass auf der gesetzlichen oder europäischen Ebene gerade von wissenschaftlichen Politikberatern versucht werde, einen Hebel anzusetzen, um beispielsweise das Verbraucherleitbild vom verfassungsrechtlichen Menschenbild zu lösen. Der Verbraucher werde darin als verletzlich, flüchtig und überfordert gezeichnet, an seine Privatautonomie zu appellieren, als aussichtslos geschildert. Auch der Wissenschaft sei es untersagt, das Verbraucherleitbild vom verfassungsrechtlichen Menschenbild zu lösen. Das WBAE-Gutachten präferiere dagegen das Leitbild nicht eines eigenverantwortlichen, sondern schutzbedürftigen Verbrauchers. Die Kultur der Freiheit werde von einem überregulierenden Staat buchstäblich unterdrückt. Er bezieht sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1952, das sog. KPD-Urteil. Das ist zumindest missverständlich. Eine vermeintliche Parallele zwischen der Kommunistischen Klassenkampfideologie und den Vorschlägen für eine sozialstaatliche Ernährungspolitik kann man beim besten Willen nicht konstruieren wollen.

Die Autoren des WBAE-Gutachtens haben daraufhin eine Replik verfasst2 und Di Fabio vorgeworfen, dass er wesentliche Ergebnisse der neuen interdisziplinierenden Forschung zum Ernährungsverhalten und zu den sozial-ökologischen ForderungenZLR 2021 S. 731 (732) unserer Ernährung vernachlässige. Das Gutachten des WBAE sei interdisziplinär erstellt worden. Eine rein juristische Argumentation, die die fachwissenschaftliche Basis nicht zur Kenntnis nehme, überrasche daher. Die starke Individualisierung der Ernährungsverantwortung werde den Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten der Verbraucher nicht länger gerecht. Schließlich sei die Rechtswissenschaft auf die Aufbereitung des Sachverhalts im Sinne von fachwissenschaftlichen empirischen Analysen angewiesen.

Die Replik der Autoren des WBAE-Gutachtens ist gerechtfertigt.

Es ist zunächst völlig unverständlich, dass die Diskussion über die künftige Ernährungspolitik ausschließlich auf der Grundlage des Art. 1 GG – “die Würde des Menschen ist unantastbar” – erfolgt.

Die allgemeinen Ziele des Lebensmittelrechts sind nicht im Grundgesetz, sondern vielmehr in Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (LM-Basisverordnung) beschrieben. Danach verfolgt das Lebensmittelrecht eines oder mehrere der allgemeinen Ziele eines hohen Maßes an Schutz für das Leben und die Gesundheit der Menschen, des Schutzes der Verbraucherinteressen, einschließlich lauterer Handelsgepflogenheiten im Lebensmittelhandel, ggf. unter Berücksichtigung des Schutzes der Tiergesundheit, des Tierschutzes, des Pflanzenschutzes und der Umwelt. Nach Art. 14 Abs. 4 lit. a der LM-Basisverordnung sollen dabei auch die Entwicklungen im Hinblick auf künftige Generationen beachtet werden. Die LM-Basisverordnung ist somit die Legitimationsgrundlage für das WBAE-Gutachten.

Lebensmittelrecht und Ernährungspolitik – beide – können nur interdisziplinär verstanden werden.

Dazu hat am 24. Juni 1966 auf der Mitgliederversammlung des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. – heute Lebensmittelverband Deutschland – Prof. Werner Thieme von der Universität in Hamburg einen noch heute lesenswerten Vortrag über “Rechtsstaat und Lebensmittelrecht” gehalten. Nach seinen juristischen Ausführungen machte er zum Abschluss noch folgende Bemerkung: “Es ist für mich nicht der erste Ausflug auf den Stern des Lebensmittelrechts. Ich habe aber bei meinen bisherigen Ausflügen immer wieder festgestellt, dass manches auf ihrem Stern doch recht anders aussieht als auf den Sternen, auf denen Juristen sonst zuhause sind. Aber nach meiner Überzeugung ist das Recht eine unteilbare Einheit. Diese Einheit kann nur dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Sterne, die so einsam im Weltall des Rechts umherschwirren, sich etwas näherkommen und wenn wir auch ab und zu einmal eine kleine Raumfahrt wagen.” Man findet im Lebensmittelrecht”, so sprach Thieme, “eine Schicht, die sich unorganisch über die andere gelegt hat und man muss juristische Geologie treiben, wenn man sich des Verfahrens der systematischen Auslegung zu bedienen versucht. Einen Ertrag wirft dieses VerfahrenZLR 2021 S. 731 (733) nicht ab. Daher ist es geboten, sich der historischen Auslegung insbesondere der Auslegung aus den Materialien zuzuwenden.”3

Dies gilt insbesondere auch für das Verbraucherleitbild.

