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BB 2023, I
Dziadkowski 

Neuausrichtung der Einkommensteuer notwendig

Abbildung 1

Für die Bestimmung des Grundfreibetrags nach § 32a Abs. 1 EStG und die Tarifstruktur ist die Beachtung der Armutsgefährdungsgrenze alternativlos!

Die Inflation verharrt auf hohem Niveau (z. B. sind Nahrungsmittel 21 % teurer). Die Lohn-Preis-Spirale wurde gestartet. Die Steuerbelastung steigt bei der Einkommensteuer sogar merklich progressiv. Eine stille, aber nicht lautlose Enteignung droht – auch auf dem Gebiet der Einkommensteuer. Durch das Einfrieren von Freibeträgen wird ebenfalls die Bemessungsgrundlage “künstlich” auf Nominalbasis erhöht. Abgerundet werden Mehrbelastungen noch dann, wenn auch Steuersätze angehoben werden, wie es kürzlich vorgeschlagen wurde.

Insbesondere bei zementierten Freibeträgen ist für jedermann unschwer erkennbar, wie die gesetzlichen Freibeträge den realen Werten gegenüber immer mehr nachhinken und so zu heimlichen Steuerhöhungen führen. Auch der Arbeitnehmerpauschbetrag wird der ursprünglichen Intention nicht mehr gerecht. Die Anhebung um 200 Euro nach vielen Jahren hat fast beleidigenden Charakter. Diese häufigen Schwächen will man nun heilen, indem man u. a. Hilfsgelder steuerfrei oder Arbeitgeber-Boni bis zu 3 000 Euro sogar steuer- und abgabenfrei stellt. Allerdings werden diese Wohltaten kasuistisch auserwählt und folgen keinem Konzept (Schnellenbach, ifo Schnelldienst 11/2022, 10). Auf jeden Fall wird die Bemessungsgrundlage Einkommen wirtschaftlich perforieren. Gesamthaft führt diese Technik zu einer Einkommensteuerbasis, die durch ein Plus und ein Minus gekennzeichnet ist. Das Ergebnis ist kaum noch als Besteuerungsgrundlage zu erkennen und zu rechtfertigen.

Nun soll durch einen “fairen Steuertarif” die Anhäufung von Missgeschicken ummantelt und die Steuerbelastung künftig maßvoller gestaltet werden. Unter Bezugnahme auf die Hauptkrise wurde ein Inflationsausgleichsgesetz geschaffen. Insbesondere soll die kalte Progression verringert werden. Die Vorschläge sind jedoch nicht in der Lage, die inzwischen realisierten Inflationssätze auszugleichen. Die Realeinkommensverluste dieser Energiekrise stellen alle früheren Krisen in den Schatten. Vor allem die Realeinkommensverluste an das Ausland, die aus den Preisschüben für Import-Energie entstehen, führen zu massiven Kaufkraftverlusten (Nierhaus/Wollmershäuser, ifo Schnelldienst 11/2022, 47). Wie ist Abhilfe zu finden?

Deutschland befindet sich seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem gerechten und verständlichen Einkommensteuertarif. Gestartet wurde die Suche Ende 1968 mit der Einsetzung der Steuerreformkommission, die am 31.3.1971 ihr umfassendes Gutachten vorlegte (Schriftenreihe des BdF, Heft 17, 1971). Bekanntlich konnte die geplante Große Steuerreform nicht realisiert werden.

Eine Einkommensteuerreform konnte bis heute nicht verwirklicht werden. Insbesondere ist aber zu berücksichtigen, dass natürlichen Personen Grundrechte zuzubilligen sind. Ein Grundrecht bildet der Anspruch auf Existenzsicherung (Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG).

