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ZLR 2019, 765
Unland/Grube 

Zum Nutri Score®

Der Verbraucher hat entschieden: Bundesernährungsministerin Julia Klöckner will nun kurzfristig die rechtlichen Grundlagen für die freiwillige Nutzung des sogenannten Nutri-Score® schaffen, nachdem insgesamt etwa 1.600 repräsentativ ausgewählte Verbraucher ihre Meinung zu vier Modellen der Nährwertinformation abgegeben haben. Neben dem aus Frankreich stammenden Nutri-Score® standen das skandinavische Modell mit dem verheißungsvollen Namen “Schlüsselloch” sowie ein Entwurf des Lebensmittelverbandes Deutschland (vormals Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde – BLL) und ein Vorschlag des Max-Rubner-Instituts (MRI) zur Wahl. “Für mich ist das Ergebnis der Verbraucherbeteiligung maßgeblich und ich nehme das ernst. Der Nutri Score ist wissenschaftlich seriös, bekannte Schwachstellen des Algorithmus werden optimiert”, so die Bundesministerin.1

Der Nutri Score® ging als eindeutiger Sieger aus der Befragung hervor. 57 Prozent der Befragten wünschen sich, dass der Nutri Score® in Deutschland eingeführt wird, während 28 Prozent der Befragten für das MRI-Modell stimmten. Die zwei anderen zur Wahl stehenden Systeme erhielten jeweils weniger als zehn Prozent der Stimmen. Nach Aussage der Demoskopen erfüllt der Nutri Score® viele der Anforderungen, die die Verbraucher an eine zusätzliche Nährwertinformation stellen: “Er ist auf einen Blick erfassbar, leicht zu verstehen, und nutzt die eingängige, bereits gelernte (und vom Verbraucher erwartete) “Ampelfarbwelt”, beispielsweise aus der Klassifizierung von Elektrogeräten”2, also dem EU-Energielabel zur Kennzeichnung der Energieeffizienz.3

Was in der grafischen Darstellung einfach verständlich wirkt, ist in der Berechnung dafür umso komplizierter. Es werden bestimmte Nährstoffe und ausgewählte Zutaten herangezogen, die in die Berechnung des Nutri Scores® eingehen. Dazu wird eine Bilanz aus Nähr- bzw. Inhaltsstoffen, für die ein gesundheitlicher Nutzen belegt ist (P) sowie aus Nährstoffen, deren übermäßige Zufuhr mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden ist (N), gezogen. Je nach Gehalten der zu berücksichtigenden Nährstoffe und Zutaten pro 100 g verzehrfertiges Lebensmittel werden Punkte vergeben. Die Skala der Negativpunkte (N) reicht bis 10, die der Positivpunkte (P) nur bis 5. Wenn die Gehalte an Energie, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Natrium am Anschlag der Skala liegen, ergeben sich 40 Negativpunkte; mit Ballaststoffen, Pro-ZLR 2019 S. 765 (766)teinen, Obst, Gemüse, Nüssen und drei Ölen kommt man hingegen nur auf 15 Punkte maximal. Aus der Differenz von Negativ- und Positivpunkten (N-P) ergibt sich der Score, der in die fünfskalige Farb-Buchstaben-Kombination übersetzt wird. Die Palette reicht von “A” (grün) bis “E” (rot). Je niedriger der Nutri Score®, desto besser soll die Nährwertqualität eines Lebensmittels sein.4

Das Modell eignet sich dazu, Produkte derselben Produktgruppe zu vergleichen, aber nicht für darüber hinausgehende Aussagen.

Dritte können den Nutri Score® ohne Rezepturkenntnisse in der Regel nicht zuverlässig berechnen, da in der Deklaration zumeist weder die Ballaststoffe in der Nährwerttabelle noch alle Gemüse-, Obst-, Öl- oder Nuss-Zutaten mit Prozent im Zutatenverzeichnis angegeben werden. Für einige Produktgruppen und Bereiche muss der dem Nutri Score® zugrundeliegende Algorithmus noch optimiert werden5, dies sind die auch von der Bundesministerin angesprochenen Schwachstellen im Algorithmus. Manche positiven Inhaltsstoffe wie Omega-3-Fettsäuren oder Vitamine fließen nicht in die Bewertung ein und auch einigen empfehlenswerten Monoprodukten wird die Kennzeichnung nicht gerecht. Käse bekäme zum Beispiel eine schlechte Bewertung aufgrund seines hohen Anteils an gesättigten Fettsäuren und Natrium, aber für seinen vorteilhaften Anteil an Kalzium keinen Ausgleich. Produkte, die mit einem Gehalt von mehr als 6 % Ballaststoffen nach der Health Claims Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 als ballaststoffreich gelten, werden in der bei 4,7 % endenden Ballaststoff-Skala bei der Nutri Score-Berechnung nicht mit weiteren Positivpunkten belohnt. Dafür darf man bei Produkten mit einem hohem Negativpunkteanteil (≥ 11) und weniger als 80 % Obst, Gemüse, Nüsse oder Öle den Proteinanteil nicht mitberücksichtigen, obwohl dieser doch im Sinne einer Bilanz aus ungünstigen und günstigen Nährstoffen ebenfalls in die Waagschale zu werfen wäre.

