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ZNER 2011, 99
Becker 

Editorial

Der GAU in Fukushima hat eine technische, eine rechtliche, eine psychologische und eine philosophische Dimension. Die Techniker hatten zahlreiche Annahmen über die Auslegung der Reaktorblöcke zu treffen: Annahmen über die Stärke von Erdstößen, denen die Bauwerksstrukturen und technischen Einrichtungen standzuhalten hatten, Annahmen über die Anordnung der Hauptkühlmittelpumpen, Annahmen über die externe Stromversorgung etc. Dass ein Erdbeben einen Tsunami hervorrufen könne, der die Stromversorgung einfach ausfallen ließ, haben sie nicht bedacht. Das Inventar der Reaktordruckbehälter, aber auch die Brennelemente in den Lagerbecken wurden nicht mehr gekühlt. Es ist offen, welche Konsequenzen die Kernschmelzen haben werden, insbesondere, ob in diesem eng besiedeltem Land großflächige Verstrahlungen zu befürchten sind. Wenn ja, wäre das furchtbar für Japan.

Auch für das japanische Atomrecht galt sicherlich die Regel, dass Vorsorge gegen Schäden durch Auslegung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zu treffen war. Die Annahmen in Wissenschaft und Technik müssen dahin gegangen sein, dass Vorsorge durch Auslegung gegen die bisher bekannten Naturereignisse und technischen Unfallszenarien gegeben war. Im Bereich des „Restrisikos“ lagen die Annahmen über sehr unwahrscheinliche Szenarien. Im deutschen Atomrecht hat sich dafür der Begriff eingebürgert, dass Auslegung gegen Szenarien „jenseits der praktischen Vernunft“ nicht mehr nötig war. Geschehensabläufe wie in Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima lagen also jenseits der „praktischen Vernunft“. Die praktische Vernunft war das bisher Bekannte, aber nicht das ganz und gar Unwahrscheinliche.

Allerdings entwickeln sich Wissenschaft und Technik fort. Dinge, die man noch vor zehn Jahren nicht wusste, sind auf einmal entdeckt und genau beschrieben. Oder es stürzen sich Terroristen bewusst und geplant mit einem gekaperten Flugzeug in … ja, auch, in ein Atomkraftwerk.

Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Phänomen mit seinem berühmten Kalkar-Beschluss (vom 8.8.1978, BVerfGE 49, 89, 143) in die Formel gefasst, dass man sich immer nur auf dem Stand des „noch nicht widerlegten Irrtums“ befinde. Damit könne sich der Schutz der Grundrechte aber nicht zufriedengeben. Vielmehr müsse sich der Fortschritt der Erkenntnis dahingehend auswirken, dass auch das bisher Undenkbare als real und die technische Auslegung nachzubessern sei. Das war die „dynamische Schadensvorsorge“.

An dieser Stelle treten nun Überraschungen auf. Die japanischen Reaktoren seien, war zu lesen, gegen Erdbeben mit einer Stärke von 8,2 auf der Richter-Skala ausgelegt. Für Fukushima sollen es aber nur 7 gewesen sein. Tatsächlich trat ein ein Beben der Stärke 9. In Deutschland waren für die Blöcke Biblis A und B bestimmte Erdbebenstärken angenommen worden. Das geplante – aber nicht gebaute – Kraftwerk Biblis C musste allerdings aufgrund zwischenzeitlichen Erkenntnisfortschritts gegen Erdbeben einer größeren Stärke ausgelegt sein. Man hätte erwarten können, dass Biblis A und B nunmehr auf diesen Stand nachgerüstet worden wären. Die Arbeitsgruppe Seismologie der Reaktorsicherheitskommission (RSK) empfahl unter dem 07.03.2002 auf Basis ihrer Untersuchungen „dringend, ähnlich zu den Untersuchungen in den USA und der Schweiz eine umfassende Erdbebengefährdungsanalyse in Deutschland durchzuführen“. Aber: Das wurde unterlassen. Auch wurden trotz der Erkenntnis, dass sich ein vollbesetztes Passagierflugzeug in einen Reaktor stürzen könne, keine Nachrüstungen gegen den terroristischen Flugzeugabsturz vorgenommen. Grund: Mit Blick darauf, dass der vereinbarte Ausstieg alsbald anstand – in einem Fall näher, im anderen Fall ferner – ließ die – ausgerechnet – grüne Atomaufsicht Nachsicht walten. Hier drifteten Verhältnismäßigkeitserwägungen ab in die Verdrängung. Es galt das St. Florians-Prinzip.

Die ZEIT hat den Wissenschaftshistoriker Joachim Radkau interviewt, dessen großartiges Buch „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“ gezeigt hatte, dass der friedlichen Nutzung der Atomenergie eine fast mystische Überhöhung zukam, weil sie die Antwort auf die kriegerische Nutzung der Atomenergie war. Die Angst vor der Atombombe sei mental von den Risiken der zivilen Kerntechnik zur Energieversorgung abgekoppelt worden. Eine nennenswerte japanische Anti-AKW-Bewegung entstand erst sehr spät. Deswegen hat Japan auch keine ökologische Revolution erlebt und sich den Erneuerbaren Energien nicht geöffnet.

Insofern profitiert Deutschland von einer Entwicklung, die auch in der CDU so stark war, dass sie die befristete Abschaltung von acht Kernreaktoren mitgetragen hat und die Energiewende gemäß Röttgens Energiekonzept wohl mittragen wird. Insofern hat Umweltminister Röttgen mit seiner mutigen Entscheidung die historische Chance genutzt, und zwar gleich in zwei Richtungen: Hin zum Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg, hin zum Aufstieg der Erneuerbaren. Und rechtlich richtig begründet war seine Rechtsgrundlage für das „Moratorium“ auch noch. Die ersten Konsequenzen hat das Bundesumweltministerium schon gezogen: Die ZNER druckt die „Ersten Überlegungen zu Konsequenzen Fukushima“ ab.

Es fällt schwer, vor diesem Hintergrund zum energierechtlichen Alltag zurückzukehren. Aber zum Alltag gehören Wolfgang Rennebergs Überlegungen zu den neuen Aufgaben der Atomaufsichtsbehörden in den Ländern nicht. Renneberg war lange Abteilungsleiter für Atomaufsicht im Bundesumweltministerium. Seine Kenntnisse zeigen, dass sich die „Tragweite“ der Aufsichtstätigkeit massiv verändern wird; das war ein Stichwort für die Bundesratspflichtigkeit einer gesetzlichen Regelung zur Bundesauftragsverwaltung im Verfassungsgerichtsbeschluss Luftsicherheitsgesetz II (ZNER 2010, 380).

Ein Kabinettstück ganz anderer Art ist Möschels Aufsatz zur Entflechtung von marktbeherrschenden Unternehmen. Möschel, Nestor des deutschen Kartellrechts und langjähriger Vorsitzender der Monopolkommission, erweist sich hier als Skeptiker, was die Schaffung einer neuen Entflechtungsregelung in der 8. GWB-Novelle angeht. Die Redaktion teilt einige seiner Annahmen nicht, so die, zur kartellrechtlichen Preishöhenkontrolle. Aber der Aufsatz, als Vortrag gehalten auf der Jahrestagung des Berliner Instituts für Energie- und Regulierungsrecht im November 2010, ist angesichts der Vielzahl historischer Reminiszenzen und Entwicklungslinien eine Fundstelle von bleibendem Wert, glänzend geschrieben und deswegen vergnüglich zu lesen.

Peter Becker

 
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