Seit Jahrzehnten hat der Betriebs-Berater Bemühungen um eine Verbesserung der Einkommensbesteuerung begleitet. So wurden u. a. Vorarbeiten zur Freistellung des Existenzminimums innerhalb des EStG unterstützt. Durch Erhebungen war festgestellt worden, dass die Ausgaben zur Grundsicherung nicht in ausreichender Höhe durch den Grundfreibetrag berücksichtigt worden waren (Dziadkowski, BB Beil. 9 zu Heft 15/1985). Diese realitätsferne unzureichende Freistellung des notwendigen Grundbedarfs wurde vom BVerfG bekanntlich als verfassungswidrig qualifiziert und vom Gesetzgeber ab 1996 angepasst (Arndt, BB 1993, 977, Stöwhase/Teuber, BB 2022, 93, jüngst Wernsmann, StuW 2022, 280, 290).

Da der Grundfreibetrag mittelbar auf die Höhe der Einkommensteuer einwirkt, ist er für den Fiskus kein beliebter Faktor. Dies ist selbst dann der Fall, wenn der Grundfreibetrag von einer aggressiven Inflation, die lange Zeit staatlich unterschätzt worden war, immer schneller entwertet wurde. Die Tarifstruktur der Einkommensteuer kennt bekanntlich keine direkt zuordenbare Steuersätze. In der politischen Diskussion hat sich daher das Festmachen an dem “Mindeststeuersatz” oder an dem “Höchststeuersatz” herausgebildet. Insbesondere in Wahlkämpfen versuchen die verschiedenen Gruppen z. B. den Höchststeuersatz als Kampfmittel einzusetzen. Ohne Bemühen von Sachargumenten kann je nach Position eine Zahl in die Diskussion eingebracht werden, die hoch oder niedrig wirkt.

Jüngst hat es nun der Spitzensteuersatz wieder auf die Titelseiten auch der Fachpresse geschafft. Verdanken kann er diesen Ruhm den sogenannten fünf Wirtschaftsweisen, die als Sachverständigenrat in ihrem Herbstgutachten den “Spitzensteuersatz für Gutverdiener” empfehlen. In “ihrem Gutachten voller Zündstoff” (SZ vom 8.11.2022, 13) unterbreiten die Sachverständigen u. a. die Anhebung des Spitzensteuersatzes. Dieser epochale Vorschlag hat aber auch etwas Gutes, wird doch der Blick der Öffentlichkeit auf die Struktur des Einkommensteuertarifs gelenkt. Hierzu eine kleine Anleitung:

Der Einkommensteuertarif wird als “linear-progressiv” bezeichnet und ist nicht mit Hilfe der vier Grundrechenarten nach Adam Riese zu erfassen. Er ist ein sog. Formeltarif. Er besteht aus mehreren Formelteilen und belastet den Steuerzahler derzeit ab einem Einkommen von 61 971 Euro mit dem Spitzensteuersatz evident realitätsfern (Dziadkowski, BB 2022, 1882), da der Kaufkraftverlust und die dynamische Inflation durch Anpassungen nicht annähernd bei der Tarifgestaltung berücksichtigt wurden.

Vor allem die realitätsferne Schichtung der Einkommenszonen in § 32a Abs. 1 EStG lässt eine Überbesteuerung aller 48 Mio. Steuerzahler entstehen.

Es wird bereits seit geraumer Zeit nicht berücksichtigt, wie sich die existenznotwendigen Ausgaben erhöht haben. Der realitäts- und zeitnah brauchbarste Wert ist der laufend festgestellte Betrag der Armutsgefährdungsgrenze (z. Zt. in München 18 480 Euro). Wird die reale Entwicklung nicht beachtet, stehen wir am Anfang vom Ende der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Im Rahmen einer Neuausrichtung müsste der Freistellung der Lebenssicherung mehr Beachtung gezollt werden (zur Menschenwürdegarantie Anzinger, StuW 2022, 300, 303), zumal der Bundesregierung die Lebensbedingungen der Bevölkerung am Herzen liegen, was allein schon in den Entlastungspaketen zum Ausdruck kommt. Allerdings muss ein schlüssiges Konzept entwickelt werden, das die Systematik der Einkommensteuer beachtet.

Prof. Dr. Dieter Dziadkowski war Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung sowie u. a. Vorsitzender der Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e. V., Regensburg/München, und Mitglied der Ursprungslandkommission und der Einkommensteuer-(Bareis-)Kommission.

 
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