R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
Logo ruw-online
Logo ruw-online
Suchmodus: genau  
 
 
ZVglRWiss 103 (2004), 263-267
Merkt 

Wirtschaftsrechtsvergleichung im Zeitalter der Globalisierung: Tendenzen, Aufgaben, Perspektiven

Von Professor Dr. Hanno Merkt, LL.M. (Univ. of Chicago), Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.

Die Rechtsvergleichung zählt seit langem schon zu den wissenschaftlichen Methoden der Jurisprudenz. Das wird nicht zuletzt durch die großen, der Rechtsvergleichung gewidmeten Zeitschriften, darunter die Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, augenfällig dokumentiert. Ebenso eingeführt wie die Rechtsvergleichung selbst ist die Beschreibung ihrer Hauptaufgaben. Es geht, so liest man verbreitet, primär um Erkenntnisgewinn durch Ausschöpfen der ausländischen Regelungserfahrung: Die Rechtsvergleichung als „école de vérité“ erweitert und bereichert den „Vorrat an Lösungen“. Kritik an der eigenen Rechtsordnung gewinnt, so die Hypothese, durch das Aufzeigen „besserer“ Lösungen aus anderen Ländern an Gewicht und Überzeugungskraft. Hinzu treten weitere Funktionen wie etwa der Abbau von Vorurteilen über auswärtiges Recht, die Verbesserung des internationalen Sichverstehens oder die Rechtsreform in den Entwicklungsländern und nicht zuletzt die sachgerechte Auslegung unseres nationalen Rechts. Das alles trifft für den Rechtsvergleich auf den Gebieten des Bürgerlichen Rechts nach wie vor ohne Einschränkung zu. Mag es auch sein, dass die zunehmende Mobilität und das europa- wie weltweit immer stärkere Zusammenrücken der Völker und ihrer Rechtsordnungen die Rechtsvergleichung im Bürgerlichen Recht, besonders im Vertrags-, Delikts- oder im Familienrecht noch unabdingbarer erscheinen lassen als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Im Prinzip aber ist „Motor“ der Rechtsvergleichung im Bürgerlichen Recht unverändert eine endogene, also aus dem Recht und der Rechtsordnung selbst rührende Kraft. Es sind und bleiben hier Rechtswissenschaft und auch Rechtspraxis, die die Entwicklung steuern. Problematisch ist und bleibt insoweit aber zugleich, an welchen Kriterien sich diese „rechtsvergleichende Suche nach Lösungen“ zu orientieren hat: Sollen nur verwandte oder auch andersartige Rechtsordnungen berücksichtigt werden, anders gefragt: ist Systemkohärenz ein Wert an sich oder lässt sich der Nachteil des Systembruchs kalkulieren (und gegebenenfalls abwägen)? Welchen Stellenwert soll die Effektivität einer Regelung haben, und wie will man überhaupt diese Effektivität bestimmen? Kommt es auf die Wirkung ZVglRWiss 103 (2004) S. 263 (264)zugunsten des Einzelnen an oder entscheidet die gesamtgesellschaftliche (volkswirtschaftliche?) Wirkung? Im Grunde ist es erstaunlich, dass diese zentralen Fragen der Rechtsvergleichung als Anwendungswissenschaft bis heute weitgehend ungeklärt, ja ungestellt geblieben sind. In summa: Kontinuität in Aufgabe und Desiderat.

Im Bereich der Wirtschaftsrechtsvergleichung hingegen, also namentlich im Handels- und Gesellschaftsrecht, im Bilanz- und Wirtschaftsprüfungsrecht, im Recht der verbundenen Unternehmen, im Recht der Unternehmensverträge (Mergers & Acquisitions) und im Kapitalmarktrecht, scheint sich die Situation dramatisch zu ändern, um nicht zu sagen: aus der Kontrolle zu geraten. Auf breiter Front erleben wir auf diesen Gebieten eine wirkliche Erosion des deutschen Rechts und eine Einwirkung europäischen, angelsächsischen bzw. anglo-amerikanischen und internationalen Rechts, die ihresgleichen in der Vergangenheit sucht, dies alles als Folge der Verfestigung des Binnenmarktes und der Globalisierung der Märkte, vor allem der Kapitalmärkte.

