Europäisches Vertragsrecht ante portas
Fast ein wenig zu bescheiden hat eine von der EU-Kommission benannte Gruppe von Experten soeben den Entwurf eines Europäischen Vertragsrechts, als "feasibility study" bezeichnet, vorgelegt. Damit hat der bislang weithin - allerdings vor allem in akademischen Kreisen - diskutierte "Draft Common Frame of Reference" eine erste Bewährungsprobe bestanden, weil zahlreiche Vorschriften dieser Studie auf eben diesen Vorgaben beruhen. Das ist kein Ideenklau, sondern genau das war die Aufgabe der Expertengruppe. Sie ist wohl gelungen.
An die Spitze der Erwägungen stellt die Studie, dass vor allem kleine und auch mittlere Unternehmen die vorhandenen Vorteile des europäischen Binnenmarktes bislang gar nicht recht für sich einheimsen können. Denn die Transaktionskosten werden auf sagenhafte 230 000 Euro geschätzt, wenn die Absicht besteht, in allen Ländern der EU (rechtlich einwandfrei und sauber) präsent zu sein. Mehr noch: Wenn sich ein Unternehmen daran macht, seine Waren oder Dienstleistungen rechtssicher in ein Land zu exportieren, dann veranschlagt die Studie immerhin einen Gesamtbetrag von 10 000 Euro. Genau um die Minimierung dieser Kostenlast zugunsten der Verbraucher und der Unternehmer geht es. Sie sollen ganz wegfallen: Ein einheitliches 28. Regime als Europäisches Vertragsrecht ebnet diesen Weg. Einen anderen - das ist die eindeutige Konsequenz - gibt es nicht und wird es nicht geben.
Unter dieser Perspektive ist es kein Mangel, dass die Studie sich zunächst darauf beschränkt, den weiten Bereich des Kaufrechts, aber auch den Allgemeinen Teil eines Vertragsrechts zu behandeln. Dass dieses Unterfangen immerhin 189 Artikel umfasst, schadet nicht; das BGB ist auch nicht viel dünner. Ob die Studie gleichwohl schon jetzt den hohen Anspruch erfüllt, anwenderfreundlich zu sein, ist eine der noch durch praktische Verprobungen zu klärenden Fragen, auf die die Kommission ausdrücklich verweist. Doch eine erste Beschäftigung mit dem Inhalt dieses Gesetzeswerks lässt nicht erkennen, dass hier viele Hürden stehen. Dass natürlich ein Verbraucher nicht ohne Weiteres in der Lage sein wird, die neuen Vorschriften selbstständig - ohne Rechtsrat - nachzuvollziehen, ist ohnedies nicht das, was man anwenderfreundlich nennen sollte. Denn auch die Lektüre der FAZ erschließt sich nicht immer demjenigen auf den ersten Blick, der seine "Bildung" aus dem Boulevard nimmt.
Für deutsche Gemüter wird man natürlich den Abschied von einigen lieb gewordenen Vorstellungen hinnehmen müssen, etwa vom Abstraktionsprinzip. Aber auch die Verschuldenshaftung entfällt zugunsten einer vom Verschulden losgelösten Haftung auf Schadensersatz. Das wird wohl manche Unruhe stiften. Aber ein Beispiel belegt, dass hinter dieser alternativen Haftungsfigur eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung steht. Gesetzt ein Händler verkauft einen defekten Toaster; er kann den Defekt nicht erkennen; er verletzt keine Pflicht. Doch der Mangel des Toasters führt dazu, dass die Küche des Käufers abbrennt. Die Versicherung nimmt Regress. Der Händler seinerseits aber kann gegenüber dem Hersteller des Toasters regressieren, wenn dies nicht die Versicherung schon tut. Wenn aber der Hersteller pleite ist, dann verbleibt der Schaden beim Händler. Das fehlende Verschulden, die fehlende Pflichtverletzung ist kein Entschuldigungsgrund.
Würde man aber auf Basis einer verschuldensabhängigen Haftung diesen Fall lösen, dann verbleibt der Schaden beim Verbraucher, wenn der Hersteller auch in dieser Variante pleite ist. Ist das gerechter? Die zu entscheidende - rechtspolitische - Frage betrifft also das Maß des Verbraucherschutzes. Und es erscheint angemessen, diese Lösung zugunsten des Verbrauchers und damit im Rahmen einer verschuldensunabhängigen Haftung - wie im Übrigen auch im UN-Kaufrecht und in zahlreichen anderen modernen Rechtsordnungen - zu lösen.
Von besonderem Gewicht für die rechtliche Anerkennung des Europäischen Vertragsrechts ist sicherlich die berechtigte Forderung, dass ein angemessen hohes Niveau des Verbraucherschutzes erzielt werden muss. Denn es gilt immer die Sperrwirkung von Art. 6 Rom-I zu überwinden. Danach ist ja das jeweilige nationale Verbraucherschutzniveau der Mindestschutz, der dem Verbraucher - auch und gerade bei einem grenzüberschreitenden Vertrag - nicht entzogen werden kann.
Entscheidend ist, dass jetzt die Studie den Vorschlag unterbreitet, dass die unternehmerische Freiheit selbst dann zugunsten des Verbraucherschutzes und der dort vorgesehenen Mindeststandards von Fairness eingeschränkt werden soll, wenn der ausgehandelte Individualvertrag diesen Test nicht besteht. Mit anderen Worten: Es ist eine richterliche Inhaltskontrolle, die sowohl AGB als auch jede frei ausgehandelte Vertragsbestimmung erfasst. Das birgt politischen Streitstoff. Doch geht es bei dem großen Projekt eines Europäischen Vertragsrechts um die Markierung einer immer wieder neu zu vermessenden Grenze zwischen Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz. Dass aber ein gesetzlicher Schutz nicht auf den Verbraucher beschränkt werden darf, sondern auch den Unternehmer - in welchen Grenzen immer - erfassen muss, ist einer der rechtspolitischen Großaufgaben, die in Europa zu bewältigen sein werden.