Die verschiedenen Nutri Score®-Logos sind als Unionsmarken in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geschützt, so dass eine Verwendung der Zeichen erst nach Abschluss einer Lizenzvereinbarung6 mit der französischen Agence Nationale de Santé Publique (Nationale Agentur für öffentliche Gesundheit), einer Organisation des französischen Gesundheitsministeriums, möglich ist. Diese Stelle hat einen Standard für die Verwendung des Nutri Score®-Logos erlassen. Nach der Anmeldung haben Unternehmen zwei Jahre Zeit, alle Produkte mit dem Nutri-Score® auszuzeichnen, und zwar ausnahmslos, was bedeutet, dass auch Produkte mit einem ungünstigen Nutri Score®-Wert entsprechend deklariert werden müssen. Ein “Rosi-ZLR 2019 S. 765 (767)nenpicken” ist also nicht möglich, was es gerade Anbietern mit einer breiten Produktpalette nicht leicht machen wird, sich für die freiwillige Verwendung des Kennzeichnungssystems zu entscheiden. Für Hersteller mit mehrsprachigen Produkten, die EU-weit in den Verkehr gebracht werden, stellt sich zusätzlich noch die Frage der Zulässigkeit in anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen es keine Regierungsempfehlung gibt. Damit entsteht die interessante Konstellation, dass der französische Lizenzgeber für die freiwillige Verwendung seiner Logos verbindliche Vorgaben trifft.

Am 16. April 2019 hat das Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung7 gegen einen Verwender des Nutri Score® erlassen und die weitere Verwendung der Logos verboten. Nach Auffassung des entscheidenden Gerichts verstößt die Verwendung des Logos gegen verschiedene Bestimmungen des europäischen Lebensmittelrechts. Denn soweit die grünen Farben im Sinne einer Ampel positive Nährwerteigenschaften zum Ausdruck bringen, handelt es sich zweifellos um eine “nährwertbezogene Angabe” im Sinne der Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 (HCVO), welche nur dann gemacht werden darf, wenn sie im Anhang der Verordnung aufgeführt ist, was nicht der Fall ist. Weiterhin sieht das Landgericht einen Verstoß gegen die Vorschriften der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) über die Nährwertinformation. Denn gemäß Art. 35 Abs. 2 LMIV können die Mitgliedstaaten den Lebensmittelunternehmen empfehlen, eine zusätzliche Form der Nährwertinformation zu verwenden, wenn diese Angabe eine Reihe bestimmter Voraussetzungen nach Abs. 1 der Regelung8 erfüllt und dabei insbesondere wissenschaftlich abgesichert ist und von den Verbrauchern zutreffend verstanden wird (was für die Bundesministerin den Anlass gab, die zuvor vorgestellte Verbrauchererhebung durchführen zu lassen). Die vom Landgericht Hamburg aufgezeigten rechtlichen Probleme gilt es nun zu lösen.

Ein Verordnungsentwurf ist in Vorbereitung, um den Nutri Score® im Laufe des kommenden Jahres 2020 in Deutschland einzuführen. Noch im Oktober will Ministerin Klöckner der Bundesregierung eine Empfehlung für den Nutri Score® vorschlagenZLR 2019 S. 765 (768) und diese dann vom Kabinett als Verordnung beschließen lassen. Nach Notifizierung der Regelung bei der Europäischen Union und nach der abschließenden Befassung des Bundesrats soll dann die Verordnung im April 2020 in Kraft treten.9

Mit Anfrage vom 30. September 201910 an die Europäische Kommission hat das Europäische Parlament den Finger in die zuvor beschriebenen “rechtlichen Wunden” gelegt und fragt an, ob die Kommission der Ansicht sei, dass das Nutri Score®-Label mit den Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 in Einklang steht und insbesondere der dem Label zugrunde liegende Algorithmus den Anforderungen des Art. 6 der Verordnung entspricht? Hierauf hat Kommissar Vytenis Andriukaitis im Namen der Europäischen Kommission am 24.10.2019 geantwortet11, dass das Nutri Score®-Logo im Sinne einer “nährwertbezogenen Angabe” die Anforderungen nach

Abbildung 1

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Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 einhalte und sich auf allgemein anerkannte wissenschaftliche Nachweise stütze und durch diese abgesichert sein müsse. Die Kommission habe die Konformität des Nutri Score®-Logos anhand der entsprechenden rechtlichen Anforderungen im Zusammenhang mit den Mitteilungen der nationalen Maßnahmen Frankreichs und Belgiens geprüft. Sie habe keine Einwände gegen diese Modifizierungen erhoben.