Im Einzelnen: Im Bereich der Unternehmensverträge dominiert bekanntlich schon seit langem das anglo-amerikanische Recht. Es scheint dies ein Beleg für die These von der Pfadabhängigkeit zu sein, denn bei objektivem Vergleich mag nicht einleuchten, dass bzw. warum das Modell des US-amerikanischen Rechts mit seinen schier endlosen Vertragstexten, die aus einer Kultur kryptischen positiven Rechts geboren wurden und mithin das fehlende Gesetzesrecht für jeden individuellen Vertrag enzyklopädisch wiederholen, dem kontinentalen Recht mit ausdifferenzierter gesetzlicher Regelung und vergleichsweise kurzen Verträgen überlegen sein soll. Auch in der deutschen Praxis jedenfalls scheint man sich mit der Dominanz der US-Vertragskultur abgefunden zu haben.

Im Recht der GmbH hat der EuGH durch seine Rechtsprechung in Centros, Überseering und Inspire Art für erheblichen Reformdruck gesorgt. Hinzu kommen die Vorschläge der SLIM-Initiative und der High Level Group, die von der EU-Kommisson in ihrem Aktionsplan bereitwillig aufgegriffen wurden. Für das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht folgt daraus, dass man sich dem Wettbewerb stellen muss: Entweder passt man sich den bevorzugten Gründungsrechten an, etwa durch Deregulierung, Verzicht auf Mindestkapitalerfordernisse und Abbau der Anforderungen an Kapitalaufbringung und -erhaltung ganz im Sinne des und in Richtung auf das US-Recht, das ja von der EU-Kommission bereits explizit als Vorbild in den Blick des europäischen Gesellschaftsrechts gerückt wird, oder es muss gelingen, die Vorteilhaftigkeit des deutschen Rechts plausibel zu machen, was indessen recht schwierig bis illusorisch erscheint angesichts des allenthalben um sich greifenden, vielfach durchaus resignativen Gefühls, dass das angloamerikanische Modell einfach die besseren Chancen habe oder aber jedenfalls in seinem Erfolg praktisch nicht mehr zu bremsen sei. Auch hier scheint indessen die Entscheidung ohne wissenschaftliche Fundierung gefallen zu sein.

ZVglRWiss 103 (2004) S. 263 (265)

Aber auch der Gläubigerschutz in der abhängigen GmbH wird konzeptionell zunehmend von den nationalen konzernrechtlichen Fesseln befreit und zu einer allgemeinen Haftung des Alleingesellschafters für existenzvernichtende Eingriffe fortentwickelt (Bremer Vulkan, KBV), womit das deutsche Recht, geleitet von der höchstrichterlichen Rechtsprechung von einem Sonderweg jedenfalls in einem wichtigen Bereich auf den international dominierenden Ansatz der Durchgriffshaftung geführt wird.

Auffällig ist der Reformdruck aus dem anglo-amerikanischen Recht ganz besonders im Bereich der Geschäftsführungs- und Kontrollfunktionen sowie im Bereich der Abschlussprüfung. Wurde auch hier eine wesentliche Entwicklung, nämlich hin zu einer Systematisierung und Konkretisierung der Sorgfaltspflichten von Leitungs- und Kontrollorganen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung angestoßen, so geht das deutsche Recht nun mit der gesetzlichen Normierung der Business Judgement Rule im Gesetz zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) einen entscheidenden Schritt weiter als das anglo-amerikanische Gesellschaftsrecht, das diese Regel – vielleicht aus guten Gründen – nur als Maßstab des gesprochenen, nicht des gesetzten Rechts kennt.

