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BB 2017, I
Pfeiffer 

Der Brexit und die Chancen der deutschen Justiz

Abbildung 1

So nachteilig der Brexit für das Vereinigte Königreich und für die EU auch sein mag: Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass als Kehrseite dieser Nachteile auch neue Chancen entstehen. Manche Aktivität oder Institution, die bisher im Vereinigten Königreich, insbesondere in London angesiedelt war, wird sich einen neuen Standort suchen.

Das betrifft auch die Justiz. Die Anziehungskraft von London als großer internationaler Justizstandort für wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten beruht auch auf der Zugehörigkeit Londons zum europäischen Vollstreckungsraum auf der Grundlage der Brüssel Ia-VO. Diese wird für das Vereinigte Königreich künftig nicht mehr gelten; und ein denkbarer Beitritt zum Lugano-Übereinkommen steht in den Sternen. Deshalb hat sich 2016 ein Kreis aus einigen führenden Prozessanwälten, dem Präsidenten des OLG Frankfurt sowie zwei Professoren unter der Bezeichnung “Justizinitiative Frankfurt” gebildet, dem auch der Verfasser dieses Editorials angehört. Die hessische Justizministerin hat diese Initiative aufgegriffen, was nunmehr zur Einrichtung einer Kammer für internationale Handelssachen (KfiH) am LG Frankfurt geführt hat.

Ausländische Standorte schlafen freilich nicht. Auch in anderen EU-Mitgliedstaaten entstehen an herausgehobenen Standorten wie Paris und Amsterdam gerichtliche Institutionen, die bisher in London angesiedelte Verfahren anziehen sollen. Frankfurt ist aufgrund seiner Verkehrsanbindung, seiner Rolle als Dienstleitungs- und Finanzzentrum und der in Frankfurt angesiedelten kritischen Masse international profilierter Anwälte und Kanzleien sicherlich der geeignetste Standort für eine deutsche Konkurrenzinstitution.

Freilich ist die Einrichtung einer KfiH nur ein erster Schritt, um mehr wirtschaftlich bedeutsame internationale Verfahren nach Frankfurt zu locken. Die Erfahrungen mit dem bisherigen Modell der KfiH lassen noch keine durchschlagende Erfolgsgeschichte erkennen. Die Zahl der dort mündlich in Englisch verhandelten Verfahren ist gering, eine Attraktionswirkung auf große internationale Verfahren kaum feststellbar. Wenn sich das ändern soll, sind zwei Gruppen von Maßnahmen zu unterscheiden. Einmal geht es um gerichtsverfassungsrechtliche und prozessrechtliche Maßnahmen, um der Bezeichnung der betreffenden Spruchkörper als “international” mehr als bisher gerecht zu werden. Zum anderen geht es um Markenbildung. Die notwendigen weiteren Schritte lassen sich hier nur andeuten:

Zunächst muss die vorsichtig begonnene Öffnung für Englisch als Verfahrenssprache erweitert werden. Das bedeutet, dass über das bisher Zulässige hinaus ermöglicht werden muss, Verfahren insgesamt mündlich und schriftlich auf Englisch zu führen. Das schließt u. a. die Öffnung der Rechtsmittelinstanzen für die englische Rechtssprache und die Möglichkeit, auch Urteile auf Englisch abzufassen, ein. Richter mit der erforderlichen Sprachkompetenz gibt es hinreichend; sonstige organisatorische Voraussetzungen für einen solchen Schritt lassen sich schaffen. Mit dieser weiteren Öffnung für die englische Rechtssprache sollte indes kein starres Schwarz-Weiß-Modell verbunden werden. Eine Lehre aus der Schiedsgerichtsbarkeit geht dahin, dass internationale Verfahren vielfach ein Mehr an Verfahrensflexibilität erfordern. Daher ist es ratsam, dem Gericht ein gewisses Ermessen bei der Frage einzuräumen, in welchem Umfang Englisch als Verfahrenssprache zugelassen wird. Vereinbarungen der Parteien zur der Verfahrenssprache muss aber aus Gründen der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit besonderes Gewicht zukommen.

Aus dem Desiderat der Verfahrensflexibilität ergeben sich weitere Folgerungen. Zumindest im Rahmen einer Experimentierklausel sollte den KfiH gestattet werden, im Rahmen eines Verfahrensermessens von den Regeln der Zivilprozessordnung abzuweichen, damit Verfahren dem international geprägten Erwartungshorizont der Parteien gerecht werden, indem etwa auch eine Partei als Zeuge vernommen werden kann. Unverzichtbar dürfte auch die Einführung eines Wortprotokolls und die Öffnung der Zeugen- und Sachverständigenbefragung für Videoübertragungen sein.

Zur Schaffung eines sichtbaren und attraktiven Markenkerns empfiehlt sich etwa, die zuständigen Spruchkörper am LG und OLG Frankfurt unter Aufrechterhaltung ihrer jeweiligen gerichtsverfassungsrechtlichen Einbindung als “Frankfurt Commercial Court” (mit dem oder den zuständigen OLG-Senaten als “Appellate Division”) auszuflaggen. Das kann auch die Schaffung der möglicherweise erforderlichen besonderen Infrastruktur einschließen. Ein erfolgreiches Marketing muss aber über die Bildung einer international kompatiblen Marke hinausgehen. Es muss aktiv im Internet und Druckwerken geworben werden. Die sachlichen Vorzüge der deutschen Justiz liegen im internationalen Vergleich auf der Hand: Effektive und – vor allem im Vergleich zu England – kostengünstige Erledigung von Rechtsstreitigkeiten, ein hochentwickeltes Rechtssystem mit einer verlässlichen und vorhersehbaren Entscheidungskultur sowie eine zentrale Lage mit exzellenter Infrastruktur.

All dies wird nur im Rahmen einer gemeinsamen Anstrengung von Justiz, Anwaltschaft und anderen Beteiligten gelingen. Ziel dieser Anstrengung muss es sein, ausländische Parteien mehr als bisher dazu zu bewegen, ihre Streitigkeiten der deutschen Justiz anzuvertrauen. Die Chancen dafür stehen gerade jetzt gut.

Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Pfeiffer ist geschäftsführender Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht sowie Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Verfahrensrecht an der Universität Heidelberg.

 
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