Der Nutri Score® wird also als Möglichkeit der freiwilligen zusätzlichen Nährwertinformation kommen, wobei der dem System zu Grunde liegende Algorithmus in Einzelheiten noch weiterentwickelt werden muss. Interessant wird dann das Zusammenspiel zwischen den bundesdeutschen normativen Vorgaben und den privaten Anforderungen nach dem Standard des französischen Lizenzgebers der Logos.

Dr. Petra Alina Unland, Bielefeld und Rechtsanwalt Prof. Dr. Markus Grube, Gummersbach

1

Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) Nr. 197 vom 30.9.19: “Ergebnis der Verbraucherbeteiligung liegt vor: Bundesministerin Julia Klöckner wird Nutri-Score® einführen”, https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/2019/197-eNWK.html.

2

Vgl. die Studie “Erweiterte Nährwertkennzeichnungs-Modelle/Repräsentative Bevölkerungsbefragung – Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Kennzeichnung/Ergebniszusammenfassung_eNWK.pdf?__blob=publicationFile.

3

Energieeffizienz ist gemäß der Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27/EU das Verhältnis von Dienstleistungs-, Waren- oder Energieertrag (Output) zur zugeführten Energie (Input), also die rationelle Verwendung von Energie. Dieser Gedanke lässt sich mühelos auf den Brennwert von Lebensmitteln übertragen.

4

Vgl. den vorläufigen Bericht des MRI zur Beschreibung und Bewertung ausgewählter “Front-of-Pack”-Nährwertkennzeichnungs-Modelle, Stand: August 2019, redaktionell überarbeitet, https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Kennzeichnung/MRI-Bericht-Naehrwertkennzeichnungs-Modelle.pdf?__blob=publicationFile.

5

So die Auffassung des MRI, vgl. https://www.mri.bund.de/de/presse/pressemitteilungen/presse-einzelansicht/?tx_news_pi1 %5Bnews%5D=314&cHash=ec7cb0c7394d7c05a9f97e7f6fc3609d.

6

Vgl. Dokument “Nutri-Score” Logo usage regulation, Version 18 vom 1. Oktober 2019, Santé publique France, https://www.santepubliquefrance.fr.

7

LG Hamburg, Beschl. v. 16.4.2019, Az. 411 HKO 9/19.

8

“Artikel 35 LMIV – Weitere Formen der Angabe und der Darstellung: (1) Zusätzlich zu den Formen der Angabe gemäß Artikel 32 Absätze 2 und 4 und Artikel 33 und der Darstellungsform gemäß Artikel 34 Absatz 2 können der Brennwert und die Nährstoffmengen gemäß Artikel 30 Absätze 1 bis 5 in anderer Form angegeben und/oder mittels grafischer Formen oder Symbole zusätzlich zu Worten oder Zahlen dargestellt werden, sofern diese Angabe- bzw. Darstellungsformen folgende Anforderungen erfüllen: a) sie beruhen auf fundierten und wissenschaftlich haltbaren Erkenntnissen der Verbraucherforschung und sind für Verbraucher nicht irreführend im Sinne des Artikels 7; b) ihre Entwicklung ist das Ergebnis der Konsultation einer Vielzahl von Gruppen betroffener Akteure; c) sie sollen Verbrauchern das Verständnis dafür erleichtern, welchen Beitrag das Lebensmittel für den Energie- und Nährstoffgehalt einer Ernährungsweise leistet oder welche Bedeutung es für sie hat; d) es gibt wissenschaftlich haltbare Nachweise dafür, dass diese Formen der Angabe oder Darstellung vom Durchschnittsverbraucher verstanden werden; e) sie basieren, im Falle anderer Formen der Angabe, entweder auf den in Anhang XIII genannten harmonisierten Referenzmengen oder, falls es solche nicht gibt, auf allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Empfehlungen in Bezug auf die Zufuhr von Energie und Nährstoffen; (. . .)” f) sie sind objektiv und nicht diskriminierend; und g) ihre Anwendung beeinträchtigt nicht den freien Warenverkehr.

9

Vgl. BMEL “Erweiterte Nährwertkennzeichnung: Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Nutri- Score®”, https://www.bmel.de/DE/Ernaehrung/Kennzeichnung/FreiwilligeKennzeichnung/_Texte/Naehrwertkennzeichnungs-Modelle-MRI-Bericht.html.

10

Siehe Anfrage P-003026-19, http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/P-9-2019-003026_DE.html.

11

Siehe Antwort von Kommissar Vytenis Andriukaitis, http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/P-9-2019-003026-ASW_DE.pdf.

 
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