Auch im Bereich der Abschlussprüfung sind es Anstöße bzw. Impulse von außen, die zu gesetzgeberischen Reaktionen geführt haben. Dabei mag zunächst überraschen, dass mehr oder weniger zeitgleich spektakuläre Bilanzskandale sowohl in den USA als auch in Kontinentaleuropa und speziell bei uns gezeigt haben, in welchem Ausmaß ganz unterschiedliche Systeme im Ergebnis doch vergleichbar versagt haben. Einer ausgesprochen – angesichts des dramatischen Vertrauensverlusts der Märkte allerdings verständlicherweise – hektischen Reaktion des US-Bundesgesetzgebers in Gestalt des Sarbanes-Oxley-Acts folgt nunmehr in gewisser zeitlicher Verzögerung der deutsche Gesetzgeber mit dem Bilanzkontrollgesetz, welches durch Einrichtung einer privaten Prüfstelle Elemente des amerikanischen Modells der Securities Exchange Commission und des englischen Modells des Financial Reporting Review Panel kombiniert.

Das weist zum Bilanzrecht, in dem uns mit der europaweiten Einführung der internationalen Bilanzierungsstandards (International Financial Reporting Standards) für die Konzernbilanzen kapitalmarktorientierter Gesellschaften die wohl massivste Internationalisierung und Anglo-Amerikanisierung unseres Wirtschaftsrechts seit Menschengedenken beschert wird. Noch ist nicht einmal in Umrissen zu erahnen, welche Folgen dies für unser gesamtes Unternehmensrecht haben wird, inwieweit etwa Ausstrahlungen auf das Recht des befreienden Einzelabschlusses zu erwarten sind und welche weiteren Konsequenzen daraus für das gesamte System der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, für die Gläubigersicherung, für die Rolle der vertraglichen Kreditsicherung, für das Insolvenzrecht mit der Insolvenzverschleppungshaftung und für das eingespielte Miteinander von Handels- und Steuerbilanz zu ziehen sein werden.

ZVglRWiss 103 (2004) S. 263 (266)

Nicht unerwähnt bleiben darf hier sodann die unternehmerische Mitbestimmung, die im Zuge der Standort-Debatte in wachsende Rechtfertigungsnot gerät. Der Hinweis darauf, dass es auch in anderen Staaten Formen von Mitbestimmung auf Unternehmensebene gibt, scheint hier wenig zu nützen, solange es nicht gelingt, das Maß der Mitbestimmung nach deutschem Recht international überzeugend als vorteilhaft zu präsentieren.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der deutsche Sonderweg eines multifunktionalen Unternehmensrechts zum Schutz der Interessen nicht nur der (Mehrheits- und Minderheits-)Gesellschafter, sondern auch der Gläubiger, der Anleger und der Arbeitnehmer, ein Weg ist, der das Unternehmensrecht bis an die Grenze seiner Belastbarkeit strapaziert. Aus dieser Überstrapazierung resultiert jener massive Wettbewerbsnachteil, den der Gesetzgeber im Wege nacheilender Reform – oftmals nur scheinbar, weil mit neuen Restriktionen verbunden – abbauen will.

Nicht unerwähnt bleiben sollen schließlich der Kapitalmarkt und die Börsen. Auch hier hat in den letzten Jahren der Druck zur Anglisierung stetig zugenommen, und es ist im Zuge der kontinentaleuropaweiten Tendenz zur Abkehr von der öffentlich-rechtlich verfassten Börse auch bei uns eine Diskussion über die Privatisierung der Börsen in Gang gekommen, die nicht so sehr von der – in namhaften Teilen – relativ konservativen deutschen Wissenschaft, sondern von den internationalen Investoren und ganz allgemein vom Ausland mit wachsendem Interesse verfolgt wird.