Der Begriff des Verbrauchers ist keine Personenbeschreibung, sondern politisches Programm. Der Begriff Konsument im Rechtssinne erscheint erstmals in Hegels Rechtsphilosophie, verschiedene Interessen der Produzenten und Konsumenten können in Kollision miteinander geraten, so dass es des Ausgleichs und der Regulierung bedarf.4 Marx hat dies zur klassentheoretischen Theorie entwickelt, wonach der Lohnarbeiter und Verbraucher in einem dialektischen Zusammenhang stehen. Dies bedeutet, dass zwischen der Verbraucherstellung und der Stellung des abhängigen Lohnarbeiters keine Unterschiede bestehen.5

Die ursprüngliche Ausgangslage hat sich in der Wohlstandsgesellschaft natürlich völlig verändert. Verbraucher ist jeder Mensch, der Waren einkauft, vom Sozialhilfeempfänger bis zum Jachtbesitzer. Udo di Fabio beklagt daher in seinem Buch “Kultur der Freiheit” einen individualistischen Lebensstil, der durch Werbung, Zeitschriften, Filme und Fernsehen inzwischen über Jahrzehnte wirkmächtig propagiert wird. “Wer Freiheit nur versteht als einen Gang durch die glitzernden Auslagen von Kaufhäusern, dem wird kein Staat die Kulturgemeinschaft der Freien erhalten können.”6 Dies gilt erst recht, wenn heutzutage Influencer die Konsumgewohnheiten für Millionen von Followern beeinflussen. “Wir wissen, dass Menschen keine Entscheidung treffen wollen, und wir perfektionieren die Tools, um ihnen Entscheidungen abzunehmen,” sagt Max Holland, CEO des Media-Social Monopols “Every”, in dem gleichnamigen Roman von Dave Eggers.7 Aber auch den tausenden Menschen, die mittlerweile in Deutschland aus Armut an den Tafeln anstehen, um vor Hunger geschützt zu sein, wird man kaum erzählen können, dass sie die Wahl ihrer Lebensmittel frei treffen sollen. In der Corona-Pandemie hat sich diese Situation dramatisch verschärft. Für viele dreht sich das Rad wieder von der Überflussgesellschaft zur Mangelversorgung.

Niklas Luhmann hat diese Entwicklung bereits 1995 in seinem Buch “Das Recht der Gesellschaft” vorausgesehen.8 “Die Frage bleibt jedoch”, schreibt er, “ob eine weltweite Realisierung des derzeitigen Wohlstandsniveaus einiger Industrieländer überhaupt möglich ist, allein schon aus ökologischen Gründen. Auch muss man eine starke Geschichtsabhängigkeit aller rechtspolitischen Systeme denken. Schließlich kann man nicht unterstellen, dass das derzeit dominierende System der strukturellen Gewichtung der Funktionssysteme langfristig so bleibt, wie man es heute vorfindet”.

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Ich komme noch einmal auf das von Di Fabio zitierte KPD-Urteil zurück und zwar so, wie er es in seinem Buch “Die Kultur der Freiheit” zitiert hat. Dort heißt es “dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung.”

Das Bundesverfassungsgericht geht hierbei von dem anthropozentrischen Weltbild aus, dass der Mensch der Mittelpunkt der Schöpfung ist und nicht nur ein Teil davon. Es ist dies das deutsche philosophische Weltbild von Kant bis Heidegger. “Von den Menschen als einem moralischen Wesen” schreibt Kant, kann nicht weiter gefragt werden, wozu er existiert. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.”9

Die Welt aber verändert sich und damit auch das Verständnis über den alleinigen Vorrang des Menschen in der Welt, die globale Bedrohung durch den Klimawandel und den dramatischen Verlust der Artenvielfalt stellen die alles beherrschende Rolle der Menschen in Frage. Es geht nicht länger um Beherrschung, sondern um die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, die auch mit der Vielfalt der Pflanzen und Tiere zusammenhängt und nicht länger als vom Menschen getrennt gedacht werden kann. Es ist daher geradezu vordringlich, dass der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz sich auch mit künftigen absehbaren Veränderungen in Natur und Gesellschaft befasst und die Sensibilität besitzt, dazu Fragen zu stellen und ihnen nachzugehen. Ein neues ökozentrisches Konzept ist unvermeidlich.

Vor 200 Jahren wurde Rudolf Virchow geboren. “Virchow's Forderungen gingen weit über medizinische Hilfe für die Kranken und Lebensmittel für die Jugendlichen hinaus. Er schlug demokratische Selbstbestimmung, individuelle Freiheit, Arbeitergenossenschaften und eine progressive Besteuerung zur Gesundung der unterdrückten, kranken Bevölkerung vor. Heute würde sich Virchow wohl um die globale Gesundheit kümmern, er zeigte uns mit seinem Leben deutlich, dass Berufslobbyismus in der Medizin nicht mehr zeitgemäß ist und es schon damals nicht war.10

Dies gilt in ganz besonderem Maße heute auch für das Lebensmittelrecht und die Ernährungspolitik.

Rechtsanwalt Thomas Mettke, München

1

ZLR 2021, 169.

2

Martinez et al., ZLR 2021, 589.

3

Thieme, Rechtsstaat und Lebensmittelrecht, Schriftenreihe des Bundes für Lebensrecht und Lebensmittelkunde – Sonderdruck aus Heft 59, Hamburg, Berlin, Düsseldorf 1966.

4

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 236.

5

Norbert Reich, Macht und Recht, Hamburg 1977, S. 192 ff.

6

Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 36, 68, 261.

7

Dave Eggers, Every, Köln 2021, S. 568.

8

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, Seite 585.

9

Kant, Die drei Kritiken – Vom Menschen als Endzweck der Schöpfung, Kröner Verlag, Leipzig, S. 322, 327.

10

Virchow, Ein Typus Wissenschaftler, der fehlt, SZ NR. 237, 13.10.2021.

 
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