Was folgt aus alledem für die Wirtschaftsrechtsvergleichung? Gemeinsam ist allen diesen Entwicklungen, dass sie nicht mehr endogen, sondern exogen gesteuert werden. Es sind nicht Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, sondern die an der Wirtschaft Beteiligten, Anbieter und Nachfrager, die als treibende Kräfte auftreten: die Vertragspraxis, die aus nicht gänzlich uneigennützigen Motiven bereitwillig auf jene Praxis einschwenkt, die international eingefahren erscheint, die Unternehmensgründer, die sich ein liberales Gründungsrecht suchen, die institutionellen Anleger, die klare Vorstellungen über gute Corporate Governance an den Markt „kommunizieren“, der Kapitalmarkt, der mangelhafte Regelungen mit Kursabschlägen quittiert, die Unternehmen, die Transaktionen nach den Regeln vornehmen und abwickeln, die ihnen adäquat erscheinen, die Kreditinstitute, die sich jene institutionellen und individualvertraglichen Gestaltungen zunutze machen, die die erforderliche Sicherung am besten gewährleisten. Am Ende: von der Wissen- zur Wirtschaft?

Steht die vom Erkenntnismotiv getriebene wissenschaftliche Rechtsvergleichung vor dem Aus? Geht es nur noch darum, umzusetzen, was die Praxis vorgibt? Liefert Wirtschaftsrechtvergleichung nur noch Daten dort nach, wo sich die Praxis für ein bestimmtes ausländisches Regelungsmodell entschieden hat und die nötige Detailkenntnis in der Umsetzung fehlt? Soll sich Wirtschaftsrechtspolitik tatsächlich darin erschöpfen, den Märkten und ihren Akteuren hinterherzulaufen? Rhetorische Fragen, auf die Antworten nicht lange gesucht werden müssen. In der Tat gebührt der wissenschaftlichen Wirtschafts¬ZVglRWiss 103 (2004) S. 263 (267)rechtsvergleichung keine passive oder duldende, sondern eine ganz aktive Rolle im Prozess der Rechtsbildung und -fortbildung. So wichtig und aufschlussreich die Wirtschaftspraxis für die Modernisierung des Wirtschaftsrechts auch sein mag, es wäre ein fataler Fehler, ausschließlich in ihr Orientierung zu suchen. Das zeigt die Rechtsvergleichung selbst: Auch in jenen Rechtsordnungen, die uns gegenwärtig als wirtschaftsrechtliche Leitordnungen erscheinen mögen, haben endogene Einflüsse nicht ungefiltert den Rechtsbildungsprozess majorisiert, mag auch die Ausrichtung an den Bedürfnissen etwa der Unternehmensgründer im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht stärker und nachhaltiger sein als bei uns. Aber Kartell- oder Kapitalmarktrecht beziehen dort ebenso starke Gegenpositionen, ohne die die Rechts- und Wirtschaftsentwicklung gewiss keineswegs so erfolgreich verlaufen wäre wie sie es ist. Hier nun tut sich eine zentrale, ja elementare Aufgabe auf, vor die sich die Wirtschaftsrechtsvergleichung in den nächsten Jahren gestellt sieht. Es wird darum gehen, mehr als bloße Einzel- oder Datenvergleichung zu bieten. Notwendig ist der Systemvergleich, der einzelne Rechtsfiguren, -institute und Gesetze in den systematischen Funktionszusammenhang mit ergänzenden oder komplementären Elementen stellt und darüber hinaus auch und gerade in diesem Zusammenhang vergleicht. Mit der Feststellung, dass diese oder jene Regelung unseres Rechts als ineffizient oder überzogen angesehen werden muss und daher nach dem Vorbild dieser oder jener ausländischen Rechtsordnung abgeschafft bzw. durch andere Regelungen ersetzt werden sollte, ist vielfach wenig oder nichts gewonnen. Denn dies ist jene Form von „Erkenntnis“, die sich einer Wirtschaftspraxis alltäglich entnehmen lässt, die etwa diese Vertragspraxis oder jenes Gründungsrecht präferiert. In dem Maße, in dem die Globalisierung dafür sorgt, dass Rechtsimporte zunehmen, wächst der Wirtschaftsrechtsvergleichung also die neue Aufgabe zu, auf einer höheren Ebene den System- und Funktionszusammenhang als Forschungsgegenstand zu begreifen. Diese Aufgabe mag besonders komplex sein, aber darin liegt zugleich ihr besonderer Reiz und eine große wissenschaftliche Herausforderung.

 
stats